Vor einigen Wochen ist der neue Cannabis-Report 2020 erschienen. Er wurde an der Universität Bremen mit Unterstützung der BKK Mobil Oil erarbeitet. Im Vergleich zur Vorversion des Cannabis-Reports von 2018 haben die Autor*innen ihre Einschätzung zur Wirksamkeit Cannabinoid-haltiger Arzneimittel bei verschiedenen Indikationen präzisiert. Dabei fließen in die aktuelle Publikation zusätzlich neuere Studienergebnisse und die aktuelle NICE-Guideline zum medizinischen Gebrauch von Cannabinoiden ein. Wir haben den neuen Cannabis-Report in zahlreichen Artikeln berücksichtigt: z. B. Cannabinoid-haltige Arzneimittel, Grundsätze der Schmerzbehandlung, Palliative Schmerztherapie, MS, Spastisches Syndrom, Lennox-Gastaut-Syndrom, Palliative Behandlung von Übelkeit und Erbrechen, Palliative Behandlung von Kachexie und Dehydratation, Angststörungen, ADHS und Tourette-Syndrom.
Im Report werden, wie in der Vorversion von 2018, denkbare Indikationen für eine Therapie mit Cannabinoiden genannt: Chronische Schmerzen (die NICE-Guideline rät bei dieser Indikation von Cannabinoiden ab), Spastizität bei MS (die NICE-Guideline empfiehlt einen 4-wöchigen Therapieversuch), Epilepsien (Cannabidiol mit Clonazepam, zugelassen bei Lennox-Gastaut-Syndrom, ansonsten off-label), Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen sowie Appetitsteigerung bei HIV/AIDS. Mögliche Indikationen für den Einsatz von Cannabinoiden sind Angststörungen, Schlafstörungen, Tourette-Syndrom und ADHS. Die aktuelle S3-Leitlinie zur Therapie des ADHS rät allerdings aufgrund fehlender Daten von einer Therapie mit Cannabinoiden ab. Keinen Wirksamkeitsnachweis gibt es bislang bei Depression, Psychosen, Demenz, Glaukom und Darmerkrankungen.
Laut den Autor*innen des Cannabis-Reports bringt das „Cannabis als Medizin“-Gesetz von 2017 einige Probleme mit sich: Da in diesem Gesetz keine Indikationsgebiete genannt sind, wird bei Arzneimitteln ohne reguläre indikationsbezogene Zulassung, wie z.B. bei Cannabisblüten im Gegensatz zum zugelassenen Wirkstoff Nabiximols, keine AMNOG-Prüfung durch den G-BA durchgeführt. Es erfolgt also keine indikationsbezogene Bewertung des Nutzens gegenüber einer Vergleichstherapie. Die Einschätzung der Evidenz und die ärztliche Therapieentscheidung für einzelne Indikationen basiert so auf methodisch teilweise sehr schlechten Studien oder einer Bewertung der Wirkung während der Anwendung.
Da keine Indikationen für den Einsatz von Cannabis-Extrakten und -Blüten festgelegt sind, gibt es keine Fachinformationen, und die Verordnung erfolgt als No-Label-Use. Das bedeutet unter anderem, dass Hersteller nicht für Schädigungen von Patient*innen haften. Rezepturen und Blüten sind Naturprodukte, deren Wirkstoffgehalt nicht standardisiert ist. Es fehlen genaue Informationen zur Dosierung, Anwendungsdauer sowie Wechsel- und Nebenwirkungen.
Es lohnt sich ein Blick auf die Verordnungszahlen der BKK Mobil Oil, die im Cannabis-Report genannt sind. Die häufigsten Indikationen für eine Cannabinoid-Verordnung seit 2017 sind chronische Schmerzen (27 %), Rückenschmerz (7 %), Spastik (6 %), Polyneuropathie (5 %), MS (5 %) und Depression (4 %). Außerdem werden Cannabinoide auch bei zahlreichen Krebserkrankungen verordnet. Rund vier Fünftel der Cannabinoid-Verordnungen erfolgen als Off- oder No-Label-Use, also nicht im Rahmen einer zugelassenen Indikation. Mehr als die Hälfte der Ausgaben kommt durch die Verordnung von Cannabisblüten zustande. Ca. 51 % der Kosten entstanden durch hausärztliche Verordnungen. Sehr hohe Kosten werden durch die Verordnung von großen Mengen an Cannabisblüten (bis zu 20 g/d) für einen relativ kleinen Anteil jüngerer männlicher Patienten an der Gesamtzahl der Patient*innen verursacht. Bei großen Verordnungsmengen unverarbeiteter Blüten besteht bekanntermaßen die Gefahr von missbräuchlichem Konsum und Weiterverkauf.
Was wissen wir also über die Therapie mit Cannabinoiden? Offensichtlich immer noch zu wenig. Anhand der Verordnungszahlen lässt sich sehen, dass die Cannabinoid-Behandlung als hausärztliche Aufgabe angesehen wird. Um hier evidenzbasiert und gut informiert vorgehen zu können, fehlt es weiterhin an guten und ausreichend großen randomisierten kontrollierten Studien, sowie klaren Vorgaben und auch Beschränkungen für die Anwendung.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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