Im aktuellen Arzneimittelbrief wird ein Artikel von John Ioannidis diskutiert, in dem er die Industrienähe der kardiologischen Fachgesellschaften AHA und ESC kritisiert und fordert, dass Leitlinien zukünftig von Methodikern und unabhängigen Spezialisten erstellt werden sollten. Dieser Artikel macht nachdenklich, und man fragt sich, wie die Situation bei den deutschen Leitlinien ist. Sind unsere ärztlichen Leitlinien von unabhängigen Autoren erstellt, und können wir uns auf deren Empfehlungen wirklich verlassen?
Die Leitlinienentwicklung von deutschen medizinischen Fachgesellschaften wird unter Einhaltung von formalen und qualitativen Standards durch die Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) koordiniert und die fertigen aktuellen Leitlinien online im Volltext zur Verfügung gestellt (www.awmf.org). Es ist wohl ein Ausdruck des deutschen Pluralismus, dass bei der AWMF sage und schreibe 745 aktuelle ärztliche Leitlinien unterschiedlicher Entwicklungsstufen publiziert sind, inklusive der 7 Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) zu den Themen Diabetes mellitus Typ 2, chronische KHK, Asthma, COPD, Herzinsuffizienz, Depression und Kreuzschmerz.
In großer Zahl hinzu kommen die Leitlinien von Fachgesellschaften, die nicht bei der AWMF erschienen sind, z. B. weil sie den formalen Kriterien nicht entsprechen. Da der Begriff „Leitlinie“ nicht geschützt ist, kann eigentlich jede Fachgesellschaft oder Expertenrunde ebenfalls noch weitere „Leitlinien“ ins Spiel bringen.
Wir sind also hierzulande rein zahlenmäßig recht gut mit Leitlinien versorgt. Nur, wer kann etwas mit wahrscheinlich über 1.000 Leitlinien anfangen, zumal die Texte in der Regel sperrig und umständlich zu lesen sind? Wie verlässlich sind die Empfehlungen in den Leitlinien und noch wichtiger: wie verpflichtend? In Deutschland herrscht Therapiefreiheit. Das heißt, die behandelnden Ärzte entscheiden, welche Diagnostik und Therapie sie anwenden. Die Leitlinien haben lediglich einen Empfehlungscharakter, sind aber nicht verbindlich wie Richtlinien. Die Ärzte dürfen und sollen die Anwendbarkeit und Eignung von Leitlinienempfehlungen also im Einzelfall abwägen und dürfen in begründeten Fällen davon abweichen. Nur, wie sollen wir also im hektischen Alltag die Einschätzung und Unabhängigkeit von Fachgesellschaften, Experten und Spezialisten bewerten? Ist uns mit einem derartigen Wust an unterschiedlichen Leitlinien mit teilweise schwer einschätzbarer Qualität überhaupt geholfen?
Wir von Deximed haben uns das Ziel gesetzt, das doch recht unübersichtliche und schwer zu lesende Leitlinienwissen in gut lesbarer Form aufzubereiten und in unseren Fachartikeln darzustellen. Dabei achten wir besonders darauf, dass die Empfehlungen für die Hausarztpraxis relevant sind. Bei der Gewichtung widersprüchlicher Empfehlungen unterschiedlicher Fachgesellschaften und der Qualität von Leitlinien werden wir von unserem wissenschaftlichen Beirat unterstützt. Auf unserer Leitlinienseite sehen Sie, welche Leitlinien wir berücksichtigt haben, und werden zu Leitlinienwatch weitergeleitet, wo Sie sich selbst ein Bild zu manchen Kontroversen und eventuellen Interessenskonflikten von Autoren machen können. So unterstützen wir Sie dabei, relevantes Leitlinienwissen in Ihrem Praxisalltag anzuwenden und den Überblick nicht zu verlieren.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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