Häusliche Gewalt – Wie können wir helfen?

In einer repräsentativen Studie der Technischen Universität München wurden rund 3.800 Frauen online zu ihren Erfahrungen in der Zeit strenger Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie befragt. 3,1 % der Frauen gaben an, zu Hause mindestens eine körperliche Auseinandersetzung mit beispielsweise Schlägen erlebt zu haben. 3,6 % der Frauen gaben an, von ihrem Partner vergewaltigt worden zu sein. 3,8 % fühlten sich von ihrem Partner bedroht. Und in 6,5 % der Haushalte wurden Kinder körperlich bestraft. Die Opferzahlen waren deutlich höher, wenn folgende erschwerende Faktoren hinzukamen: Quarantäne der Befragten, akute finanzielle Sorgen, Kurzarbeit oder Verlust des Arbeitsplatzes, Angst oder Depression bei einem Partner oder Kinder unter 10 Jahren, die im Haushalt leben. Nur sehr wenige der betroffenen Frauen haben Hilfsangebote genutzt.

Mit der zunehmenden Lockerung der Infektionsschutz-Maßnahmen wird es für die Betroffenen einfacher, der häuslichen Enge und Gewaltsituation zu entkommen und sich Hilfe zu suchen. Aber Stress und Druck durch finanzielle und organisatorische Sorgen, z. B. durch die zögerliche Öffnung von Schulen und Kitas, bleiben weiter bestehen. Außerdem bestehen bei den Betroffenen psychische Traumata, es kann zu einer PTBS kommen. Hausärzte sollten für dieses Thema sensibilisiert sein, einfühlsam nachfragen und bei Verdacht Hilfe anbieten. Das ist leicht gesagt. Was ist hier das richtige Vorgehen? Was genau ist zu tun, wenn sich Opfer von körperlicher und sexueller Gewalt in der Praxis vorstellen oder wenn der Verdacht auf Kindesmisshandlung besteht?

Unser Artikel Sexualisierte Gewalt bietet konkrete Informationen zum Vorgehen bei Opfern sexueller Gewalt. Hier finden Sie auch Angaben zum Zeitrahmen, in denen eine Spurensicherung und damit eine Überweisung an die Rechtsmedizin sinnvoll ist, zur Notfallkontrazeption, zu erforderlichen körperlichen und serologischen Untersuchungen, zur Postexpositionsprophylaxe gegen sexuell übertragbare Erkrankungen, aber auch zur psychosozialen Beratung in der Akutsituation. Gerade wenn die Gewalttat schon einige Zeit zurückliegt und der Partner der Täter ist, sind solche Maßnahmen gar nicht mehr gewünscht und sinnvoll. Die Betroffenen benötigen in erster Linie (Rechts-) Beratung und Hilfsangebote. Auch Opfer gewalttätiger Auseinandersetzungen mit dem Partner brauchen Informationen zu solchen Angeboten. Ärzte sollten diese Angebote kennen, um hier weitervermitteln können, z. B. an das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen, die Telefonseelsorge oder die Opferinformation häusliche Gewalt der Polizei. In unserem Artikel Posttraumatische Belastungsstörung finden Sie weiterführende Informationen über psychosoziale Beratung und Nachsorge.

Sollten Familien wegen Gewalt gegen Kinder Hilfe in der Praxis suchen oder sich ein Verdacht auf Misshandlung oder Missbrauch ergeben, stellen sich ebenfalls viele Fragen. Wie ist hier vorzugehen? Sind Ärzte hier auch an die Schweigepflicht gebunden? Darf man sich beraten lassen und, wenn ja, von wem? Die Artikel Kindesmisshandlung und Vernachlässigung und Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen enthalten zahlreiche Informationen zum konkreten Vorgehen und zu juristischen Regelungen. Laut Kinderschutzgesetz soll zunächst versucht werden, die Familie zur Inanspruchnahme von Hilfen bewegen. Ist dies nicht möglich können sich Ärzte von einer Fachkraft des Jugendamtes beraten lassen (ohne Patientendaten weiterzugeben). Wenn die Gefahr einer Kindeswohlgefährdung nicht abgewendet werden kann, dürfen Ärzte das Jugendamt informieren. Möglicherweise besteht also zunächst ein Beratungs- und Informationsbedarf bei den Betroffenen. Auch hier sollten wir Ärzte weiterhelfen und zu Beratungsangeboten vermitteln können, z. B. an die NummergegenKummer, das Hilfeportal sexueller Missbrauch oder Kinderschutz-Zentren vor Ort.

Häusliche Gewalt, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch sind sicher keine häufigen Beratungsanlässe in der Hausarztpraxis. Aber sie kommen doch häufiger vor, als den meisten bewusst ist, und werden oft aus Scham verschwiegen. Wenn sich Hilfesuchende an uns wenden, sollten sie keinesfalls auf überforderte und schlecht informierte Ärzte treffen.

 

Marlies Karsch, Chefredakteurin

 

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