Die Nachrichten über die explosionsartige Ausbreitung von SARS-CoV-2 bei osteuropäischen Lohnarbeiter*innen in fleischverarbeitenden Betrieben sind schockierend. Plötzlich wird offenbar, was eigentlich alle schon lange wissen, aber offensichtlich gut ausblenden können: Unser Lebensstil und die damit verbundene Verfügbarkeit äußerst billiger Lebensmittel hat seinen Preis. Irgendjemand muss es möglich machen, dass Fleisch im Supermarkt so wenig kostet. Durch Gedanken an ausgebeutete Arbeitskräfte möchte sich die Mehrheit der Konsument*innen anscheinend nicht den Appetit verderben lassen und nimmt stillschweigend die Nebenwirkungen und Folgen von Billigfleischproduktion in Kauf. Auch preiswerter und in großen Mengen verfügbarer Spargel ist uns anscheinend so wichtig, dass zur Ernte trotz Lockdown Billigarbeiter*innen aus Osteuropa eingeflogen werden mussten, ohne Rücksicht auf die damit verbundene Infektionsgefahr.
Es gibt viele plausible Erklärungsversuche für die Ausbreitung von SARS-CoV-2 in fleischverarbeitenden Betrieben. Die kalte Luft in den Zerlegungshallen begünstigt die Ausbreitung des Virus. Auch körperlich anstrengende Arbeit auf engem Raum ohne Einhaltung der Abstandsregeln erhöht die Ansteckungsraten. Zusätzlich sind die Arbeiter*innen meist in zu kleinen Unterkünften untergebracht, in denen Abstandhalten auch nicht möglich ist. Sprachliche Barrieren erschweren Informationsmöglichkeiten. Dass Dolmetscher*innen für Polnisch, Rumänisch und Bulgarisch erst im Ausbruch zur Aufklärung und Beruhigung der Menschen in Isolation und Quarantäne angefordert wurden, zeigt, dass vorher keine Möglichkeit zur Verständigung angeboten wurde. Die Betroffenen hätten sich auch nicht so einfach gegen ihre Arbeitsbedingungen wehren können: Sie sind bei Subunternehmen angestellt, oft befristet, und ihre Unterkunft gehört in vielen Fällen dem Unternehmen. Bei Beschwerden hätte also die Gefahr bestanden, nicht nur Job, sondern auch Wohnung zu verlieren. Bei den jetzt so zahlreich infizierten Arbeiter*innen handelt es sich um eine durch ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen vulnerable Gruppe. Niedrige Löhne, Sprachbarriere und gesellschaftliche Ausgrenzung bringen die Betroffenen in eine prekäre Situation. Sie benötigen eigentlich besonderen Schutz. Beschämend, dass ihnen dieser Schutz in unserer Gesellschaft nicht gewährt wurde.
Die Arbeitsbedingungen in Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie waren in den letzten Wochen immer wieder Thema in den Medien und haben viel Aufmerksamkeit bekommen. Aber auch in anderen Branchen werden Tagelöhner*innen und Lohnarbeiter*innen aus Osteuropa vorzugsweise „schwarz“, also ohne Krankenversicherung, Unfallversicherung oder soziale Absicherung, beschäftigt. Gerade in Großstädten sind die Betroffenen häufig wohnungslos, weil sie keinen Arbeitsvertrag vorweisen können und die lokalen Mieten sowieso zu hoch sind (siehe hierzu das Thema der Woche 2018-W35). Häufig beuten hier Subunternehmen von Gebäudereinigungsunternehmen oder Baufirmen die Betroffenen aus. Die Ursache liegt aber auch hier in unserer Gesellschaft. Wo öffentliche Bauaufträge immer an Bewerber*innen mit dem billigsten Angebot vergeben werden und an den Kosten für Dienstleistungen massiv gespart wird, werden irgendwann die Arbeitskräfte und ihre Rechte zu einem Faktor, den man einsparen kann. Auch in diesen Bereichen sind die Arbeitnehmer*innen rechtlich und sozial nicht abgesichert und gehören zu einer durch COVID-19 besonders gefährdeten Personengruppe (siehe hierzu das Thema der Woche 2020-W13).
Die „Corona-Krise“ lenkt das Augenmerk auf Schwachstellen unserer Gesellschaft. Hoffentlich führt das in manchen Bereichen zu einem Umdenken oder einer Änderung des Konsumverhaltens. Vielleicht werden ja diejenigen unter uns, die immer noch Fleisch essen, ihren Fleischkonsum einschränken und auf Billigfleisch aus dem Supermarkt verzichten. Es müssen ja nicht alle Vegetarier*innen werden. Aber weniger Fleisch und das dann von regionalen Betrieben, womöglich in Bio-Qualität, wäre gesünder für Konsument*innen und könnte über die Nachfrage Bedingungen für Tiere und Arbeitskräfte verbessern. Generell muss sich in dieser „Krise“ als Konsens durchsetzen, dass jegliche Arbeit ordentlich bezahlt werden muss und Arbeitnehmerrechte nicht eingespart werden können, nur weil wir billigen Spargel essen wollen, Kommunen günstig bauen wollen und Firmen an der Reinigung ihrer Räume geizen. Deutschland ist kein armes Land, unsere Gesellschaft kann es sich leisten, Arbeitskräfte anständig zu behandeln.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
Frühere Themen:
- Corona-Warn-App: Was heißt das in der Praxis?
- Wo darf man was? COVID-19-Lockerungsregeln verwirren
- Häusliche Gewalt – Wie können wir helfen?
- Nitrosamine in Medikamenten: Was läuft da schief?
- Corona: Medizinische Forschung ist auch nicht mehr das, was sie einmal war
- Kochrezept für eine Verschwörungstheorie
- Wissenschaftskrimi: Studie zur Einnahme von Blutdruckmedikamenten gefälscht?
- COVID-19 ist nicht die einzige Krankheit
- COVID-19: Lockerungsübungen
- Was soll bleiben von der Corona-Krise?
- COVID-19: Wir wissen, dass wir noch nicht viel wissen
- Was ist schlimmer als Corona? – Corona im Flüchtlingslager!
- Kontaktbeschränkungen: Wie wir trotzdem aufeinander achten können
- COVID-19 – kein Infektionsschutz für die Bedürftigsten?
- Nachtrag zum Weltfrauentag
- COVID-19 sorgt für Verwirrung und Chaos
- Da war noch was: Influenza
- Thema vieler Wochen: das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2
- Paradigmenwechsel in der Asthmatherapie?
- Schilddrüsensonografie als Teil der Facharztweiterbildung Allgemeinmedizin
- Neue Masernimpfpflicht und neue Masernimpfempfehlungen
- Patienten mit Major Depression: Wenn Hausärzte schlecht sind, wie gut sind dann Psychiater? (M. Kochen)
- Organspende: Ist die Spendenbereitschaft wirklich das Hauptproblem?
- 100 Jahre Prohibition in den USA - Was lernen wir?
- Schwangerschaftsabbruch: §§ 218 und 219 sind nicht mehr zeitgemäß
- Spuren
- Jahresrückblick 2019: ein ereignisreiches Jahr bei Deximed
- Mittel gegen Erkältung
- Landarztquote oder Zwang statt Motivation
- Von nichts kommt nichts: Homöopathie
- Respekt: Das Arzneitelegramm wird 50
- Nationale Versorgungleitlinie Herzinsuffizienz: Was ändert sich?
- Der neueste Aufreger aus dem Hause Spahn
- Wir wissen immer noch zu wenig über Cannabis
- Impfen in Apotheken - Soll der Bock zum Gärtner gemacht werden?
- Wann ist Nikotin endlich out?
- Fleischkonsum unbedenklich – echt jetzt?
- Substitutionstherapie – Wer traut sich das zu?
- Aktuelle DEGAM-Leitlinie: Neue Thrombozytenaggregationshemmer
- Frauen sind keine kleinen Männer
- Und jetzt: Alle for Future!
- Statintherapie bei chronischer KHK: Was ist nun richtig?
- Muss die „Weißkittelhypertonie“ jetzt „Polohemdhochdruck“ heißen?
- Gastritis ist hierzulande eine Krankheit
- Lebensstiländerung ist machbar – dauerhafte Gewichtsabnahme nicht?
- F-Diagnosen und was man damit anrichten kann
- Krankschreibung via Handy – Entlastung oder Einladung zum Betrug?
- Hauptsache natürlich
- Bettwanzen und andere Urlaubsmitbringsel
- Prävention ungesunder Ernährung: Wir brauchen Regeln
- Von der Selbstoptimierung zur Selbstdiagnose
- Aktuelle Palliativmedizin
- Chronische Nierenkrankheit: Was ist neu?
- Homöopathie: Was ist schlecht am Placeboeffekt?
- Unsere Top 10
- Legale Suizidmedikamente: Würdiger Freitod oder doch Trend zum „sozialverträglichen Frühableben“?
- Ist die elektronische Patientenakte wirklich gut durchdacht?
- Ärztliche Beratung im Ramadan
- Hausärzte sind Spezialisten
- Fluorchinolone: Wie vielen Patienten haben wir damit geschadet?
- Adipositas ist nicht gleich Adipositas: Binge-Eating-Störung
- Darf ich mir meine Patienten aussuchen?
- Kostenlose Fortbildungen und Gratishäppchen - Haben wir das wirklich nötig?
- Facharztprüfung Allgemeinmedizin: Auf alle Fälle vorbereitet
- Arztberuf als Selbstschutzmaßnahme
- Das nötige Rüstzeug für eine Beratung zur Organspende
- Ist das „BG-lich“?
- Onkologische Notfälle
- Fakten zur Influenzasaison 2018/19
- Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution – kein Thema für Hausärzte?
- Orthopädie bei Kindern: Wer kennt sich da aus?
- Ist ein Arzt an Bord?
- Ärztliche Leitlinien: Viel hilft viel?
- Wollen wir wirklich eine Impfpflicht?
- Panikstörung: Das Chamäleon der Akutmedizin
- Was heißt hier kommerziell?
- Dünnes Eis: Freunde und Familienmitglieder als Patienten
- Digitale Hybris, intelligente Hilfe
- Weihnachten 2018: Darf man sich was wünschen?
- Rationale Antibiotikatherapie in der Hausarztpraxis
- Krank ins Büro?
- Red Flags und abwendbar gefährliche Verläufe
- Physiotherapie: Herausforderung Hilfsmittel-Verordnung
- Unabhängige Patienteninformationen?
- Iatrogene Krankheitsbilder – wenn die Arzneimitteltherapie krank macht
- Manchmal frustrierend: Schwindelabklärung in der Hausarztpraxis
- Geflüchtete als Patienten in der Hausarztpraxis
- Neue NVL Asthma: wichtige und neue Empfehlungen
- Was kann man noch glauben?
- Nicht ganz banal, aber fast schon alltäglich in der Hausarztpraxis: Erkrankungen bei Tropenrückkehrern
- Neue DEGAM-Leitlinie "Brennen beim Wasserlassen"
- STIKO-Impfempfehlungen: Was ändert sich?
- Warum die DEGAM für uns wichtig ist
- Eine Wissenschaft für sich: die Abrechnung in der Hausarztpraxis
- Sehstörungen: Was kann der Hausarzt tun?
- Für die meisten unsichtbar: die neue Wohnungslosigkeit
- Orale Antikoagulanzien: Was gibt es Neues?
- Zufällig auskultiertes Herzgeräusch – was nun?
- Immer noch ungerecht: Kindergesundheit in Deutschland
- Hitzewelle und Gesundheitsrisiken
- Deximed für die Facharztprüfung Allgemeinmedizin
- Fahrt Rad!
- Neue Leitlinie: Typ-1-Diabetes
- Ausbeutung von PJ-Studenten in Kliniken
- Sonografie in der Hausarztpraxis – Wir haben die Bilder dazu!
- Neues zu HPV
- Cannabis: Stand der Dinge
- Zytomegalie: Haben wir das auf dem Schirm?
- Fernbehandlung: Fluch und Segen der Telemedizin
- Neue DVO-Leitlinie Osteoporose
- Gewalt gegen Ärzte
- Alles gelb: Pollenalarm!
- Neues zu Asthma
- Der Wahnsinn: „Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz“ in Bayern
- Wartezeit auf Psychotherapie: 20 Wochen!
- Das Märchen von der Datensicherheit
- Mein Heilpraktiker ist aber anderer Meinung
- Schwangerschaftsabbrüche – Hilfe ohne Wertung
- Armut macht krank – auch hierzulande
- Erst einmal 112 rufen: Lebensbedrohliche Notfälle in der Hausarztpraxis
- „Da kann nichts passieren, ich fahre die Strecke jeden Tag“ – Beurteilung der Fahreignung
- Alles eine Frage der Definition: Burnout und CFS
- Endokrinologie in der Hausarztpraxis: Schilddrüsenerkrankungen
- Neue DEGAM-Leitlinie: Müdigkeit
- Können Teilzeitärztinnen „richtige“ Hausärzte sein?
- Warum gibt es den Männerschnupfen?
- Influenza: neue Impfempfehlung
- Interkulturelle Kommunikation – Vorsicht Fallstricke!
- Alkohol und sein Platz in unserer Gesellschaft
- Was bleibt, was sich ändert
- Weihnachten als gesundheitliche Herausforderung
- Haben wir die Zeit für Banalitäten?
- Alles Reizdarm
- Das rote Auge in der Hausarztpraxis
- Schlafstörungen: große Erwartungen an die Ärzte
- Gibt es ihn noch, den gesunden Menschen?
- Klimawandel: wir Ärzte sollten dazu etwas sagen
- Drogenkrise in den USA – Betrifft uns das?
- Mit Schnupfen in die Notaufnahme?
- Vorgehen bei somatoformen Störungen: weniger ist mehr
- Häufiger Zufallsbefund: Anämie
- Die neue Leitlinie zum Harnwegsinfekt lässt Fragen offen
- Hausärzte können Palliativmedizin
- Nicht unsere Baustelle? Gynäkologie in der Hausarztpraxis
- Impfempfehlungen der STIKO – Was ist neu?
- EKG-Befunde, wie sie in der Praxis aussehen
- Warum erlaubt Deutschland als letztes EU-Land Außenwerbung für Tabakprodukte?
- Cannabinoide, revisited
- Ärztliche Schweigepflicht – Wann muss, wann darf man eine Ausnahme machen?
- Highlights aus Babybecken, Sandkasten und Kita
- Hautinfektionen – Haben Sie die Bilder dazu im Kopf?
- Hausärztliche Beratung zur kardiovaskulären Prävention – die neue DEGAM-Leitlinie
- Neue Leitlinie: Geriatrisches Assesssment in der Hausarztpraxis
- Bei Kopfschmerz an die Differenzialdiagnosen denken!
- Quartäre Prävention und Vermeidung von Überdiagnostik
- HIV und AIDS: daran denken!
- NVL Kreuzschmerz: Was ist neu?
- Oft nicht ganz eindeutig: Dermatologie in der Hausarztpraxis
- Beratung vor der Reise
- Sommerliche Notfälle in der Hausarztpraxis
- Auch wenn es schwerfällt: Let's talk about sex
- Allgemeinmedizin attraktiver machen – wie geht das?
- Unsere globale Verantwortung: Antibiotikaresistenzen
- Nicht jedermanns Sache: Traumatologie in der Hausarztpraxis und beim Notarzteinsatz
- Off-Label-Use – Was ist zu beachten?
- Mobbing von Schülern und gesundheitliche Folgen
- Demenzdiagnostik in in der Hausarztpraxis
- Wissen, was man tut, und warum
- Der „Mausarm“ und andere Schulter-Arm-Probleme
- iFOBT statt Serienbriefchen
- Achtung Pollenflug
- Nackenschmerzen – ein Wunschkonzert?
- Kollege Dr. House
- TSH – Krankheitsdefinition aus dem Labor?
- Impfpräventable Krankheitsbilder – es gibt sie noch
- Cannabinoide auf Rezept
- Ohrenprobleme
- Die Altenheimvisite
- Wenn der Alltag krank macht
- Ärzte als Patienten
- Gute Vorsätze für das neue Jahr
- There is no free lunch
- Influenza – die Saison ist eröffnet
- Depressionsbehandlung – eine typische Aufgabe des Hausarztes?
- Vitamin D – ein Alleskönner?
- Erkältungszeit
- Evidenzbasierte Medizin aus Norwegen