Hier in Deutschland bereiten wir uns optimal auf die auf uns zu rollende Corona-Epidemie vor. Intensivbetten werden frei gemacht, elektive Eingriffe abgesagt, Medizinstudenten zur Arbeit auf der Intensivstation herangezogen, Firmen mit der Massenproduktion von Beatmungsgeräten beauftragt. Diese Maßnahmen sind vermutlich notwendig und sorgen dafür, dass die Bevölkerung hierzulande keine Angst vor „italienischen Verhältnissen" haben muss. Doch was ist mit den Menschen, die nicht das Glück haben, hier in diesem Land in Sicherheit zu sein?
Immer wieder wird über die desolaten Zustände im überfüllten Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos berichtet. Hier leben mehr als 20.000 Menschen in einem Lager, das ursprünglich für knapp 3.000 konzipiert war. 8.000 davon sind Kinder. Die sanitären Verhältnisse sind völlig unzureichend, ca. 250 Personen teilen sich eine Toilette und eine Dusche. Aus Angst vor der Corona-Epidemie wurde das Lager von der Außenwelt auf Lesbos abgeriegelt, pro Familie darf nur noch eine Person zum Supermarkt zum Einkaufen gehen. Dies wird dadurch erschwert, dass aus Angst vor Infektionen kein Bargeld mehr ausgegeben wird.
Inzwischen gibt es einzelne COVID-19-Fälle außerhalb des Lagers auf Lesbos. Im Lager selbst wurde noch kein Fall dokumentiert. Wegen der Überfüllung im Lager ist es kaum machbar, „social distancing" einzuhalten, Händehygiene ist nahezu unmöglich und die ärztliche Versorgung im Lager kann keine intensivmedizinischen Maßnahmen oder gar eine Beatmung gewährleisten. Ärzte, der UNHCR und Hilfsorganisationen fürchten daher bei Auftreten von COVID-19 in Moria eine sehr rasche Ausbreitung und eine mangelhafte medizinische Versorgung. Die Rede ist von einer sich anbahnenden humanitären Katastrophe.
Es gibt nun zahlreiche Initiativen, das Lager ganz oder zumindest teilweise zu evakuieren, bevor die ersten COVID-19-Fälle dort auftreten. Es wird auch daran gearbeitet, einige der Geflüchteten aus dem Lager nach Deutschland auszufliegen. Leider ist bisher wenig passiert. In vielen Medienberichten ist von einer fehlenden Empathie in Europa und dem Verlust europäischer Werte die Rede. In der Tat sind die europäischen Länder aufgrund der Corona-Pandemie mit sich selbst beschäftigt. Ein anderer Grund für das Zögern könnte sein, dass von politisch Verantwortlichen befürchtet wird, angesichts der drohenden Wirtschaftskrise durch das Einfliegen von Geflüchteten rechter Politik Vorschub zu leisten. Wenn aber Ängste vor einem Rechtsruck zu einem Unterlassen humanitärer Hilfe führen, dann haben die rechten Kräfte in unserem Land schon gewonnen.
Moria ist nur ein Beispiel für Populationen, in denen COVID-19 sehr großen Schaden anrichten kann. In großer Gefahr sind selbstverständlich auch all die anderen Menschen, die in den Flüchtlingslagern dieser Welt ausharren müssen. Auch Länder mit schlechter oder gar ganz fehlender medizinischer Infrastruktur können von der Corona-Pandemie schwer betroffen sein und eine hohe Mortalitätsrate zu beklagen haben. Bei allem gebotenen Selbstschutz dürfen wir diese Menschen nicht vergessen! Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, sich von zu Hause aus online zu engagieren, Hilfsorganisationen zu unterstützen und Petitionen zu unterschreiben. Informieren Sie sich!
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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