Privilegien für Geimpfte?

Die Diskussion darüber, ob Personen, die Impfungen gegen COVID-19 erhalten haben, dafür besondere Privilegien gegenüber den Nicht-Geimpften erhalten sollen, wird derzeit von Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Jurist*innen und dem Deutschen Ethikrat geführt. Vorgeschlagen wurde bereits, dass Menschen mit entsprechendem Eintrag in ihrem Impfausweis die Erlaubnis zum Reisen, zum Restaurant-, Konzert-, Theater- oder Museumsbesuch erhalten und von Maskenpflicht und Abstandsgeboten befreit werden sollen. Ihnen sollen derartige Freiheiten gewährt werden, während sie dem ungeimpften Teil der Bevölkerung verwehrt bleiben. Juristischer Hintergrund ist, dass die massiven Eingriffe in unsere Grundrechte durch die Corona-Maßnahmen in Deutschland einen guten Grund haben müssen.

Befürworter*innen der Privilegien für Geimpfte glauben, dass dieser gute Grund nicht mehr vorliegt, sobald eine Person geimpft ist. Leider haben sie nicht verstanden, dass bisher nicht bekannt ist, ob Geimpfte das Virus weitertragen. Das heißt, man weiß nicht, ob eine Impfung effektiv dazu beiträgt, andere zu schützen oder ob sie vor allem dem Selbstschutz dient. Vor diesem Hintergrund ist diese Diskussion zum gegenwärtigen Zeitpunkt in jedem Fall verfrüht und sogar sachlich falsch. Der Vorschlag einer Impfpflicht für Pflegekräfte ist ebenfalls nicht nur rechtlich fragwürdig, sondern sinnlos, solange nicht bekannt ist, ob so eine Ansteckung von Patient*innen überhaupt verhindert werden kann.

Aber auch angenommen, die Impfung steht allen zur Verfügung, schützt vor Übertragung und kann die Pandemie wirklich stoppen, ist eine Diskussion um Belohnung für „gesundes“ und „vernünftiges“ Verhalten problematisch. In einer Pandemie sollten sich selbstverständlich alle solidarisch verhalten und dazu beitragen, sie zu beenden und ältere und chronisch kranke Menschen zu schützen. Diesen Personenkreis zuerst vor allen anderen zu impfen, ist ein Ausdruck solcher Solidarität. Aber ist es wirklich richtig, nicht geimpften Personen Grundrechte vorzuenthalten und sie so zu einer Impfung zu zwingen? Mit einer guten und umfassenden Aufklärung über die Vor- und Nachteile einer Impfung könnte die Bereitschaft zur freiwilligen Impfung sicher gefördert werden. Es müssen ja auch gar nicht alle geimpft werden. Eine Herdenimmunität könnte theoretisch bei einer wirklich nachhaltigen und umfassenden Immunität durch Impfstoffe bereits bei einer Durchimpfungsrate von 70 % der Bevölkerung erreicht werden.

Aufklärung und Information sind auch das Vorgehen bei ungesunden Verhaltensweisen, die unser Gesundheitssystem viel Geld kosten. Diese Kosten werden in einem Solidarsystem von allen getragen. Raucher*innen, Übergewichtige und Personen, die nie Sport treiben oder die Risikosportarten ausüben, werden in unserem Land nicht sanktioniert. Die Diskussion, ob es eine Schuld für Krankheit gibt, ist ethisch fragwürdig, besonders da bekannt ist, dass beispielsweise Übergewicht, Rauchen und Bewegungsmangel in sozial schwachen Familien deutlich häufiger vorkommen und dass gesundes Verhalten ein Privileg Besserverdienender ist. Auch für die Übertragung anderer infektiöser Erkrankungen gibt es hierzulande keine Sanktionen. Sollte jemand mit schlechter Händehygiene eine schwere Gastroenteritis in eine Altenpflegeeinrichtung eintragen, ist keine Strafe vorgesehen, auch wenn die Infektion dort schwerwiegende Folgen haben kann.

Die Lage ist angespannt, die Menschen sind frustriert und genervt. Viele sind von Armut und Insolvenz bedroht. Dass hier die Hoffnung auf eine gute und schnelle Lösung groß ist und dass die Zeit drängt, ist sehr verständlich. Aber unsere Gesellschaft muss sich gegen jeden Anflug von Gesundheitskontrolle und Gesundheitssanktionierung wehren. Impfpass- oder Immunitätskontrollen an jeder Ladentür, am Flugplatz und in jedem Restaurant sind keine wünschenswerte Zukunftsvision. Aufklärung, Information und gemeinschaftliches solidarisches Verhalten dagegen schon.

 

Marlies Karsch, Chefredakteurin

 

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