Unser neuer Gesundheitsminister bezweifelt, dass es in Deutschland Armut gibt. Wir Hausärzte können nur sagen: Ja, die gibt es, und wir sehen sie bei unserer täglichen Arbeit. Bei Hausbesuchen kommen wir in ärmliche Wohnungen, wo alte Menschen von ihrer spärlichen Rente ein sehr karges Leben fristen. In unsere Praxen kommen Menschen, die akut von Armut bedroht sind, z .B. in Vollzeit arbeitende alleinerziehende Mütter mit drei Kindern, die alles tun, um nicht bei Hartz IV zu landen, oder völlig überarbeitete Kleinunternehmer, die kurz vor der Pleite stehen. Diese Lebenssituationen machen krank. Die Betroffenen haben weder die Zeit noch die Kraft, sich um ihr Übergewicht und ihren hohen Blutdruck zu kümmern oder sich nachhaltig das Rauchen abzugewöhnen.
Diese Patienten wollen auch oft bei akuter Erkrankung nicht krankgeschrieben werden, damit sich ihre berufliche Situation nicht noch verschärft. Akute Infekte der Atemwege werden nicht auskuriert, und die Patienten sind dauernd gesundheitlich angeschlagen. In dieser Weise belastende und stressige Lebensumstände können auch zu psychischen Problemen wie Burnout oder Depression führen. Auch Alkoholmissbrauch und Alkoholsucht können Folgen einer derartigen Dauerbelastung sein.
Oft leben alte Menschen, nicht nur in der Großstadt, unter erbärmlichen Bedingungen in Wohnungen mit unzureichenden sanitären Einrichtungen, leerem Kühlschrank und, aus Kostengründen, nur einem beheizten Zimmer. Tatsächlich sind in diesen Wohnumgebungen nicht selten überforderte betagte Patienten mit Mangelernährung, Dehydrierung, Verwahrlosung, diversen Hauterkrankungen (z.B. Skabies, diabetische Ulzera), beginnender Demenz und anderen bisher nicht behandelten schweren Erkrankungen zu versorgen. Bei akuter Erkrankung (z. B. Synkope in der Wohnung, Schlaganfall, Herzinfarkt), kann es sein, dass es niemand bemerkt und Hilfe zu spät oder gar nicht kommt. Für eine Haushaltshilfe, einen Pflegedienst oder einen Umzug in eine Pflegeeinrichtung reichen oft weder die organisatorischen Fähigkeiten noch die finanziellen Möglichkeiten.
Diese Szenarien gehören zum ärztlichen Alltag. Bei einer Diskussion über die Existenz von Armut in Deutschland sollten diese Menschen, unsere schwächsten Patienten, nicht vergessen werden.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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