Corona: Medizinische Forschung ist auch nicht mehr das, was sie einmal war

Noch nie hat sich die breite Öffentlichkeit so intensiv mit medizinischer Forschung und ihren Ergebnissen befasst, wie jetzt während der Coronapandemie. Die Wissenschaftsredaktionen der „Laienpresse“ arbeiten auf Hochtouren, und man hat das Gefühl, dass eine Neuigkeit zu COVID-19 die andere im Stundentakt ablöst. Die Erkenntnisse, die in den letzten Monaten zum Thema SARS-CoV-2 gewonnen wurden, sind so umfangreich wie bei keinem anderen medizinischen Thema zuvor. Dabei ist der Wissensdurst der medizinischen Fachwelt und der Öffentlichkeit so groß, dass mit großem Tempo publiziert wird. Es ist völlig normal, dass die meisten Publikationen zum Thema COVID-19 bisher keinen Peer-Review durchlaufen haben und nur vorläufig auf einem Preprint-Server publiziert werden. Die dort publizierten Studienergebnisse werden sofort breit diskutiert, obwohl das am häufigsten genutzte Preprint-Medium medRvix auf seiner Startseite darauf hinweist, dass die vorläufigen Ergebnisse weder handlungsleitend für die klinische Praxis sein sollten noch in Nachrichtenmedien als etablierte Informationen dargestellt werden dürfen.

Auch für „hochrangig“ publizierte Studien scheinen in der allgemeinen Hektik die Standards erheblich gesenkt. Journals, die für normal sterbliche Wissenschaftler fast unerreichbar scheinen, wie beispielsweise NEJM, Lancet und BMJ, akzeptieren Studien, die üblicherweise nicht den eigenen hohen Qualitätsstandards genügen würden, wenn es nur irgendwie um COVID-19 geht. Weniger brisante Fragestellungen werden ebenfalls untersucht und fleißig publiziert. Beispielsweise wurde der „sexuellen Übertragbarkeit“ von COVID-19 anhand des Virusnachweises in Spermaproben nachgegangen, mit ebenfalls widersprüchlichen Ergebnissen. Abgesehen von einer möglichen Relevanz für Spermaspenden ist die Vorstellung schon amüsant, dass sexuelle Kontakte ohne Übertragung von Tröpfchen aus den oberen Atemwegen stattfinden sollten.

Trotz der vielen Studienergebnisse der letzten Monate ist aber nur eines relativ sicher: Wir wissen viel zu wenig über SARS-CoV-2. Ein Grund dafür ist auch, dass viele Studienergebnisse uneinheitlich und widersprüchlich sind.

Das RKI stellte das in seinem Steckbrief zur Coronaviruskrankheit eindrücklich dar. Einerseits wurde SARS-CoV-2 in Aerosolen nachgewiesen, andererseits wurde ihre Vermehrungsfähigkeit in Aerosolen nur experimentell untersucht. Manche Studien zeigen, dass Kinder gleich häufig erkranken wie Erwachsene, andere Studien dagegen belegen, dass Kinder seltener erkranken. Einige Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass Kinder meist von Erwachsenen infiziert werden, andere identifizieren auch Kinder als Indexfälle in Haushaltsclustern. Für Deutschland liegt der Fall-Verstorbenen-Anteil laut RKI bei 4,5 %, in China nach Schätzungen bei 1,4 %. Auch die Daten zur Infektiosität auf Oberflächen sind nicht einheitlich und lassen Informationen zur Vermehrungsfähigkeit vermissen.

Ähnlich ist es bei den Therapiestudien, auch hier sind die Ergebnisse oft widersprüchlich und von geringer Qualität und Aussagekraft. Offene oder underpowerte Studien werden leicht überbewertet und gelangen gleich nach der Publikation in die Nachrichtenmedien. Beispiele sind die hochgelobten Ergebnisse einer kleinen offenen Studie zu Azithromycin und Chloroquin, die dann in größeren Studien widerlegt wurden, und die eher dürftigen und widersprüchlichen Ergebnisse zu Remdesivir.

Die Frage ist nun, wie wir uns in diesem Informations- und Publikationsdschungel zurechtfinden können. Bei in den Medien hochgejubelten Studienergebnissen lohnt es sich, einen eigenen Blick auf die besagte Studie zu werfen. Auch ohne wissenschaftliche Expertise können Schwächen in Studien erkannt werden, z. B. dass nur wenige Patienten untersucht wurden, wenn die Studie offen und ohne Kontrollgruppe durchgeführt wurde oder wenn interessante Outcomes nicht berichtet wurden, z. B. die Auswirkung auf Mortalität und Beatmungszeit. Ansonsten können wir die Hauptarbeit des Durchforstens der Publikationen auch den Profis überlassen, beispielsweise der DEGAM, die aktuelle Erkenntnisse in ihrer S1-Handlungsempfehlung zusammenfasst, dem RKI, das Informationen täglich neu bewertet und herausgibt sowie wissenschaftlichen Fachgesellschaften, die ihre Empfehlungen und Leitlinien an die Corona-Pandemie anpassen.

Marlies Karsch, Chefredakteurin

 

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