Fluorchinolone: Wie vielen Patienten haben wir damit geschadet?

Im Oktober 2018 wurden wir in einem Rote-Hand-Brief darüber informiert, dass Fluorchinolone das Risiko für Aortenaneurysmen und -dissektionen erhöhen und deswegen bei Patienten mit einem erhöhten Risiko für diese Erkrankungen nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung angewendet werden sollten. Dazu gehören, neben Patienten mit bekanntem Aortenaneurysma oder einer Aortendissektion, vor allem Patienten mit Hypertonie und Arteriosklerose, also eine sehr große Patientengruppe.

Im April 2019 folgte dann ein weiterer Rote-Hand-Brief mit Anwendungsbeschränkungen für Fluorchinolone. Jetzt sollen diese Antibiotika aufgrund von schwerwiegenden Nebenwirkungen, wie Sehnenrupturen, Tendinitiden, Myalgien, Muskelschwäche, Gelenkschmerzen und -schwellungen, Gangstörungen, periphere Neuropathien, Schlaflosigkeit, Depression und einigen mehr nur noch eingeschränkt verordnet werden. Fluorchinolone sollen damit nicht mehr bei leichten bis mittelschweren Infektionen angewendet werden. Was unter „leicht“ oder „mittelschwer“ zu verstehen ist, wird allerdings nicht näher beschrieben. Explizit erwähnt sind akute Otitis media, Tonsillitis, exazerbierte COPD und akute bakterielle Rhinosinusitis als Krankheitsbilder, bei denen Fluorchinolone nicht verschrieben werden sollen. Besondere Vorsicht ist bei älteren Patienten, eingeschränkter Nierenfunktion, nach einer Organtransplantation oder bei gleichzeitiger Kortikosteroideinnahme geboten. Da Fluorchinolone noch in vielen Leitlinien zumindest als Reservemedikamente empfohlen sind, haben wir in alle unsere Artikel, in denen Fluorchinolone als Therapieoption in Leitlinien erwähnt werden, einen Warnhinweis zu den neuen Anwendungsbeschränkungen eingefügt, z. B. in unseren Artikeln Rationale Antibiotikatherapie in der Hausarztpraxis, Pneumonie, komplizierte Harnwegsinfektion oder Erysipel.

Mir stellt sich, vermutlich genau wie Ihnen, jetzt schon die Frage: Warum kommen diese Erkenntnisse und Anwendungsbeschränkungen erst jetzt? Fluorchinolone gibt es seit den 1980er-Jahren. Wieso hat man das alles nicht schon viel früher herausgefunden, bzw. offiziell bekannt gemacht? In meiner Weiterbildungszeit in der Klinik wurden diese Wirkstoffe noch „wie Bonbons“ an die Patienten verteilt. In den letzten Jahren ist man schon vorsichtiger geworden, nicht zuletzt auch wegen wiederholter Hinweise auf schwerwiegende Nebenwirkungen (auf die z. B. im Arznei-Telegramm aufmerksam gemacht wurde) und daraufhin zurückhaltenderer Leitlinienempfehlungen. Aber im Laufe der Jahre haben die meisten von uns doch einige Patienten mit Fluorchinolonen behandelt und das im guten Glauben, das Richtige zu tun. Wie vielen Patienten haben wir damit geschadet? Wie viele Patienten hatten oder haben jetzt aufgrund unserer Behandlung schwerwiegende Probleme mit dem Bewegungsapparat, ihrer Psyche oder ihrem peripheren Nervensystem? Dass uns das keiner so genau sagen kann, ist klar, und genau das fühlt sich nicht gut an.

Marlies Karsch, Chefredakteurin

 

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