Kaum wahrgenommen von der Öffentlichkeit hierzulande wurde in den USA ein Skandal vor Gericht verhandelt, der uns allen die abgründigen Möglichkeiten der Einflussnahme auf ärztliches Handeln aufzeigt. In der aktuellen Ausgabe von „Arzneiverordnung in der Praxis“ der AkdÄ wird vom Prozess gegen eine US-amerikanische IT-Firma berichtet, die kostenlose Software für elektronische Patientenakten entwickelt.
Gegen eine erhebliche Schmiergeldzahlung hat das Unternehmen zusammen mit einem Pharmahersteller opioidhaltiger Schmerzmittel eine Entscheidungshilfe entwickelt, die Ärzt*innen dazu verleiten sollte, in der Schmerztherapie mehr Opioide mit verlängerter Wirkstofffreisetzung zu verordnen. Dabei wurde von den evidenzbasierten Grundsätzen der Schmerzbehandlung abgewichen. Diese Medikamente wurden von der Software bereits für Betroffene mit nicht schweren Schmerzen empfohlen, bei denen nicht-opioidhaltige Schmerzmittel oder schnell wirksame Opioide angemessen gewesen wären. Der Plan ging auf und die Verordnung dieser Präparate nahm zu, genau auf dem Höhepunkt der Opioidkrise in den USA. Die Entscheidungshilfe wurde von 2016 bis 2019 230 Mio. Mal angewendet.
Wie groß der Schaden für die jetzt opioidabhängigen Menschen in den USA durch genau diese Manipulationen ist, lässt sich nicht messen. Es ist aber allgemein bekannt, dass erhebliche menschliche und gesellschaftliche Probleme durch die in den USA von Pharmaherstellern verschuldete Opioidkrise verursacht wurden.
Seit ein paar Jahren herrscht Goldgräberstimmung in der IT-Branche. Die Digitalisierung im medizinischen Bereich schreitet auch in Deutschland voran und die Möglichkeiten zum Geldverdienen erscheinen unbegrenzt. Nicht nur Praxissoftware für den Alltag, elektronische Patientenakten und Fitness- und Gesundheits-Apps für Verbraucher*innen sind ein attraktives Geschäftsfeld. Es geistert auch in vielen Köpfen die Idee herum, dass ärztliches Denken und Handeln sowie ärztliche Entscheidungsfindung durch Algorithmen oder gar künstliche Intelligenz „unterstützt“ oder besser gleich ganz übernommen werden kann. Dass die Entscheidungen, die Ärzt*innen in ihrem Alltag treffen, hochkomplex sind und nicht ohne weiteres an einen Algorithmus delegiert werden können, zeigen beispielsweise die vom Arzneimittelbrief berichteten Ergebnisse einer Interventionsstudie zu digitaler Unterstützung beim Management von Multimedikation.
Doch das Beispiel aus den USA macht klar, warum diese Idee für viele Softwareentwickler weiterhin so attraktiv erscheint: Digitale Arztalgorithmen und Entscheidungshilfen können sehr gut durch fremde Interessen beeinflusst werden. „Digitale Ärzt*innen“ hinterfragen nicht kritisch und können so zu erwünschten Ergebnissen gelenkt werden. Es eröffnen sich also wirklich interessante Geschäftsfelder, auch für die Pharmahersteller. Eigentlich ist allen klar: Wenn es eine Möglichkeit gibt, Ärzt*innen im Sinne bestimmter (Industrie-) Interessen zu manipulieren, dann wird diese auch genutzt. Das gilt nicht nur für Software. Wir können nur eines tun, nämlich besonders kostenlosen Angeboten aller Art mit einem gesunden Misstrauen zu begegnen. Denn, wie wir bei Deximed immer betonen, nichts ist umsonst!
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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