In Deutschland haben wir die einzigartige Situation einer medizinischen Parallelversorgung durch Heilpraktiker, medizinisch nicht oder ohne das Einhalten irgendwelcher Standards ausgebildeter nichtärztlicher „Heilkundiger“. Für uns gewissenhaft ausgebildete und evidenzbasiert arbeitende Ärzte ist die Tatsache schwer zu akzeptieren, dass jemand ohne fundierte Ausbildung und mit meist eben nicht evidenzbasierten Methoden der Komplementär- und Alternativmedizin (CAM) Patienten behandeln darf. Oft suchen Patienten ihren Heilpraktiker und uns Hausärzte wegen desselben Problems auf (z. B. chronische Rückenschmerzen) und picken sich dann die Empfehlung heraus, die ihnen am besten gefällt.
Meistens geht das gut, oft erfahren wir das gar nicht, aber manchmal sehen wir schwerwiegende Folgen unqualifizierten Handelns am Patienten. So kam beispielsweise eine Patientin vom „Einrenken“ mit starken dorsalen Thoraxschmerzen, weil übersehen wurde, dass sie eine osteoporotische Rippenfraktur hatte, die jetzt deutlich disloziert war. Eine andere Patientin, die wegen einer Pneumonie in meiner Behandlung war, ging wegen fehlender Besserung erst einmal zum „Schröpfen“. Der Heilpraktiker hat die unter Antibiotikagabe weiter hoch fiebernde Patientin nicht zur „Schulmedizinerin“ geschickt. Lange habe ich versucht, die erhöhten Leberwerte einer Patientin abzuklären, bis sie mir gestand, dass sie vom Heilpraktiker „Urtinkturen“ bekomme.
Natürlich gibt es für den Nutzen mancher CAM-Methoden gute Evidenz. Als Beispiel sei hier die Phytotherapie genannt, mit guten Wirksamkeitsbelegen für einzelne Wirkstoffe, wie Johanniskraut zur Behandlung bei leichter und mittelschwerer Depression. Aber der Einsatz von CAM sollte wohlüberlegt und auf der Basis einer guten Ausbildung erfolgen. Wie soll man sich als Hausarzt nun verhalten? Offensichtlich hoffen die Patienten, in der alternativen Versorgung durch Heilpraktiker etwas zu finden, was ihnen bei uns fehlt. Vermutlich geht es vor allem um Zeit und Zuwendung, die wir im 8-Minuten-pro-Patient-Hamsterrad nicht geben können. Zum Wohle der Patienten ist es wichtig, hier offen zu bleiben und auf die Entscheidung für einen Heilpraktiker nicht abwertend zu reagieren. Wenn die Patienten sich kritisiert fühlen, stört das das Vertrauensverhältnis und sie erzählen uns nicht mehr von ihren Parallelbehandlungen. Bei einem offenen Umgang könnten mögliche Synergieeffekte genutzt werden, z. B. durch physiotherapeutische Maßnahmen, über die wir zwar voller Unverständnis den Kopf schütteln möchten, die aber vom Patienten als hilfreich und wohltuend angesehen werden.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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