Bund und Länder haben eine bundesweite Lockerung der Einschränkungen durch den Lockdown beschlossen. Dabei geht es wie immer föderal und komplett uneinheitlich zu. Die einen Bundesländer öffnen die Läden und Schulen früher als andere, und Bayern gestattet jetzt Kontakt mit einer nicht dem Haushalt zugehörigen Person im Freien, wie es allen anderen Bundesländern immer erlaubt war. Die Maskenpflicht, über deren Sinn und Unsinn eifrig debattiert wird, gilt jetzt bundesweit in Geschäften und im ÖPNV. Viele Virologen und Epidemiologen sehen diese Lockerungen kritisch und befürchten, dass es dadurch zu einer zweiten Welle der COVID-19-Pandemie kommt. Auf der anderen Seite stehen die Befürworter der Lockerung, die hoffen Klein- und Großunternehmer vor der Insolvenz und Angestellte vor der Arbeitslosigkeit bewahren zu können. Sie sehen angesichts der rückläufigen Infektionszahlen nach Ostern Anlass zur Hoffnung, dass sich die Epidemie bereits ihrem Ende zuneigt.
Dabei werden einige Aspekte nicht bedacht, beispielsweise dass der Rückgang der Zahlen nach Ostern zumindest teilweise ein Artefakt sein könnte, ausgelöst durch geringere Testraten über die Feiertage und einen immer noch bestehenden Meldeverzug. Außerdem scheint nur wenigen an der öffentlichen Debatte über die Lockerungsmaßnahmen Beteiligten bewusst zu sein, dass die Zahlen, die wir heute haben, immer nur ein Bild aus der Vergangenheit darstellen. Durch Inkubationszeit, Zögern der Betroffenen, ärztliche Hilfe zu suchen, Wartezeit auf das Testergebnis und oft erheblichen Meldeverzug an das RKI haben wir nur eine Vorstellung davon, wie die epidemiologische Lage vor einigen Tagen bis zwei Wochen war. Jeder Anstieg der Infektionsrate kann nur stark verzögert dargestellt werden.
Jeder Lockdown und jede Lockerung der Einschränkungen stellen in allen Ländern ein gigantisches Massenexperiment dar. Keiner hat eine derartige Pandemie jemals erlebt, und das Wissen über das Verhalten von SARS-CoV-2 ist viel geringer als wir glauben. Noch immer ist nicht sicher bekannt, wie dauerhaft eine Immunität ist, wie viele asymptomatische Infizierte es tatsächlich gibt, wie lange Infizierte wirklich für andere infektiös sind und über welche exakten Mechanismen das Virus zu schweren und tödlichen Verläufen führen kann. Wir können aus dem Vorgehen anderer Länder lernen, aber letztendlich sind die Situationen nicht immer vergleichbar. Wir haben gesehen, dass ein bewusster Verzicht auf einen initialen Lockdown wie in Schweden zu hohen Todesraten führen kann und wohl nicht empfehlenswert ist. In Italien kamen die Einschränkungen wohl zu spät, um die Epidemie aufzuhalten. Und in Singapur wurde durch strenge Kontaktverbote zwar die einheimische Bevölkerung geschützt, die in Massenunterkünften eingepferchten Lohnarbeiter aus anderen Ländern aber nicht. Wie sich die Lockerung erfolgreicher Eindämmungsmaßnahmen auch in anderen Ländern auswirkt, muss man abwarten.
Deutschland wird wegen seiner geringen COVID-19 Todesraten weltweit beneidet und bewundert. Es war die Rede vom erfolgreichen „deutschen Weg“. Warum die Letalität hierzulande bisher so gering war, ist nicht eindeutig geklärt. Aber es gibt verschiedene Erklärungsversuche: Als die Zahlen in Süddeutschland stiegen, waren besonders junge und sportliche Patienten betroffen, die das Virus aus dem Skiurlaub in Tirol und Südtirol mitgebracht haben. Das heißt, es gab viele Erkrankte, die keiner Risikogruppe angehörten, deswegen war die Letalität gering. Da in Deutschland weniger in Großfamilien zusammengelebt wird und viele ältere und demente Familienangehörige in Pflegeeinrichtungen leben, waren sie als Hochrisikopatienten zu Beginn nicht betroffen und wurden dann durch die Kontaktverbote geschützt. Mittlererweise sind laut RKI aber 19 % der Fälle 70 Jahre oder älter. Aufgrund der oben beschriebenen Verzögerungen, bis Erkrankte und Todesfälle in der Statistik erscheinen, kann es sein, dass diese Zahlen bereits weiter angestiegen sind. Wie sich die Lockerungsmaßnahmen auf den Verlauf der Pandemie und die bisher geringe Letalität in Deutschland auswirken werden, weiß niemand. Klar ist nur, dass es im Fall einer „zweiten Welle“ schwer wird, zum alten Lockdown zurückzukehren.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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