Immer wieder wird darüber berichtet, dass bei Frauen ein Herzinfarkt später erkannt und behandelt wird als bei Männern. Das geht, heute in geringerem Maße als noch vor wenigen Jahren, mit einer erhöhten Mortalität einher. Diese Unterschiede in der Akutversorgung von Herzinfarkten führten zu frauenspezifischen Leitlinienempfehlungen der AHA. Ursachen dafür sind unter anderem eine unterschiedliche Symptomwahrnehmung bei Frauen, eine eher zurückhaltende Symptomdarstellung in der Notaufnahme und, laut neueren Studienergebnissen, Zögern bei der Benachrichtigung des Rettungsdienstes. Hinzu kommt, laut US-amerikanischen Daten, eine verringerte Überlebensrate, wenn Patientinnen mit akutem Koronarsyndrom von einem männlichen Kardiologen behandelt werden. Am Beispiel des akuten Koronarsyndroms wurde wiederholt deutlich gemacht, dass gendermedizinische Aspekte in der Medizin besser berücksichtigt werden sollten.
Doch was sind eigentlich gendermedizinische Aspekte genau? Uns ist allen bewusst, dass eine akute Zystitis bei Frauen eine andere Diagnostik und Therapie erfordert als bei Männern oder dass Frauen häufiger an Osteoporose und Autoimmunerkrankungen erkranken. Aber was steckt sonst noch dahinter? Da die meisten klinischen Studien überwiegend mit Männern durchgeführt werden, ist über die spezifischen Wirkungen und Nebenwirkungen bei Frauen wenig bekannt. Durch unterschiedlich lange Magen-Darm-Passagen, Unterschiede in der Leberfunktion und einen größeren Körperfettanteil bei Frauen gibt es große geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pharmakokinetik. Es gibt jedoch selten spezielle Dosisangaben für Frauen. Das ist vermutlich ein Grund dafür, dass Frauen häufiger unter unerwünschten Nebenwirkungen von Medikamenten leiden.
Ein weiteres problematisches Beispiel für nicht ausreichend beachtete Genderaspekte ist die Depression: Sie wird bei Frauen deutlich häufiger diagnostiziert und verläuft schwerer. Häufigerer Alkohol- und Drogenkonsum bei Männern und eine um das 3- bis 5-Fache erhöhte Suizidrate bei Männern lassen aber darauf schließen, dass Männer mit Depression häufig unzureichend diagnostiziert und therapiert werden. Als Ursache hierfür wird angenommen, dass es Männern grundsätzlich schwerer fällt, psychische Probleme zuzugeben und Hilfe zu suchen.
Gendermedizin ist für viele Kolleginnen und Kollegen ein Begriff. Aber bis gendermedizinische Aspekte in allen medizinischen und wissenschaftlichen Bereichen selbstverständlich sind, ist noch viel zu tun. Immer noch ist es nicht Normalität, dass bei medizinischen Studien, an denen auch Frauen teilnehmen, eine geschlechtsspezifische Auswertung erfolgt. Auch in der Hochschullehre, dem Ort, an dem ärztlicher Nachwuchs ausgebildet wird, gehört die Gendermedizin noch nicht zu den Grundlagen in der Lehre aller klinischen Fächer. Das wird sich auch nicht nennenswert ändern, so lange die Mehrzahl der Hochschullehrer männlich ist. Die Gleichstellung der Geschlechter, nicht nur im Hochschulbereich, hat aber sogar medizinische Vorteile für Männer: Laut aktuellen Daten ist eine bessere gesellschaftliche Gleichstellung von Männern und Frauen mit einer höheren Lebenserwartung bei Männern assoziiert.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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