Funktionelle Harninkontinenz bei Kindern

Zusammenfassung

  • Definition:Nicht organische (funktionelle) Harninkontinenz als Ausdruck einer Harnspeicher- oder Harnentleerungsstörung, definiert durch unwillkürlichen Urinabgang ohne strukturell-anatomische oder neurologische Ursache ab einem Alter von 5 Jahren.
  • Häufigkeit:Abnehmende Häufigkeit mit zunehmendem Alter, betroffen sind 2–5% der 7-Jährigen, 0,5 % der 11-13-Jährigen und 0,3 % der 15-17-Jährigen.
  • Symptome:Leidensdruck der Betroffenen, evtl. soziale Schwierigkeiten, Isolation.
  • Befunde:Klinischer Untersuchungsbefund unauffällig, oft psychologische Komorbiditäten.
  • Diagnostik:Klinische Untersuchung, detaillierte Anamnese, Sonografie. Bei entsprechender Indikation oder Verdacht auf organische Ursache weitere apparative Diagnostik.
  • Therapie:Aufklärung und Information, Miktionstraining, apparative Verhaltenstherapie, Medikamente.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Harninkontinenz: Einnässen im Kindesalter (unwillkürlicher Urinverlust) wird allgemein als Harninkontinenz bezeichnet.
  • Harninkontinenz gilt bis zum 4. Lebensjahr als physiologisch. Etwa 20–25 % der 4-Jährigen nässen nachts und 8–10 % tagsüber noch ein.
  • Auftreten kontinuierlich (meist organische bedingt!) oder intermittierend, tagsüber oder nachts
  • Nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz
    • Bezeichnet einen unwillkürlichen Urinverlust nach Ausschluss struktureller Anomalien des Harntrakts, epileptischer Anfälle, neurologischer oder anderer nicht psychiatrischer Erkrankungen bei einem Kind ab dem Alter von 5,0 Jahren.1  Auftreten mindestens einmal pro Monat über einen Zeitraum von 3 Monaten.
    • Formen der funktionellen Harninkontinenz
      • überaktive Blase/Dranginkontinenz (Overactive Bladder, OAB)
      • Miktionsaufschub
      • dyskoordinierte Miktion (Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination)
      • unteraktive Blase
      • Stressinkontinenz, Belastungsinkontinenz (sehr selten)
      • Lachinkontinenz (sehr selten)
      • Misch- und Übergangsformen
      • andere (sehr selten)

pfeil_7x12.png siehe Tabelle: Formen der Harninkontinenz im Kindesalter

Häufigkeit

  • Sehr viel seltener als Enuresis
  • Abnehmende Häufigkeit mit zunehmendem Alter
    • 2–5 % der 7-Jährigen, davon die Hälfte sekundär1
    • 0,5 % der 11- bis 13-Jährigen1
    • 0,3 % der 15- bis 17-Jährigen1
    • Bei bis zu 20 % der 4- bis 6-Jährigen tritt während des Tages gelegentlich ein Einnässen mit Urin auf, während in einer Studie bei 3 % 2-mal oder mehrere Male pro Woche Harnverlust festgestellt wurde.2
  • Ein Großteil der Kinder mit tagsüber bestehender Inkontinenz, nässt auch nachts ein.
  • Mädchen sind im Verhältnis 1–1,5:1 häufiger von Harninkontinenz tagsüber betroffen.

Ätiologie und Pathogenese

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Kontrolle der Kontinenz ist multifaktorielles Geschehen und die Ätiologie der Harninkontinenz ist nicht sicher geklärt. Mögliche Faktoren, die zur Entwicklung der Harninkontinenz beitragen:
    • familiäre Veranlagung (insbesondere bei überaktiver Blase)
    • verzögerte Reifung der Blasenfunktion (Risiko erhöht bei Frühgeburtlichkeit, Geburtstraumata, Belastungssituation im frühen Kindesalter)
  • Überaktive Harnblase (Overactive Bladder, OAB)1,3
    • Unzureichende Ausreifung der zentralen Steuerung der Blasenfunktion mit unwillkürlichen Detrusorkontraktionen, die nicht ausreichend unterdrückt werden können.
  • Miktionsaufschub
    • Kann im Kontext einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten auftreten.
    • bewusstes Verweigern der Miktion aus unterschiedlichen Gründen
  • Dyskoordinierte Miktion (Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination)
    • Detrusorkontraktionen während des Urinierens gegen einen geschlossenen äußeren Harnwegsphinkter, Stakkatomiktion
    • Mögliche Ursachen sind Reifungsstörungen, erlerntes Fehlverhalten.
  • Unteraktive Blase
    • unzureichende Detrusorkontraktion, Zuhilfenahme der Bauchpresse notwendig

ICPC-2

  • U04 Harninkontinenz4

ICD-10

  • R32 Nicht näher bezeichnete Harninkontinenz

Diagnostik

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1

Diagnostische Kriterien

  • Unwillkürlicher oder willkürlicher Harnabgang am Tag
  • Ausschluss strukturell/anatomischer, neurologischer und psychischer Ursachen
  • Lebens- oder Entwicklungsalter des Kindes über 5 Jahre
  • Auftreten mindestens 1 x/Monat über 3 Monate
  • Häufige Komorbiditäten

Differenzialdiagnosen

  • Physiologische Harninkontinenz vor dem 5.Lebensjahr
  • Enuresis
  • Inkontinenz infolge einer organischen Erkrankung
    • neurogene Blase
    • Polyurie und Polydipsie bei Diabetes mellitus oder insipidus, Tubulopathien, Nephronophthise
    • angeborene Fehlbildungen der Harnwege und Nieren
  • Psychiatrische Erkrankung
  • Harnwegsinfektion

Anamnese

Allgemeines

  • Detaillierte Anamnese zum Ausmaß der Harninkontinenz unter Zuhilfenahme z. B. der Auswertung eines Blasentagebuchs (Trink- und Miktionsprotokoll über mindestens 48 h) sowie eines 14-Tage-Protokolls (Dokumentation von Harninkontinenz, Häufigkeit der Darmentleerung, ggf. Stuhlschmieren, Enkopresis)
  • Screening für psychische Symptome anhand von Fragebögen
  • Familienanamnese
  • Sozialanamnese
  • Geburtskomplikationen
  • Frühkindliche Entwicklung

Spezifische anamnestisch Aspekte

  • Überaktive Harnblase
    • Plötzlicher starker Harndrang bei überaktiver Blase, dabei häufig typische Körperhaltung (Dranginkontinenz)
    • Symptomatik häufiger nachmittags (Ermüdungseffekt?)
    • bei Mädchen evtl. rezidivierende Harnwegsinfektionen
    • Betroffene bemerken das Einnässen oft nicht.
    • Betroffene trinken oft wenig.
    • selten psychische Begleiterkrankungen
    • häufig Kombination mit Obstipation und Stuhlretention
  • Miktionsaufschub
    • Aufschub der Miktion, zunehmender Harndrang, typische Haltemanöver
    • Miktion nur 2–3 x/Tag
    • große Miktionsvolumina
    • häufig Kombination mit Obstipation und Harnwegsinfektionen
    • gehäuft Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, verweigerndem Verhalten
  • Unteraktive Blase
    • Kinder benutzen Bauchpresse beim Urinieren.

Klinische Untersuchung

  • Ziel ist Ausschluss einer organischen Ursache der Harninkontinenz
  • Neben allgemeiner körperlicher Untersuchung insbesondere Augenmerk auf:
    • Untersuchung des Abdomens
    • Inspektion der äußeren Geschlechtsorgane
    • Inspektion des unteren Rückens
    • orientierende neurologische Untersuchung.

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Sonografie Abdomen, insbesondere auch Niere, Blase und retrovesikaler Raum
  • Urindiagnostik
  • Gezielte weitere Diagnostik bei Verdacht auf organische Ursache der Inkontinenz

Diagnostik im Krankenhaus

  • Ultraschall der Harnwege mit Erfassung von Blasenwanddicke und Rektumdurchmesser
  • Urografie und Miktionszystografie
    • bei häufig wiederkehrenden Infektionen oder konstantem Tröpfeln (Harnleiterektopie)
  • Uroflowmetrie zur Restharnbestimmung, ggf. mit Beckenboden-EMG
  • Weitere kinderurologische oder -nephrologische oder -gastroenterologische Diagnostik nur bei entsprechender Indikation
  • Spezifische Befunde
    • große Miktionsvolumina, hohe Blasenkapazität, Restharn bei Miktionsaufschub
    • Einsatz der Bauchpresse, unterbrochene Miktion und Restharnbildung bei unteraktiver Blase
    • Stakkatomiktion, Beckenbodenkontraktionen während der Entleerungsphase bei dyskoordinierter Miktion

Therapie

Therapieziele

  • Blasenkontrolle erlangen.
  • Relevante Komorbiditäten behandeln.
  • Informieren und aufklären.

Allgemeines zur Therapie

  • In den meisten Fällen ist eine ambulante Behandlung möglich.
  • Die initiale Behandlung einer evtl. zeitgleich bestehenden Obstipation verbessert häufig die Symptomatik der Harninkontinenz.
  • Relevante psychische Komorbiditäten sollten parallel mitbehandelt werden.
  • Zuerst wird die tagsüber bestehende Harninkontinenz, anschließend eine evtl. zeitgleich bestehende Enuresis nocturna therapiert.
  • Eine antibiotische Prophylaxe mit Nitrofurantoin ist in bestimmten Fällen angezeigt.
  • Therapieelemente
    • Urotherapie
    • apparative Verhaltenstherapie (AVT)
    • medikamentöse Therapie

Urotherapie

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1

 Maßnahmen der allgemeinen Urotherapie

  1. Aufklärung, Information, Entmystifizierung
    • Physiologie der Harnblase
    • Beschreibung der normalen Blasenfunktion als Reifungsprozess
    • Charakterisierung der Blasenfunktionsstörung (Pathophysiologie)
    • Berücksichtigung von Komorbiditäten
    • mögliche Therapiekonzepte
  2. Anleitung zu einem optimalen Miktionsverhalten
    • z. B. Absprache von Regeln bei Miktion
    • Miktion rechtzeitig, entspannt und mit Zeit
    • Miktion nach der Uhr
    • Förderung von Wahrnehmungsübungen für die Blase
    • Anleitung zur regelmäßigen Darmentleerung
  3. Instruktionen zu Trink- und Ernährungsverhalten
  4. Anwendung von Protokollsystemen
    • „Sonne-Wolken-Kalender“
    • Toiletten- und Miktionspläne
    • Kalendersysteme
  5. Unterstützung und Begleitung
    • regelmäßige Kontakte
    • Förderung der Motivation
    • Ansprechbarkeit des therapeutischen Teams

 Maßnahmen der speziellen Urotherapie

  • Apparative Verhaltenstherapie (AVT, Alarmtherapie, Weckapparattherapie)
  • Beckenbodentraining
  • Biofeedbacktraining
  • Elektrostimulation (z. B. TENS)
  • Sauberer intermittierender Einmalkatheterismus

Spezifische Maßnahmen

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1

Überaktive Blase

  • Anleitung zum Verzicht auf Haltemanöver, sofortiges Aufsuchen der Toilette bei Harndrang, Optimierung des Trinkverhaltens
  • regelmäßiges Miktionieren (evtl. mit Uhr/Smartphone mit Erinnerungsfunktion), bei Versagen der Verhaltenstherapie Behandlungsversuch mit Anticholinergikum (cave: Nebenwirkungen: Obstipation, Restharnbildung, Tachykardie, Mundtrockenheit, Hautrötung, Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörungen, Müdigkeit,  Konzentrationsstörungen!)
    • Oxybutinin (zugelassen ab 5 Jahre): bei Kindern von 5–10 Jahren 2 x 2,5 mg/Tag oder 0,3 mg/kg KG/Tag, bei Kindern >10 Jahre 2 x 5 mg/Tag (max. 3 x 5 mg/Tag)
    • Propiverin-Hydrochlorid: 0,8 mg/kg KG/Tag in 2 Einzeldosen
  • In einigen Fällen Besserung mit TENS (transkutane Elektroden)
  • Keine Empfehlung für Botulinumtoxin bei Kindern

Miktionsaufschub

  • Anleitung zum regelmäßigen, entspannten Miktionieren, Erinnerung durch Uhr/Smartphone
  • Kalendermethode, Belohnungssystem
  • Keine Indikation für medikamentöse Therapie
  • Gleichzeitige Behandlung evtl. vorliegender psychischer Komorbiditäten

Dyskoordinierte Miktion

  • Physiotherapie
  • Ggf. Einsatz von Biofeedbackmethoden nach Versagen der Standardurotherapie (bislang keine überzeugenden Studiendaten, Therapieversuch jedoch gerechtfertigt bei entsprechender Motivation des Patienten)
  • Keine Empfehlung für medikamentöse Therapie

Unteraktive Blase

  • Ggf. intermittierendes Katheterisieren neben der Urotherapie

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Rezidivierende Harnwegsinfektionen durch Restharnbildung
  • Gefahr der Entwicklung einer Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination oder einer unteraktiven Blase bei Miktionsaufschub
  • Gefahr der Blasenwandverdickung und sekundärem Reflux, Megaureter oder Nierenbeckendilatation bei dyskoordinierter Miktion
  • Soziale Schwierigkeiten, Isolation, innerfamiliäre Konflikte

 Prognose

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Generell gute Prognose
  • 40–50 % der Kinder mit überaktiver Blase werden mit der Kalendermethode trocken.
  • Bei 60 % der Kinder mit überaktiver Blase führen Anticholinergika zur Besserung der Symptomatik, es besteht jedoch eine Rückfallquote von 50 %.

Verlaufskontrolle

  • Langfristige Behandlung auch über das Erreichen der Kontinenz hinaus
  • Anfangs engmaschige Verlaufskontrollen zur motivierenden und unterstützenden Begleitung der Therapie.
  • Bei Rückfall erneuter Therapieversuch, in resistenten Fällen Unterstützung durch Kinder- und Jugendpsychiatrie in Erwägung ziehen, ggf. teilstationäre oder stationäre Behandlung in Abhängigkeit von psychologischen Komorbiditäten.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Enuresis und nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen. AWMF-Leitlinie Nr. 028-026, Stand 2015. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Enuresis und nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen. AWMF-Leitlinie Nr. 028-026, Stand 2015. www.awmf.org
  2. Sureshkumar P, Craig JC, Roy LP, Knight JF. Daytime urinary incontinence in primary school children: a population-based survey. J Pediatr 2000; 137: 814. www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Austin PF, Bauer SB, Bower W, et al.. The standardization of terminology of lower urinary tract function in children and adolescents: update report from the Standardization Committee of the International Children's Continence Society. J Urol 2014; 191: 1863. www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Duel BP, Steinberg-Epstein R, Hill M, Lerner M. A survey of voiding dysfunction in children with attention deficit-hyperactivity disorder. J Urol 2003; 170: 1521. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Burgers RE, Mugie SM, Chase J, et al. Management of functional constipation in children with lower urinary tract symptoms: report from the Standardization Committee of the International Children's Continence Society. J Urol 2013; 190: 29. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Bauer SB. Special considerations of the overactive bladder in children. Urology 2002; 60: 43. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autoren

  • Anne Strauß, Ärztin in Weiterbildung Pädiatrie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
  • Terje Johannessen, professor i allmennmedisin, Institutt for samfunnsmedisinske fag, Norges teknisk-naturvitenskapelige universitet, Trondheim
  • Arnfinn Seim, Außerordentlicher Professor für Allgemeinmedizin, Institut für Sozialmedizin, Norwegische Universität für Wissenschaft und Technologie, Trondheim

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