Ein schlanker junger Mann sitzt blass und zusammengekrümmt vor mir auf dem Stuhl. Mit Grabesstimme sagt er: „Ich bin kraaaank." Ich denke, oje, das ist etwas Ernstes, hoffentlich kein Krebs. „Ich habe Schnupfen", flüstert er. Für einen Moment entgleisen meine Gesichtszüge, dann habe ich mich wieder im Griff: ein Männerschnupfen also. Was ist das? Tun wir all den großen starken Männern unrecht, wenn es uns irritiert, dass sie sich so benehmen, als könnte man an einer Erkältung sterben? Ist das soziokulturell bedingt oder eine Frage für die Gendermedizin?
Dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, haben wir schon im Studium gelernt. Aber die Erkenntnis, dass Frauen keine kleinen Männer und Männer keine großen Frauen sind, hat sich noch lange nicht in allen Bereichen der Medizin durchgesetzt. Neben biologischen Unterschieden haben auch Geschlechterrollen einen großen Einfluss. Hier ist noch viel Forschungs- und Aufklärungsarbeit zu leisten.
Es gibt beispielsweise Untersuchungen, die zeigen, dass Immun- und Entzündungsreaktionen bei Frauen stärker sind als bei Männern. Dies führt wohl dazu, dass Frauen häufiger an Autoimmunerkrankungen leiden als Männer (z.B. Psoriasis, rheumatoider Arthritis, M. Basedow). Es könnte aber auch erklären, warum Männer insgesamt infektanfälliger sind und vielleicht auch, warum sie unter Infekten stärker leiden. Männer führen im Allgemeinen ein ungesünderes Leben als Frauen, ernähren sich schlechter, trinken mehr Alkohol, gehen seltener zu Vorsorgeuntersuchungen, sind häufiger übergewichtig und erkranken vielleicht auch deswegen häufiger an Diabetes. Die Lebenserwartung von Frauen ist deutlich höher. Dass das wirklich am Lebenswandel liegen könnte, wurde beim Vergleich von Mönchen und Nonnen gezeigt: Bei gleichem Lebensstil sind diese Unterschiede wesentlich geringer.
Psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen, aber auch die Osteoporose sind bei Männern unterdiagnostiziert. Für Frauen hingegen gibt es Daten, dass bei ihnen ein akutes Koronarsyndrom später erkannt wird. Ein Herzinfarkt tritt bei Frauen erst später im Leben auf als bei Männern, kann eine andere Klinik aufweisen, aber auch andere Gefäße betreffen. Auch bei Pharmakokinetik und Pharmakodynamik gibt es deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Frauen erleben häufiger Arzneimittelnebenwirkungen und -interaktionen. Auch der Therapieerfolg bei bestimmten Indikationen und medikamentösen Therapien ist stark geschlechtsabhängig. All diese Unterschiede sollten in unserem ärztlichen Handeln berücksichtigt werden. Vielleicht können wir dann auch mit dem Männerschnupfen nachsichtig umgehen.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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