Choosing Wisely (Klug entscheiden)

Grundlagen

  • Überversorgung – sowohl in Form von Diagnostik ohne hinreichende Aussagekraft (Überdiagnostik) als auch von therapeutischen Maßnahmen ohne gesicherten Nutzen (Übertherapie) – ist seit Langem als ein ernstes Gesundheitsproblem in den Industriestaaten anerkannt.
  • Dies gilt nicht nur aus epidemiologischer Sicht: Auch Ärzt*innen selbst bekennen, dass sie regelmäßig Maßnahmen durchführen, die „eigentlich“ medizinisch unbegründet sind. In einer Umfrage der DGIM etwa erklärten von 4.181 Internist*innen 44,5 %, „überflüssige Leistungen“ kämen in ihrem Zuständigkeitsbereich mehrmals pro Woche vor, 28,5 % sogar mehr als einmal am Tag.1
  • Gründe für medizinisch unbegründete Maßnahmen können sein:
    • Patientenwünsche
    • Kollegenwünsche („steht auf dem Entlassungsbrief“)
    • Gewohnheitsmäßiges Festhalten an Maßnahmen, deren Nutzen mittlerweile widerlegt wurde.
    • intensive Bewerbung neuer Maßnahmen mit unzureichend dokumentiertem Nutzen
    • ökonomische Anreize
    • juristische Bedenken
    • Probleme, „Nichtstun“ zu begründen.
  • Um dem letztgenannten Problem abzuhelfen, gründete 2012 das American Board of Internal Medicine die Initiative Choosing Wisely. Fachgesellschaften wurden aufgefordert, jeweils 5 Maßnahmen zu benennen, die in ihrem Fachgebiet mit guten Gründen seltener oder nicht angewandt werden sollten.2 Mittlerweile haben sich mehr als 70 amerikanische Fachgesellschaften mit Top-Five- oder ausführlicheren Listen angeschlossen.
  • In Deutschland wurde die Initiative 2013 vom DNEbM (Deutsches Netzwerk für evidenzbasierte Medizin) unter dem Titel „Gemeinsam klug entscheiden“ adaptiert und 2015 von der AWMF übernommen. Die DEGAM hat unter dem Titel „Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden“ ein S3-Leitlinienvorhaben angemeldet und dazu Hausärzt*innen und Leitlinienautor*innen nach ihren Prioritäten zu unterlassender Maßnahmen befragt. Die DGIM hat unter dem Titel Klug entscheiden sowohl Negativ- als auch Positiv-Empfehlungen für alle internistischen Fachgebiete veröffentlicht. 

Empfehlungen

(Angegeben sind jeweils Links zu Artikeln in Deximed, in denen die jeweilige Empfehlung enthalten ist.)

  • Die Top-15-Empfehlungen der American Academy of Family Physicians lauten:
    1. keine radiologische Diagnostik bei Rückenschmerzen ohne Warnhinweise innerhalb der ersten 6 Wochen
    2. keine routinemäßige Antibiotikagabe bei leichter bis mittelschwerer Sinusitis
    3. kein Screening auf Osteoporose (DEXA) bei Frauen < 65 J. (Männer < 70 J.) ohne Risikofaktoren
    4. kein EKG (oder anderes kardiales Screening) für Patient*innen mit niedrigem kardiovaskulären Risiko (10-year risk < 10 %)
    5. kein PAP-Abstrich bei Frauen unter 21 Jahren (und über 69 Jahre)
    6. keine elektive, medizinisch unbegründete Weheneinleitung oder Kaiserschnitt vor der 39. Gestationswoche
    7. elektive, medizinisch unbegründete Weheneinleitung im Gestationsalter zwischen 39 und 41 Wochen nur bei ausreichender Zervixentwicklung
    8. kein Screening für Karotisstenose bei asymptomatischen Erwachsenen
    9. kein Zervixkarzinom-Screening bei Frauen > 65 J. mit ausreichender Screeningvorgeschichte und ohne zusätzliche Risikofaktoren
    10. kein HPV-Screening bei der Zervixkarzinom-Vorsorge bei Frauen < 30 J.
    11. Aufschieben der Antibiotikagabe bei Otitis media bei Kindern (2–12 J.), wenn Beobachtung durchführbar ist.
    12. keine Zysturethrografie nach einmaliger febriler Harnwegsinfektion bei Kindern 2–24 Mon.
    13. kein routinemäßiges Prostatakarzinom-Screening mittels PSA oder digital-rektaler Untersuchung
    14. kein Skoliose-Screening bei Jugendlichen
    15. keine gynäkologische Untersuchung als Voraussetzung der Kontrazeptiva-Verschreibung.
  • Die Top Five der Society of General Internal Medicine lauten:
    1. keine tägliche Blutglukose-Bestimmung bei Patienten mit Typ-2-Diabetes ohne Insulinbehandlung
    2. keine Routine-Gesundheitsuntersuchungen bei asymptomatischen Erwachsenen
    3. keine routinemäßige präoperative Diagnostik bei Operationen mit geringem Risiko
    4. keine Krebsvorsorge bei Erwachsenen mit einer statistischen Lebenserwartung von < 10 J.
    5. Zentralvenöse Katheter nur kurz und für definierte Indikationen belassen.
  • Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hat unter dem Titel Klug Entscheiden zahlreiche Negativ-Empfehlungen für alle internistischen Fachgebiete veröffentlicht. Eine Auswahl für hausärztliche Internist*innen3 lautet:
    • keine Antibiotika bei unkomplizierten akuten oberen Atemwegsinfektionen inkl. Bronchitis
    • keine Antibiotika bei asymptomatischer Bakteriurie
    • Erhöhtes CRP oder OCT allein ist keine Indikation für Antibiotikatherapie.
    • kein Ultraschall-Screening der Schilddrüse bei älteren Menschen
    • keine Dauertherapie der Struma nodosa mit Levothyroxin
    • keine ambulante Fortführung einer stationären Sauerstoffterapie ohne Nachweis der Hypoxämie
    • keine dauerhafte Embolieprophylaxe nach VTE bei heterozygotem Faktor-V-Leiden oder Prothrombinpolymorphismus
    • keine zusätzliche Thrombozytenhemmung bei Antikoagulation wegen PAVK
    • keine Borrellien-Serologie ohne typische Anamnese und Klinik
    • keine langfristige Kortikoidgabe > 5 mg/d Prednisolonäquivalent
    • Kein FOBT bei Personen, die an der Koloskopievorsorge/-früherkennung teilnehmen.
    • keine massive orale Flüssigkeitszufuhr zur Verbesserung der Nierenfunktion
    • keine regelmäßige NSAR-Gabe bei Patient*innen mit Hypertonie oder CKD jeder Genese, inkl. Diabetes
    • Benzodiazepine und andere Sedativa sind nicht Mittel der 1. Wahl bei Schlafstörungen, Agitation oder Delir bei älteren Menschen.
  • Im Gegenzug benennt die DGIM-Initiative aber auch Positiv-Empfehlungen, bei denen von einer Unterversorgung in Deutschland ausgegangen wird. Hier wiederum die Auswahl für Hausärzt*innen:3
    • Influenzaimpfung > 60 J., bei erhöhter Gesundheitsgefährdung oder Exposition sowie bei Kontakten von Risikopersonen
    • Osteoporosetherapie nach typischen Frakturen
    • Diabetes-Schulung
    • Lungenfunktionsmessung bei Raucher*innen
    • Influenza- und Pneumokokkenimpfung bei Patient*innen > 60 J. mit chronischen Lungenerkrankungen
    • Bauchaortenaneurysma-Screening bei Männern > 65 J.
    • jährliche Reevaluation einer Embolieprohyöaxe nach VTE
    • Gefäßdiagnostik vor komplexer Wundtherapie chronischer Beinulzera
    • Colchicin bei Einleitung einer harnsäuresenkenden Therapie bei Gicht
    • Mineralokortikoidrezeptor-Antagonisten bei chronischer systolischer Herzinsuffizienz
    • Lebersonografie zum HCC-Screening bei HCV-assoziierter Leberzirrhose, HBV und Fettleberhepatitis
    • Verlaufskontrolle von Kreatinin und Urinstatus bei Risikopatient*innen
    • Abwägung des Nutzens einer Röntgen-/MRT-Kontrastmittelgabe gegenüber Risiken bei GFR < 30 ml/min
    • spezifische palliativmedizinische Versorgung bei Malignomen in palliativer Situation
    • Osteoporose-Therapie bei älteren Patient*innen
    • Laxanzien bei opioidbedingter Obstipation.
  • Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) hat die folgenden „Not-to-do“-Empfehlungen ausgearbeitet:
    • keine Antikoagulation bei Vorhofflimmern und niedrigem Schlaganfall-Risiko
    • keine „Vorsorge“-Koronar-CTA bei asymptomatischen Personen mit niedrigem Koronarrisiko
    • keine „Kontroll-Koronarografie“ nach unkomplizierter Koronarintervention
    • keine „frühe“ (< 40 Tage) primärpräventive ICD-Implantation nach Myokardinfarkt
    • verbunden mit den folgenden „To-do“-Empfehlungen:

Einschränkungen und Kritik

  • In allen deutschen Initiativen wird betont, dass sich die Kritik an Über- nicht von der Kritik an Unterversorgung (Maßnahmen, deren Nutzen erwiesen ist, die jedoch allgemein oder in bestimmten Patientengruppen nicht ausreichend durchgeführt werden) trennen lässt.
  • Selbstverständlich kann eine Top-Five-Liste nicht das ganze Problem der Überversorgung lösen. Der Sinn von Choosing Wisely kann nur darin liegen, Ärzt*innen und Patient*innen für die Frage der Sinnhaftigkeit häufiger Maßnahmen zu sensibilisieren.
  • An den amerikanischen Listen wird kritisiert, dass sie überwiegend durch Expertenkonsens entstanden und nicht evidenzbasiert sind.
  • Einer derartigen Empfehlung zu folgen kann nicht heißen, Patient*innen Leistungen autoritativ vorzuenthalten. Deshalb haben einige deutschsprachigen Initiativen die Forderung „klug entscheiden“ um das Wort „gemeinsam“ erweitert. Nur in der gemeinsamen Entscheidungsfindung können Patient*innen beschließen, dass es in ihrem Interesse ist, eine Untersuchung oder Therapie zu unterlassen. Dazu müssen noch ausreichende, verständliche deutschsprachige Informationen zur Verfügung gestellt werden.
    • Am Beispiel der Top-1-Empfehlung der AAFP: Die Information, dass in MR-Aufnahmen von Menschen ohne Rückenschmerzen bei 91 % degenerative Bandscheibenschäden und bei 64 % eine Diskus-Vorwölbung gefunden wurde,4 könnte Patient*innen mit Rückenschmerzen dazu bringen, den Nutzen einer MRT infrage zu stellen.
    • In einigen Fällen kann allerdings auch das Schweigen über mögliche, aber nicht sinnvolle Maßnahmen geboten sein; vgl. die Empfehlung der DEGAM, die Früherkennungsuntersuchung mittels PSA im hausärztlichen Setting nicht aktiv anzusprechen.5
    • Umfangreiche Patienteninformationen und Hinweise zur Kommunikation auf Englisch finden sich auf der amerikanischen (in Zusammenarbeit mit Consumer Reports) und der kanadischen Choosing-Wisely-Website.

Illustrationen

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Plakat der kanadischen Choosing-Wisely-Initiative

Quellen 

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Wie Internisten das Problem von Über- und Unterversorgung werten. Mitgliederbefragung zu "Klug Entscheiden". DÄB 2016; 113 (13): A604-6. www.dgim.de
  2. Brody H. Medicine's Ethical Responsibility for Health Care Reform — The Top Five List. NEJM 2010; 362: 283-5. doi:10.1056/NEJMp0911423 DOI
  3. Schorlepp M, Chenchanna-Merzhäuser M. Klug Entscheiden Empfehlungen. Auswahl für Hausärztliche Internisten. Stand 04.10.2018. Typoskript
  4. Jensen MC, Brant-Zawadzki MN, Obuchowski N, Modic MT, Malkasian D, Ross JS. Magnetic resonance imaging of the lumbar spine in people without back pain. NEJM 1994; 331(2): 69-73. pmid: 8208267 PubMed
  5. Sondervotum der DEGAM in: Deutsche Gesellschaft für Urologie. Prostatakarzinom; Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien. AMWF-Leitlinie 043-022OL, S. 32. www.awmf.org
  6. Klug entscheiden. Eine Initiative der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e. V. (DGIM) www.klug-entscheiden.com

Autoren

  • Klaus Reinhardt, Dr. med., Geschäftsführer Gesinform GmbH
  • Ich danke Guido Schmiemann für die Überlassung der Folien zu seinem Vortrag auf dem Bremer Hausärztetag 16.11.2016.

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