Im aktuellen Newsletter von WONCA Europe wird von einem Positionspapier der Nordic Federation of General Practice (NFGP) zu „Überdiagnostik und damit verbundener medizinischer Überversorgung“ und von einer WONCA-Arbeitsgruppe zum Thema „Quartäre Prävention und Übermedikation“ berichtet. Die Akteure im deutschen Gesundheitssystem, auch wir Hausärzte, können dies zum Anlass für Selbstreflexion nehmen. So hat es Deutschland auch im OECD Health Report 2016 wieder auf zweifelhafte erste Plätze geschafft: die meisten MRTs (z.B. bei akuten Rückenschmerzen), die meisten Koronarangiografien und die meisten Gelenkersatz-OPs aller OECD-Länder.
Gerade der ungefilterte Zugang zu allen Spezialisten und das nahezu völlig fehlende Gatekeeping durch Hausärzte hierzulande erschweren die quartäre Prävention und die Verhinderung einer Überdiagnostik. Ein Zuviel an Diagnostik, auch durch Screeningprogramme ohne eindeutigen Nutzenbeleg, erhöht die Gefahr unnötiger oder falscher Diagnosen und kann damit zu unnötigen oder potenziell gefährlichen Behandlungen führen.
Wichtige Beispiele sind die Überdiagnose von Schilddrüsenkarzinomen durch eine Zunahme der Sonografien bei Schilddrüsenknoten oder eine Übererkennung von nicht fortschreitenden und damit für die Patientin unbedeutenden Mammakarzinomen infolge von Brustkrebsscreening. Auch die viel diskutierte Bestimmung des PSA-Wertes kann für den Patienten massive Folgen durch unnötige weiterführende Diagnostik und Therapien haben.
Was können wir tun? Es ist eine grundlegende hausärztliche Aufgabe, Patienten über Risiken und Nebenwirkungen von Diagnostik, auch im Rahmen von Screeningprogrammen, zu informieren und sie auch dabei zu unterstützen, ein gewisses Maß an diagnostischer Unsicherheit zu akzeptieren. Die Empfehlungen der Choosing-Wisely-Initiative können uns bei der Vermeidung von Überversorgung im Praxisalltag unterstützen.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
Frühere Themen:
- HIV und AIDS: daran denken!
- NVL Kreuzschmerz: Was ist neu?
- Oft nicht ganz eindeutig: Dermatologie in der Hausarztpraxis
- Beratung vor der Reise
- Sommerliche Notfälle in der Hausarztpraxis
- Auch wenn es schwerfällt: Let's talk about sex
- Allgemeinmedizin attraktiver machen – wie geht das?
- Unsere globale Verantwortung: Antibiotikaresistenzen
- Nicht jedermanns Sache: Traumatologie in der Hausarztpraxis und beim Notarzteinsatz
- Off-Label-Use – Was ist zu beachten?
- Mobbing von Schülern und gesundheitliche Folgen
- Demenzdiagnostik in in der Hausarztpraxis
- Wissen, was man tut, und warum
- Der „Mausarm“ und andere Schulter-Arm-Probleme
- iFOBT statt Serienbriefchen
- Achtung Pollenflug
- Nackenschmerzen – ein Wunschkonzert?
- Kollege Dr. House
- TSH – Krankheitsdefinition aus dem Labor?
- Impfpräventable Krankheitsbilder – es gibt sie noch
- Cannabinoide auf Rezept
- Ohrenprobleme
- Die Altenheimvisite
- Wenn der Alltag krank macht
- Ärzte als Patienten
- Gute Vorsätze für das neue Jahr
- There is no free lunch
- Influenza – die Saison ist eröffnet
- Depressionsbehandlung – eine typische Aufgabe des Hausarztes?
- Vitamin D – ein Alleskönner?
- Erkältungszeit
- Evidenzbasierte Medizin aus Norwegen