„Richtige“ Ernährung – „normales“ Gewicht?

Übergewichtige und adipöse Menschen machen zwei Drittel der deutschen Bevölkerung und somit auch einen großen Teil der Patient*innen in der Hausarztpraxis aus. Beratungsanlass ist häufig der Wunsch nach Gewichtsabnahme aufgrund von Stigmatisierung und Diskriminierung wegen der Abweichung von aktuellen Schönheitsidealen. Bei anderen Betroffenen wird das Gewicht von ärztlicher Seite angesprochen, weil es bei Begleiterkrankungen und beim kardiovaskulären Risiko ein wichtiger Faktor ist. In jedem Fall spielen Hausärzt*innen eine zentrale Rolle in der Begleitung und Behandlung adipöser Menschen. Wir haben unseren Artikel Übergewicht/Adipositas und den dazugehörigen Patientenartikel Übergewicht überarbeitet und aktualisiert. Derzeit stehen zu diesem Thema eine DEGAM-Praxisempfehlung von 2016 und eine abgelaufene AWMF-Leitlinie von 2014 zur Verfügung.

In unserem Artikel haben wir berücksichtigt, dass schon bei der Krankheitsdefinition keine harten Grenzen gelten können. Die formale Feststellung von Übergewicht und Adipositas anhand der Bestimmung des BMI (> 25 kg/m2 bzw. > 30 kg/m2) ist nicht immer eindeutig. Der BMI unterscheidet beispielsweise nicht zwischen Muskelmasse und Fettgewebe, deswegen können muskulöse sportliche Personen als übergewichtig klassifiziert werden. Die DEGAM-Praxisempfehlung erachtet auch die Messung des Taillenumfangs in der Primärversorgung als nicht sinnvoll. Sie empfiehlt vielmehr eine individuelle Gesamtschau. Die Diagnostik soll sich bei Adipositas laut DEGAM an Beschwerden und bekannten Begleiterkrankungen orientieren. Die individuelle Bestimmung von Stoffwechselparametern, wie TSH, HbA1C und Glukose, kann sinnvoll sein. Zur Kalkulation des kardiovaskulären Risikos wird ARRIBA empfohlen.

In der Allgemeinbevölkerung herrscht häufig die Meinung vor, dass Adipöse sich einfach falsch ernähren, zu wenig bewegen und sich letztendlich zusammenreißen sollen. Auch manche Ärzt*innen finden die Behandlung von adipösen Betroffenen frustrierend, weil eine langanhaltende Gewichtsreduktion schwer zu erreichen ist. Dabei stellen sich folgende Fragen: Muss grundsätzlich immer eine Gewichtsreduktion angestrebt werden? Ist Adipositas per se eine Krankheit, so wie es die abgelaufene AWMF-Leitlinie einordnet? Oder ist Adipositas nicht automatisch als Krankheit anzusehen, so wie es die DEGAM einschätzt? Die DEGAM empfiehlt, Adipositas vor dem Hintergrund von Begleiterkrankungen, Alter und anderen, z. B. kardiovaskulären, Risikofaktoren zu beurteilen. Eine alleinige Abweichung von Normwerten ist jedenfalls für eine Therapieempfehlung nicht ausreichend.

Dass Adipositas einen Risikofaktor für zahlreiche Erkrankungen darstellt, wie z. B. Typ-2-Diabetes, arterielle Hypertonie, kardiovaskuläre Erkrankungen, Schlafapnoe-Syndrom und viele weitere, ist unbestritten. Eine Korrelation mit der Mortalität ist weniger eindeutig. Außerdem haben adipöse Personen, oft aufgrund von Stigmatisierung und Abwertung, ein erhöhtes Risiko, an einer Depression oder Angststörung zu erkranken.

Für die Therapie der Adipositas empfiehlt die DEGAM eine partizipative Entscheidungsfindung mit den betroffenen Patient*innen und ein gemeinsames Festlegen erreichbarer Therapieziele. Da es wenig Evidenz für die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen und Diäten gibt, ist ein individuelles Vorgehen empfehlenswert. Die empfohlene Reduzierung der Energiemenge um ca. 500 kcal/Tag kann durch eine Reduktion des Verzehrs von Kohlenhydraten, von Fett oder von beidem erreicht werden. Wichtige Bausteine für eine erfolgreiche Lebensstiländerung und Gewichtsabnahme sind auch Bewegungstherapie (siehe Körperliche Aktivität bei Übergewicht und Adipositas) und Verhaltenstherapie.

Die Ansicht, dass übergewichtige und adipöse Personen generell abnehmen sollten, sei es, um gesünder zu leben, sei es, um aktuellen Schönheitsidealen zu entsprechen, ist jedenfalls überholt. Auch eindeutig richtige oder falsche Ernährungsempfehlungen gibt es nicht. In der derzeit noch ausstehenden neuen AWMF-Leitlinie werden überkommene Einschätzungen hoffentlich neu bewertet und zeitgemäße evidenzbasierte Empfehlungen ausgesprochen.

Marlies Karsch, Chefredakteurin

 

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