Reaktive Arthritiden

Zusammenfassung

  • Definition:Immunologisch vermittelte Arthritis durch vorangegangenen, gelenkfernen bakteriellen Infekt bei meist genetisch prädisponierten Personen (HLA-B27-positiv).
  • Häufigkeit:In Deutschland Prävalenz von 50 auf 100.000 Personen.
  • Symptome:Sehr variables Krankheitsbild. Meist allgemeines Krankheitsgefühl und akut einsetzende Arthritis an den unteren Extremitäten.
  • Befunde:Ein oder mehrere stark geschwollene, druckempfindliche periphere Gelenke, deren Beweglichkeit meist erheblich eingeschränkt ist. Entzündliche Veränderungen der Haut, Schleimhäute und Augen häufig.
  • Diagnostik:Anamnese mit vorausgegangenem Infekt, körperliche Untersuchung sowie Labor und ggf. Gelenk-Sonografie.
  • Therapie:In der Akutphase symptomatische NSAR-Gabe und intraartikuläre Kortison-Injektion. Bei chronischer Arthritis DMARD (z. B. Sulfasalazin) oder TNF-alpha-Inhibitoren.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Inflammatorische Gelenkerkrankung, die durch eine genetische Suszeptibilität begünstigt wird, Tage oder Wochen nach einer gelenkfernen Infektion in einem oder mehreren Gelenken auftritt und bei denen sich der auslösende Erreger nicht aus der Synovia anzüchten lässt.1
    • Auslöser sind meist bakterielle Infektionen des Darmes, der Harn- und Geschlechtsorgane oder der Atemwege.2
  • Trias aus Arthritis, Urethritis und Konjunktivitis wurde früher als Reiter-Syndrom bezeichnet, jedoch ist es eine seltene Form der reaktiven Arthritis.3

Häufigkeit

  • Prävalenz2
    • In Deutschland auf 0,05 % geschätzt, d. h. 50 von 100.000 Personen leiden an einer reaktiven Arthritis.2
  • Inzidenz nach gastrointestinaler Infektion abhängig von Erreger4
    • Yersinia enterocolitica 20 pro 1.000 Infizierte
    • Shigella 12 pro 1.000 Infizierte
    • Salmonella 12 pro 1.000 Infizierte
    • Campylobacter 9 pro 1.000 Infizierte
  • Alter und Geschlecht2
    • Mehrzahl der Patient*innen < 40 Jahre
    • Männer und Frauen bei Erwachsenen sind etwa gleich häufig betroffen.
  • Bei Kindern1
    • Altersgipfel 8.–12. Lebensjahr
    • Verhältnis Jungen zu Mädchen = 3:1

Ätiologie und Pathogenese

  • Ätiologie und Pathogenese gemäß nachfolgender Referenz4
  • Immunologisch vermittelte Arthritis durch vorangegangenen, gelenkfernen bakteriellen Infekt bei genetisch prädisponierten Personen (HLA-B27-positiv)
  • Typische Erreger 
    • urethritisch: Chlamydophilia trachomatis oder selten Ureaplasma urealyticum
    • enteritisch: Yersinia enterocolitica, Yersinia pseudotuberculosis, Salmonella enteritidis und typhimurium, Shigella flexneri, Campylobacter jejuni; Einzelfälle nach Infektionen mit Clostridium difficile und E. coli
    • respiratorisch: Chlamydophilia-pneumoniae
  • Nach einer Infektion können Abbauprodukte/bakterielle Antigene teilweise wochenlang in der Synovia vorliegen und dort zu immunologisch bedingter Synovitis führen.5
  • HLA-B27 erhöht das Risiko für reaktive Arthritis massiv. Es existieren verschiedene Hypothesen zur Rolle von HLA-B27 bei der Pathogenese, die sich gegenseitig nicht ausschließen.
    • HLA-B27 modifiziert die Aufnahme und/oder intrazelluläre Abtötung der Bakterien in Epithelzellen und Monozyten und ermöglicht eine Erregerpersistenz.
    • Modell des arthritogenen Peptids: HLA-B27 fungiert als antigenpräsentierendes Molekül für bakterielle und autoantigene Peptide.
    • HLA-B27-Fehlfaltungshypothese: Durch eine Fehlfaltung des HLA-B27-Moleküls kommt es zu einer Akkumulation schwerer HLA-B27-Ketten im endoplasmatischen Retikulum und Auslösung einer sog. Unfolded Protein Response mit nachfolgender proinflammatorischer Stressantwort. Enterobakterielle Infektionen können diese Reaktionen des angeborenen Immunsystems auslösen oder verstärken.

Prädisponierende Faktoren

  • Durchgemachte Urogenital-, Atemwegs- oder Magen-Darm-Infektion
  • Genetische Suszeptibilität (HLA-B27 positiv)
    • Erkrankungsrisiko um Faktor 10–20 erhöht1

ICPC-2

  • L88 Rheumatoide/Seropositive Arthritis
  • L99 Muskuloskelet. Erkrankung, andere

ICD-10

  • M02.1 Postenteritische Arthritis
  • M02.3 Reiter-Krankheit
  • M02.8 Sonstige reaktive Arthritiden

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Um die Diagnose einer reaktiven Arthritis zu stellen, ist eine Kombination verschiedener Parameter notwendig, nämlich:
    • Anamnese eines vorangegangenen Infekts
    • typisches klinisches Erscheinungsbild
    • Laborparameter und
    • ggf. Sonografie oder MRT.4

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Die reaktive Arthritis tritt meist 2–4 Wochen nach der auslösenden Infektion auf.2
    • Meist banale gastrointestinale, urologische oder respiratorische Infektionen
    • Diese Infektionen können allerdings sehr leicht verlaufen und werden daher nicht immer bemerkt oder mit der Arthritis in Zusammenhang gebracht.
  • Klinische Manifestation dann in Form einer asymmetrischen Arthritis vorwiegend der unteren Extremitäten, häufig akut, meist in Form einer Oligoarthritis (< 5 Gelenke) oder Monarthritis, seltener einer Polyarthritis4
    • insgesamt sehr variables Krankheitsbild
  • Allgemeine Symptome wie ein allgemeines Krankheitsgefühl, Müdigkeit, Fieber, Gewichtsverlust und Appetitlosigkeit liegen in der akuten Phase häufig vor.
  • Begleitend ist eine Entzündung der Augen möglich.2
    • Charakteristische Symptome sind dann Lichtscheu, Schmerzen, Brennen, Rötung und evtl. Sehstörungen.
  • Zudem können Haut- und Schleimhaut-Symptome auftreten, z. B. schuppende Hautveränderungen, eine Urethritis oder Urozystitis mit entsprechenden Symptomen (Pollakisurie, Dysurie).2

Klinische Untersuchung

Inspektion

  • Entkleidete Patient*in
  • Gelenke
    • geschwollene, gerötete Gelenke, meist peripher und asymmetrisch
    • Daktylitis, d. h. eine wurstförmige Schwellung der Finger und Zehen
  • Haut2
    • schmerzhafte, rötlich-bläuliche Knoten im Bereich der Sprunggelenke und Unterschenkel (Erythema nodosum)
    • Schuppende Hautveränderungen, insbesondere an den Hand- und Fußsohlen, die an eine Schuppenflechte erinnern.
  • Schleimhaut
  • Augen

Palpation

  • Druckdolente, überwärmte Gelenke

Funktionsprüfung

  • Meist schmerzbedingte Bewegungseinschränkung der Gelenke

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Labor1

  • Differenzialblutbild, Entzündungsparameter, Transaminasen, HLA-B27
  • Bei Fieber Blutkulturen
  • Insbesondere bei Kindern
    • ASL- und Anti-Streptokokken-DNAse
      • Abgrenzung Poststreptokokken-Arthritis
    • ANA, Rheumafaktor
      • Abgrenzung juvenile idiopathische Arthritis

Erregerdiagnostik1

  • Die Erregerdiagnostik kann entsprechend der Lokalisation der vorausgegangenen Infektion erwogen werden.
  • Sie hat jedoch meist keine therapeutische Konsequenz.
    • Ausnahme: Bei noch bestehender urogenitaler Infektion mit Chlamydien, die antibiotisch behandelt werden sollte.

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Empfehlungen gemäß nachfolgender Referenz1
  • Sonografie
    • Darstellung der Synovia und evtl. Gelenkergüssen
  • Röntgenaufnahmen
    • zum Ausschluss von knöchernen Veränderungen
  • Gelenkpunktion
  • MRT
    • in Einzelfällen zum Ausschluss von Knochen- oder anderen Erkrankungen (Osteomyelitis/Malignome)
  • EKG/Echokardiografie bei Verdacht auf kardiale Beteiligung

Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung

  • Bei einer klinisch gesicherten reaktiven Arthritis sollten die Patient*innen zur weiteren Untersuchung und Behandlung in ein Krankenhaus eingewiesen werden.
    • Bei guter Führbarkeit und mobilen Patient*innen können die Untersuchungen und anschließende Therapie in Zusammenarbeit mit Spezialist*in auch ambulant erfolgen.

Therapie

Therapieziele

  • Akutsymptomatik lindern.
  • Komplikationen und Chronifizierung verhindern.

Allgemeines zur Therapie

  • Es erfolgt eine symptomatische Behandlung.
  • Eine reaktive Arthritis wird nicht antibiotisch behandelt.4
  • Abhängig vom Stadium werden antiinflammatorische und/oder immunsuppressive Medikamente eingesetzt.4

Symptomatische Therapie

  • Empfehlungen gemäß nachfolgender Referenz1
  • Physikalische Therapie (Kälte/Wärme) mehrfach täglich
  • Physiotherapie/Krankengymnastik
    • zum Erhalt der Gelenkfunktion
    • zur Vermeidung von Inaktivitätsatrophien der angrenzenden Muskulatur
  • Kurzzeitige Entlastung/Schonung des betroffenen Gelenks in der akuten Phase
    • Vermeidung von stauchenden und Sprungbelastungen
    • Befreiung vom Schulsport (bei Kindern)
  • Bei Enthesitis ggf. Einlagen bzw. Gelkissen im Fersenbereich

Medikamentöse Therapie

  • In der akuten Phase kommen nichtsteroidale Antirheumatika und intraartikuläre sowie systemische Steroide in Betracht.4
    • z. B. Naproxen-Tabletten, 250 mg: morgens und abends 1–2 Tabl.
    • z. B. Diclofenac: 25–50 mg bis zu 3 x tgl.
  • Bei einer Krankheitsdauer > 6 Wochen kann an den Einsatz einer langwirksamen krankheitsmodifizierenden „Basistherapie“ (Disease Modifying Antirheumatic Drugs, DMARD) gedacht werden.4
    • z. B. Sulfasalazin in einschleichender Dosierung bis 2 x 1.000 mg tgl. oder TNF-alpha-Inhibitoren

Operative Therapie

  • Bei chronischen Beschwerden kann u. U. ein chirurgischer Eingriff indiziert sein, z. B. eine arthroskopische Synovektomie.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Die mittlere Erkrankungsdauer beträgt 6 Monate.2
  • Es besteht ein erhebliches Rezidivrisiko (siehe Prognose).

Komplikationen

  • Chronische Arthritis
  • Arthrose in den betroffenen Gelenken
  • Augenentzündungen, u. a. Uveitis anterior
  • Erregungsleitungsstörungen des Herzens, Aortenklappeninsuffizienz
  • Keratoderma blennorrhagicum: schuppende Infiltrate palmar und plantar
  • Kardiovaskuläre Ereignisse durch chronische systemische Inflammation

Prognose

  • Reaktive Arthritiden sind keine lebensbedrohlichen Erkrankungen. 2
  • Obwohl der Beginn dramatisch sein kann, heilen sie normalerweise aus und verursachen in der Regel keine dauerhaften Gelenkschäden.2
  • Allerdings können sich bei etwa 20–40 % der Patient*innen chronische Arthritiden, Arthralgien, Sehnenprobleme oder Rezidive entwickeln.2
    • besonders betroffen: Patient*innen mit HLA-B27, Augenbeteiligung und Entzündungen der Harn- und Geschlechtsorgane

Verlaufskontrolle

  • Die meisten Patient*innen werden in der akuten Phase in ein Krankenhaus eingewiesen.
  • Nach der Entlassung sind Kontrakturenprophylaxe und Physiotherapie von großer Bedeutung.
  • Idealerweise sollten Hausärzt*in, Physiotherapeut*in und ggf. Rheumatolog*in zusammenarbeiten.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Reaktive Arthritiden sind keine lebensbedrohlichen Erkrankungen. Obwohl der Beginn dramatisch sein kann, heilen sie normalerweise aus und verursachen in der Regel keine dauerhaften Gelenkschäden.2

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Akute Arthritis.jpg
Akute Arthritis

Quellen

Literatur

  1. Trauzeddel R, Girschick H. Reaktive Arthritis. Leitlinien Pädiatrie 2016. www.paediatrie.at
  2. Krause A., Reaktive Arthritis. Deutsche Rheuma-Liga Bundesverband e.V., 2015 www.rheuma-liga.de
  3. Carter JD, Hudson AP. Reactive arthritis: clinical aspects and medical management. Rheumatic Disease Clinics of North America 2009; 35: 21-44. pmid:19480995 PubMed
  4. Märker-Hermann E. Reaktive Arthritis – eine vergessene Erkrankung?. Dtsch Med Wochenschr 2020; 145(24): 1786-90. www.thieme-connect.com
  5. Gracey E, Imman RD. Chlamydia-induced ReA: immune imbalances and persistent pathogens. Nat Rev Rheumatol 2011; 8: 55-9. pmid:22105240 PubMed

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit