Im Gesundheitssystem wurde in den letzten Wochen so stark auf COVID-19 und den zu erwartenden Ansturm Schwerstkranker fokussiert, dass es für die Bevölkerung den Anschein machte, andere Erkrankungen und gesundheitliche Probleme seien nicht nur seltener geworden, sondern auch weniger relevant. Intensivbetten wurden freigehalten, und elektive Operationen waren verboten. Welche Operationen genau als „elektiv" anzusehen waren und warum, blieb Patienten und Zuweisern oft unklar. Die Anzahl der behandelten Herzinfarkte und Schlaganfälle ist jedenfalls in den letzten Wochen zurückgegangen. Dies gilt auch für Arztbesuche aufgrund chronischer Erkrankungen. Es ist nicht anzunehmen, dass durch die Kontakt- und Versorgungsbeschränkungen nur noch die wirklich ernsten Erkrankungen zur Behandlung kamen und nur überflüssige Arztkontakte wegfielen. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass es in den letzten Wochen zu einer Fehl- und Unterversorgung kam.
Viele Patienten mit vorbekannten Erkrankungen wie Migräne, rheumatoider Arthritis, oder chronischen Beschwerden durch Gon- oder Coxarthrose haben darauf verzichtet oder sich wegen Angst vor Ansteckung nicht getraut, ihre Hausärzte aufzusuchen. Zahlreiche Verlaufskontrollen bei chronischen Erkrankungen, wie COPD und Typ-2-Diabetes, wurden verschoben. Hunderttausende Patienten warten auf ihre stationäre Behandlung im Krankenhaus, verschobene Operationen und invasive Untersuchungen. Wie viele Patienten mit welchen Krankheitsbildern genau davon betroffen sind, ist nicht bekannt. Ob und wie sich das auf die Krankheitslast der Bevölkerung auswirkt, sollte wissenschaftlich untersucht werden. Laut Bundesgesundheitsministerium sollen die Kliniken nach und nach wieder planbare Operationen durchführen dürfen. Dies soll „schrittweise“ geplant werden. Da Rehakliniken und ambulante Rehaeinrichtungen wegen der Pandemie ebenfalls geschlossen wurden, sind Patienten z. B. nach Schlaganfall oder Rückenmarksverletzung unversorgt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft fordert, dass Rehakliniken ihren Betrieb wieder aufnehmen.
Auch banalere Erkrankungen wurden wegen der Empfehlung, unnötige Arztbesuche zu vermeiden, entweder nicht oder durch die Patienten selbst behandelt. Hört man sich im Familien- und Bekanntenkreis um, dann scheinen die derzeit im Vordergrund stehenden Erkrankungen die allergische Rhinitis und das allergische Asthma zu sein. Unter den Patienten ist kaum jemand mehr mit wirklichen Erkältungssymptomen. Viele sind unsicher, ob die eigentlich vorbekannten und immer zur selben Jahreszeit auftretenden allergischen Atemwegssymptome nicht doch durch COVID-19 verursacht sein könnten. Diese Frage greift unser Patientenartikel zu COVID-19 jetzt auf. Hier werden die Unterschiede zwischen typischen Allergiesymptomen und COVID-19-verdächtigen Symptomen erklärt. Manchen Betroffenen muss erklärt werden, dass vorbekannte Allergiesymptome der Atemwege nicht die Symptome sind, wegen der eine freiwillige Heimisolierung empfohlen ist. Allerdings finden manche Pollenallergiker das Tragen einer Maske im Freien sogar hilfreich und wirksam gegen ihre Allergie.
Da COVID-19 nicht die einzige Erkrankung ist, haben einige medizinische Fachgesellschaften Leitlinien, Leitfäden oder Empfehlungen zum Umgang mit verschiedenen Krankheitsbildern im Zusammenhang mit der Pandemie herausgegeben. Beispielsweise bietet die GINA Empfehlungen zur Asthmatherapie, die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie Empfehlungen für die Versorgung onkologischer Patienten und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Empfehlungen für spezielle Präventionsmaßnahmen in der geburtshilflichen Versorgung. Der Deutsche Rat für Wiederbelebung hat eine Stellungnahme zu Wiederbelebungsmaßnahmen im Umfeld der COVID-19-Pandemie herausgegeben. Diese und weitere Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften finden Sie in unserem Arztartikel COVID-19.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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