Vor einigen Tagen ist die neue DEGAM-Leitlinie „Müdigkeit“ erschienen. Die diagnostische und therapeutische Handhabung dieses häufigen Beratungsanlasses in der Hausarztpraxis erhält hiermit klare und pragmatische Empfehlungen. Grundsätzlich ist Müdigkeit ein äußerst unspezifisches Symptom. Wenn Anamnese, körperliche Untersuchung und Basislabor keine klaren Hinweise auf eine eindeutige, gut zu behandelnde Diagnose liefern, ist die Versuchung groß, auch auf Druck der Betroffenen eine Art „Schrotschussdiagnostik“ zu betreiben. Hier hilft die neue Leitlinie, in evidenzbasierten Grenzen strukturiert vorzugehen. Wir haben diese Empfehlungen in unserem Symptomartikel Müdigkeit berücksichtigt.
Manche Patienten und Patientinnen, die über das Symptom Müdigkeit klagen, haben oft die Vorstellung, dass dem Problem „irgendein Mangel“ zugrunde liegt: z. B. Vitamin-D-Mangel oder Eisenmangel. Oder sie vermuten selbst eine Schilddrüsenunterfunktion oder Borreliose. Bei entsprechenden Laborbefunden scheint hier gleich eine Ursache festzustehen. Dabei warnt die neue Leitlinie ausdrücklich davor, pathologische Laborwerte vorschnell als ausreichende Erklärung zu akzeptieren: Solche „Etikettierungen“ können einseitig somatisch ausgerichtet sein oder psychosoziale Faktoren außer Acht lassen. Außerdem können so abwendbar gefährliche Verläufe vorschnell ausgeschlossen werden. Hier soll besonders an psychische Erkrankungen, wie Angst oder Depression, gedacht werden. Auch ein Schlafapnoe-Syndrom oder Medikamentennebenwirkung oder Substanzabusus (z. B. Alkoholismus) gehören zu den abwendbar gefährlichen Verläufen.
Häufige Ursachen für Müdigkeit sind Schlafstörungen, psychische Belastungen (erschöpfte psychosoziale Kompensationsmöglichkeiten) oder bekannte chronische somatische Erkrankungen (z. B. chronische Herzinsuffizienz, M. Parkinson, chronische Niereninsuffizienz oder rheumatoide Arthritis). Die Behandlung dieser chronischen Erkrankungen soll bei Vorliegen von Müdigkeit optimiert werden.
Zugrunde liegende schwerwiegende Erkrankungen, die sich ausschließlich durch Müdigkeit manifestieren, sind im Gegensatz zu den Befürchtungen mancher Patienten, nicht sehr häufig. Tumorerkrankungen, AIDS, Demenz oder MS werden bei der Abklärung von Müdigkeit selten diagnostiziert. Grundsätzlich soll der Diagnostik ein bio-psycho-sozialer Ansatz zugrunde liegen. Patienten mit ungeklärter Müdigkeit oder Hinweisen auf relevante psychosoziale Belastungen sollen feste Folgetermine angeboten werden. Bei einer großen Zahl zugrunde liegender Störungen sind Verhaltenstherapie oder symptomorientierte aktivierende Maßnahmen empfehlenswert.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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