Von Hilfsorganisationen und in verschiedenen Publikationen wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass Wohnungslose, Obdachlose und Nutzer*innen von Notunterkünften in der COVID-19-Pandemie besonders gefährdet sind. Gründe sind unter anderem Informationsdefizite, fehlende Möglichkeit zur Isolierung und Quarantäne, Mangel an Hygieneartikeln und Masken, fehlender Zugang zu sanitären Einrichtungen, Übernachtung in Massenunterkünften, Hemmnisse bei der Inanspruchnahme medizinischer Hilfen und in vielen Fällen ein schlechter Gesundheitszustand und Vorerkrankungen. Vielfach wurde bemängelt, dass, besonders zu Beginn der Pandemie, für die Betroffenen SARS-CoV-2-Testungen, Quarantäne, Kontaktreduzierung und weitere Versorgung nicht umfassend genug geregelt waren (siehe Thema der Woche 2020-W13 COVID-19 – kein Infektionsschutz für die Bedürftigsten?). Nach eineinhalb Jahren Pandemie hat das RKI jetzt in Zusammenarbeit mit Hilfsprojekten und Behörden Empfehlungen für die Versorgung Wohnungsloser im Zusammenhang mit COVID-19 herausgegeben.
Dass die Veröffentlichung solcher Empfehlungen so spät im Pandemieverlauf erfolgt, liegt nicht allein daran, dass Wohnungslose und Obdachlose in unserer Gesellschaft nicht als wichtig wahrgenommen werden. Ein wichtiger Grund ist auch, dass zahlreiche verschiedene Settings zu berücksichtigen sind und dass sehr viele unterschiedliche Akteure in die Versorgung involviert sind. Hierbei ist zwischen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit zu unterscheiden. Wohnungslose haben keinen mietvertraglich gesicherten Wohnraum. Obdachlose bilden eine Untergruppe, die ohne Unterkunft auf der Straße lebt. Es gibt mehrere Settings, in denen Betroffene anzutreffen sein können und für die unterschiedliche Hilfsorganisationen, Behörden, Vereine oder Mitarbeiter*innen kommunaler oder kirchlicher Einrichtungen zuständig sind: auf der Straße, in informellen Camps, in ambulanten Anlaufstellen (Tagestreffs, Essensausgaben, Kleiderkammern, Konsumräume, medizinische Einrichtungen, Beratungsstellen etc.), in Notunterkünften oder dauerhaften Unterbringungseinrichtungen.
Ist das überhaupt ein hausärztliches Thema? In vielen Hausarztpraxen spielt diese Patientengruppe sicher eher eine untergeordnete oder keine Rolle. Aber viele Kolleg*innen betreuen ehrenamtlich wohnungslose oder obdachlose Patient*innen. Auch bieten zahlreiche Hausarztpraxen Substitutionstherapie für Opiatabhängige an, die auch von Wohnungslosigkeit betroffen sein können und beispielsweise nur überbrückend bei Bekannten unterkommen. Opfer von Menschenhandel befinden sich ebenfalls häufig in prekären Wohnsituationen und können Hilfe in Hausarztpraxen suchen. Informationen dazu bietet unser Artikel Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Außerdem kann es gerade in den teuren Großstädten durchaus möglich sein, dass in einer Hausarztpraxis altbekannte Patient*innen plötzlich von Wohnungslosigkeit betroffen sind und große Schwierigkeiten haben, ein neues Zuhause zu finden. Dann ist es sicher hilfreich, wenn Hausärzt*innen zumindest wissen, dass sie sich im aktuellen RKI-Dokument über die verschiedenen Präventions- und Hilfsmaßnahmen in Settings und Einrichtungen für Wohnungslose informieren können.
Wichtig zu wissen ist, dass Testung, Quarantäne und Isolierung auch in Notunterkünften möglich sind. Tests werden auch in Anlaufstellen oder im Rahmen einer mobilen medizinischen Versorgung angeboten. Für Wohnungslose ist ein niederschwelliges Testangebot besonders wichtig. Schnelltests sind zwar weniger zuverlässig als PCR-Tests. Aber da die Ergebnisse schnell vorliegen, sind diese besser geeignet für Personen, die für die Mitteilung eines erst nach längerer Zeit eintreffenden Resultats unter Umständen nicht mehr erreichbar sind. Ein positiver Schnelltest macht auch in diesen Settings eine Bestätigung mittels PCR notwendig. Wohnungslose und obdachlose Menschen sollen weiterhin priorisiert geimpft werden. Da diese Personen möglicherweise einen zweiten Impftermin nicht zuverlässig wahrnehmen können, sollte ab 60 Jahren bevorzugt der Impfstoff der Firma Johnson&Johnson verabreicht werden. Damit dieser gesellschaftlichen Randgruppe in der COVID-19-Pandemie die Aufmerksamkeit zuteilwerden kann, die ihr zusteht, ist ein strukturiertes und gut vernetztes Vorgehen gemäß der RKI-Empfehlungen COVID-19 im Kontext Wohnungslosigkeit unerlässlich.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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