Verwirrtheit, akute

Allgemeine Informationen

Definition

  • Verwirrtheit ist kein einheitlich definierter Begriff.
  • Bezieht sich in der Regel auf eine Denkstörung mit Beeinträchtigung der Orientierung.
    • zeitlich
    • örtlich
    • situativ
    • zur Person1
  • Tritt meist im Zuge einer vorübergehenden oder dauerhaften Gehirnschädigung auf (siehe auch Artikel Hirnorganisches Psychosyndrom).1-3
  • „Akuter Verwirrtheitszustand“ wird teilweise synonym zum Begriff Delir verwandt und meint dabei vornehmlich delirante Zustände, die nicht durch Alkohol oder Drogen ausgelöst werden.1
  • Viele Autor*innen einschließlich der Deutschen Gesellschaft für Neurologie plädieren dafür, die Begriffe „Verwirrtheitszustand“ und hirnorganisches Psychosyndrom komplett durch „Delir“ zu ersetzen.1-2
  • Dieser Artikel bezieht sich nicht ausschließlich auf das Delir, sondern auf akute Verwirrtheit als unspezifisches Symptom unterschiedlicher Krankheitszustände.
  • Artikel zu den deliranten Syndromen:
  • Artikel zu Verwirrheitszuständen bei Demenz:
  • Häufige Begleitsymptome1-2,4

Häufigkeit

  • Prävalenz erhöht bei:
    • älteren Menschen
    • Erkrankungen des Gehirns, z. B. Demenz
    • anderen zerebralen Noxen, z. B. Trauma, OP, zentral wirksamen Medikamenten.
  • Ist bei allen Arten von schwerwiegenden organischen Erkrankungen (im Krankenhaus) häufig zu beobachten.
    • Betrifft 10–30 % der älteren Menschen, die akut stationär eingewiesen werden.
    • Betrifft 15–53 % der älteren Menschen auf postoperativen Abteilungen.
    • Betrifft 70–80 % der älteren Menschen auf der Intensivstation.
  • Betrifft 85 % der Patient*innen am Lebensende.
  • In der Hausarztpraxis weniger häufig
  • Bei jüngeren, ansonsten gesunden Personen ist akute Verwirrtheit häufig im Rahmen eines Alkoholentzugssyndroms zu beobachten.

Ursachen und Auslöser

Medikamente und psychotrope Substanzen

    • z. B. Polypharmazie
    • Arzneimittel mit anticholinerger Wirkung, z. B.:
      • trizyklische Antidepressiva
      • Neuroleptika
      • Bronchospasmolytika wie Tiotropium
      • Scopolamin
      • Urologika wie Oxybutynin.
    • Hypnotika/Anxiolytika, z. B. Benzodiazepine
    • NSAR
    • H2-Blocker
    • Antiemetika
    • Antiarrhythmika, insbesondere Digoxin und Beta-Blocker
    • Steroide
    • Antiepileptika
    • Opioide
    • Zytostatika
    • Furosemid
    • Alkohol
    • Drogen, z. B. LSD, Meskalin, Cannabinoide
  • Industrie- und Umweltgifte, z. B.:
    • Pflanzenschutzmittel
    • Lösungsmittel
    • Schwermetalle (z. B. Blei, Mangan, Quecksilber).

Umgebungsfaktoren

    • sensorische Deprivation: monotone Umgebung, soziale Isolation
    • Beeinträchtigung von Seh- und Hörvermögen
    • ungewohnte Umgebung
    • Stress
    • Immobilität, verminderte Aktivität

Alkoholentzug

    • oft in Kombination mit schwerem Tremor und visuellen Halluzinationen
    • Andere Anzeichen von Substanzmissbrauch sind häufig.
    • am häufigsten bei kombinierter Alkohol- und Benzodiazepinabhängigkeit
    • Näheres siehe Artikel Alkoholdelir.
  • Psychische Erkrankungen (s. u.)

Diagnostische Überlegungen

  • Verwirrtheit kann auf ein schweres Versagen von Gehirnfunktionen hindeuten. Die zugrunde liegenden Erkrankungen erfordern u. U. eine sofortige Behandlung.
    • Näheres siehe Artikel Hirnorganisches Psychosyndrom.
    • Beispielsweise ist ein Delir mit ausgeprägter vegetativer Symptomatik ein lebensbedrohlicher Notfall, der unverzüglich einer intensivmedizinischen Überwachung und Behandlung bedarf.
      • Näheres siehe Artikel Delir.

Konsultationsgrund

  • Tritt häufig abends oder nachts auf.
  • Oft haben die Betroffenen Angst, in manchen Fällen sind sie aggressiv und können schwer zugänglich sein. Deswegen ist es besonders wichtig, der betroffenen Person ruhig, entschlossen und freundlich zu begegnen.

ICPC-2

  • P29 Psych. Sympt., Beschwerden, andere

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 2021:5
  • F00 Demenz bei Alzheimer-Krankheit (G30.-†)
  • F01 Vaskuläre Demenz
  • F02 Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
  • F03 Nicht näher bezeichnete Demenz Inkl.: Präsenil: Demenz o.n.A. Psychose o.n.A. Primäre degenerative Demenz o.n.A. Senil: Demenz: depressiver oder paranoider Typus o.n.A. Psychose o.n.A. Exkl.: Senilität o.n.A. (R54)
  • F04 Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
  • F05 Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
  • F06 Andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit
  • F07 Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
    • F07.0 Organische Persönlichkeitsstörung
    • F07.1 Postenzephalitisches Syndrom
    • F07.2 Organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma
    • F07.8 Sonstige organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
    • F07.9 Nicht näher bezeichnete organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
  • F09 Nicht näher bezeichnete organische oder symptomatische psychische Störung

Differenzialdiagnosen

  • Verwirrtheit kann auf ein Delir, aber auch auf eine andere hirnorganische oder auf eine psychische Störung hindeuten.
    • Deswegen ist es wichtig, bei der Differenzialdiagnostik sehr gründlich vorzugehen.
  • Diagnose basiert auf:
    • sorgfältiger Anamnese und Untersuchung
    • Beobachtung über einen längeren Zeitraum
    • ggf. apparativer Diagnostik: Bluttests, kranielle Bildgebung
    • ggf. neuropsychologischen Testverfahren.

Kognitive Symptome

  • Die größte differenzialdiagnostische Herausforderung bei einem Verwirrtheitszustand besteht darin, ein Delir von Demenz und anderen neurokognitiven Störungen zu unterscheiden.
  • Die Differenzialdiagnose wird darüber hinaus dadurch erschwert, dass Episoden von Delir auch aufgrund einer neurokognitiven Grunderkrankung auftreten können.
  • Bei Patient*innen, bei denen von früheren neurokognitiven Störungen auszugehen ist, die nicht korrekt diagnostiziert wurden, ist die Differenzialdiagnose besonders schwierig.

Psychotische Symptome

  • Psychotische Symptome, d. h. vor allem Wahnsymptome und Halluzinationen, können sowohl bei einer psychischen Erkrankung auftreten, als auch im Rahmen eines hirnorganischen Psychosyndroms.
  • Während bei sekundären Psychosen, etwa im Rahmen eines Delirs, Orientierungsstörungen im Hinblick auf Zeit, Ort, Situation oder die eigene Person oft dominieren, spielen sie bei primären Psychosen, z. B. einer Schizophrenie, keine oder nur eine untergeordnete Rolle.
  • Systematischer Wahn mit bizarren Wahninhalten: Spricht für eine primäre Psychose, z. B. eine Schizophrenie.
  • Der Charakter der Halluzinationen kann Hinweise auf die zugrunde liegende Erkrankung geben:
    • Optisch: (hirn-)organische Erkrankung?
    • Szenisch-optisch und taktil: Entzugsdelir?
    • Akustisch-verbal:
      • Idiopathisch?
      • Schizophrenie (z. B. mehrere kommentierende Stimmen)?
      • Alkoholhalluzinose?
      • Andere psychische Störung?

Delir

  • Siehe Artikel Delir.
  • Gekennzeichnet durch:1
    • vorübergehende qualitative und quantitative Bewusstseinsstörungen (eingeschränkte Wahrnehmung der Umgebung und verminderte Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten oder umzustellen)
    • zusätzlich Störungen von mindestens 2 der nachfolgend genannten Funktionen:
      • Aufmerksamkeit
      • Wahrnehmung
      • Denken
      • Gedächtnis
      • Psychomotorik
      • Emotionalität
      • Schlaf-Wach-Rhythmus.
    • vegetative Symptome
    • psychotische Symptome
    • Die Dauer ist sehr unterschiedlich und der Schweregrad reicht von leicht bis zu sehr schwer.1
    • Charakteristisch sind der akute Beginn (Stunden bis Tage) sowie Schwankungen im Tagesverlauf.
  • Den Verdacht eines Delirs stützen z. B. folgende Symptome:
    • Störungen der Schlafgewohnheiten
    • emotionale Dysregulation wie:
    • schneller Wechsel zwischen verschiedenen Stimmungen
    • auffälliges Verhalten wie:
      • Unruhe
      • spontane Schreie
      • Weinen, Jammern – besonders abends und nachts.
  • Hypoaktive Form
    • Diese Art des Delirs kann leicht übersehen oder mit einer Depression  oder Demenz verwechselt werden, insbesondere bei älteren Patient*innen.
    • typische Symptome
      • Apathie
      • Rückzugstendenzen
      • Interessen- und Affektarmut
      • Mangelnde Kontaktaufnahme, spricht kaum oder gar nicht.
      • verminderte Bewegung
      • selten mit vegetativen Symptomen
  • Hyperaktive Form
    • Ist leichter zu diagnostizieren und tritt häufiger bei jüngeren Patient*innen auf.
    • typische Symptome
  • Gemischtes Delir
    • Kombination aus hypo- und hyperaktiven Symptomen
    • Macht ca. 50 % aller Delirfälle aus.
  • Häufige Warnzeichen
    • Müdigkeit
    • Konzentrationsstörungen
    • Unruhe
    • Reizbarkeit
    • Depressivität

Demenz

  • Siehe Artikel Demenzsymptome.
  • Chronische Erkrankung
    • Beginnt langsam.
    • Ist progressiv.
    • erworbene und irreversible kognitive Beeinträchtigungen
    • Störungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation 
    • eingeschränkte Alltagskompetenz4
  • Bei etwa 40 % aller Demenz-Patient*innen tritt im Laufe der Erkrankung ein akuter Verwirrheitszustand auf.2

Akute vorübergehende psychotische Störungen

  • Siehe auch Artikel Akute vorübergehende psychotische Störungen.
  • Eine heterogene Gruppe von Störungen, gekennzeichnet durch akut einsetzende psychotische Symptome:
  • Akuter Beginn
    • Entwicklung eines eindeutig pathologischen klinischen Bildes innerhalb ≤ 2 Wochen 
  • Keine Hinweise auf eine organische Ursache
  • Orientierungsstörungen und Verwirrtheit kommen häufig vor, die zeitliche, örtliche und personenbezogene Desorientiertheit ist jedoch nicht andauernd oder schwerwiegend genug, um die Kriterien für ein Delir zu erfüllen.
  • Eine vollständige Remission tritt in der Regel innerhalb weniger Monate, oft bereits nach wenigen Wochen oder nur Tagen ein.
  • Wenn die Störung länger als 2–3 Monate besteht, ist eine Änderung der Diagnose erforderlich.
  • Kann im Rahmen einer akuten Belastungsreaktion auftreten, 1 oder 2 Wochen nach einem belastenden Ereignis.

Andere Psychosen

Manie

  • Siehe Artikel Bipolare affektive Störungen.
  • Eine Manie ist durch ein übersteigertes Hochgefühl gekennzeichnet, das von ausgeprägter Heiterkeit bis hin zu nahezu unkontrollierbarer Euphorie reichen kann.
  • Das Hochgefühl ist von gesteigerter Energie und erhöhtem Antrieb begleitet, die zu Überaktivität, lautem und schnellem Sprechen sowie verringertem Ruhe- und Schlafbedürfnis führen.
  • Die Aufmerksamkeit ist verringert, die Ablenkbarkeit erhöht.
  • Das Selbstbewusstsein ist gesteigert, hierdurch kommt es zu Größengefühlen und Selbstüberschätzung.
  • Die Patient*iien können übertrieben gesellig sein und die normalen sozialen Hemmungen verlieren und sich unüberlegt, unvorsichtig oder unangemessen verhalten.
  • Manie mit psychotischen Symptomen
    • Häufig sind Wahnvorstellungen (Größenwahn) oder Halluzinationen (in der Regel Stimmen, die direkt mit der Person sprechen).
    • Die übersteigerte motorische Aktivität und die Ideenflucht sind so ausgeprägt, dass die Betroffenen unverständlich werden oder normaler Kommunikation nicht mehr zugänglich sind.

Depression

  • Siehe Artikel Depression.
  • Häufige Symptome
    • Betrübtheit
    • Verlust von Interesse und Freude an üblichen Aktivitäten
    • Schlafstörungen
    • Appetitlosigkeit
    • Konzentrationsstörungen
    • Müdigkeit, Erschöpfung
    • Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Minderwertigkeit
    • Suizidgedanken.
  • Kann rezidivierend oder chronisch sein.
  • Wird leicht mit einem hypoaktiven Delir verwechselt (s. o.).

Schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen 

  • Schwere depressive Episode, bei der HalluzinationenWahnideen, psychomotorische Hemmung oder ein Stupor so schwer ausgeprägt sind, dass alltägliche soziale Aktivitäten unmöglich sind und Lebensgefahr durch Suizid und mangelhafte Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme bestehen kann.
  • Halluzinationen und Wahn sind häufig, wenn auch nicht immer, depressiv gefärbt.

Panikstörung

  • Siehe Artikel Panikstörung.
  • Das Hauptmerkmal sind rezidivierende Angstzustände (Panikattacken), die nicht auf bestimmte Situationen oder Umstände beschränkt und daher unvorhersehbar sind.
  • Symptome einer Angsterkrankung
    • Palpitationen
    • Thoraxschmerz
    • Erstickungsgefühle
    • Schwindel
    • Entfremdungsgefühle (Depersonalisation oder Derealisation)
  • Häufig besteht sekundär die Furcht zu sterben, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden.
  • Bei einer depressiven Störung zum Zeitpunkt der Panikattacken soll die Panikstörung nicht als Hauptdiagnose verwendet werden, da diese wahrscheinlich eine sekundäre Folge der Depression ist.

Anamnese

  • Grundsätzliche Überlegungen:1-2,6
    • Eine reguläre Eigenanamnese ist im Zustand akuter Verwirrtheit oft nicht durchführbar.
    • Bei ausreichend erhaltenen kognitiven Funktionen – etwa in einem symptomfreien Intervall oder bei beginnendem Verwirrtheitszustand – können einige der folgenden Fragen ggf. auch von den Patient*innen selbst beantwortet werden.
  • Alle Informationen zu gesundheitlichen Veränderungen oder Therapieänderungen vor dem Beginn der Symptome sind von Interesse.

Fremdanamnese

  • Seit wann bestehen die Symptome und wie verliefen sie bisher?
  • Akute Erkrankung?
    • Fieber?
    • Dyspnoe?
    • Geschwächter Allgemeinzustand?
  • Hinweise auf Demenz?
  • Alltagsfunktionen
    • Welche Funktionen sind eingeschränkt?
    • Was hat früher gut funktioniert?
  • Seh- oder Hörbehinderung?
  • Immobilität? Fixierung?
  • Auslösende Umstände, z. B.:
    • Sturz?
    • Neue Medikamente?
      • Liegen neue pharmakodynamische oder pharmakokinetische Voraussetzungen oder andere medikamentenabhängige Faktoren vor, die das Auftreten neuer Arten von Nebenwirkungen ermöglichen?
    • Operativer Eingriff?
    • Weitere Umstände siehe die Abschnitte Ursachen und Auslöser und Differenzialdiagnosen.
  • Variiert der Zustand im Tagesverlauf?
  • Psychoaktive Substanzen oder Entzug?
    • Alkohol?
    • Nikotin?
    • Schlaf- oder Beruhigungsmittel?
    • Psychopharmaka?
    • Drogen?
  • Andere toxische Einflüsse, z. B. berufsbedingt?
  • KrampfanfallEpilepsie?
  • Psychische Erkrankungen oder Suchterkrankungen?
    • Früher oder aktuell?
    • Bei der betroffenen Person oder deren Verwandten?

Vigilanz, Kognition, Emotionen

Sonstige Erkrankungen?

Derzeitige Medikamente

  • Medikamente, die Verwirrheitszustände begünstigen oder auslösen können siehe Abschnitt Ursachen und Auslöser.

Klinische Untersuchung

Sofort

  • Zur Erkennung eines lebensbedrohlichen Zustandes:1-2
  • Vitalparameter
  • Körperliche Untersuchung, einschließlich:
    • Körpertemperatur
    • Zeichen der Mangelernährung und Exsikkose?
    • Frische oder abgeheilte Sturz- oder Stoßverletzungen?
    • Foetor
      • alcoholicus?
      • uraemicus?
      • Ketone? (Diabetes?)
    • Leberzeichen, z. B.:
      • Lebervergrößerung
      • Gerinnungsstörung
      • Ikterus
    • Globale Muskelverschmächtigung?
    • Stammfettsucht?
    • Faziale Teleangiektasien?
    • Harnverhalt?
    • Obstipation?
  • EKG
  • Basislabor
  • Ggf. Blutgasanalyse
  • Ggf. weitere Labortests
    • Drogenscreening
    • Alkohol im Serum
    • Blutkultur, z. B. bei Verdacht auf Sepsis oder Meningitis
    • CRP
    • Albumin
    • Phosphat
    • CK
    • INR
    • Messung des Medikamentenspiegels, z. B.:
      • Theophyllin, Ciclosporin, Digitaloide, Psychopharmaka.
    • Schwermetalle
    • Porphyrin
    • HIV
    • Immunologie (z. B. Autoantikörper)
    • Endokrinologie (z. B. Hypophyse, Nebenniere)

Vigilanz, Kognition, Emotionen

  • Zur schnellen und regelmäßigen Symptomerfassung:1-2
  • Ein nützliche Erhebungs- und Überwachungsmethode ist die Confusion Assessment Method (CAM).
    • Erlaubt die schnelle und zuverlässige Beurteilung, ob ein Delir vorliegt.
    • Ist auch für die Überwachung von Risiko-Patient*innen geeignet.
    • Ist einfach durchführbar, auch durch geschulte Pflegekräfte.
    • bei komatösen Patient*innen nicht geeignet
  • Diagnostisch relevante Begleitsymptome
    • Desorientierung
      • räumlich
      • zeitlich
      • situativ
      • zur Person
    • Agitiertheit
    • Apathie und Zurückgezogenheit
    • emotionale Instabilität
    • Wahnvorstellungen
    • Halluzinationen
      • Visuelle Halluzinationen sind häufig Ausdruck einer zugrunde liegenden Stoffwechselstörung, Nebenwirkung eines Medikaments oder von Drogenmissbrauch.
      • Näheres zur Differenzialdiagnose im Artikel Halluzinationen

Neurologie

  • Herdsymptome
  • Gangbild
  • Tremor
  • Kraft, Muskeltonus
  • Sensibilität einschließlich Vibrationsempfinden (Polyneuropathie?)
  • Myoklonien
  • Lese- und Schreibschwierigkeiten

Ergänzende Untersuchungen

  • Ggf. Liquordiagnostik, z. B. bei:
    • auffälligen Entzündungsparametern
    • Fieber mit Kopfschmerzen
    • Meningismus
    • Verdacht auf Enzephalitis.
  • Ggf. EEG
    • bei Delir häufig generalisierte Rhythmusverlangsamung und intermittierende rhythmische Delta-Aktivität
  • Zerebrale Bildgebung
    • bei jedem Hinweis auf zerebrale Symptome
    • initial in der Regel CT zum Ausschluss von:
    • ggf. CT mit Gefäßdarstellung oder cMRT zum Ausschluss von:
  • Röntgenthorax

Maßnahmen und Empfehlungen

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

  • Ein Delir ist ein Notfall und erfordert grundsätzlich eine stationäre Überwachung und Behandlung.2
    • bei potenziell lebensbedrohlicher vegetativer Entgleisung auf der Intensiv- oder Wachstation
  • Bei Eigen- oder Fremdgefährdung, etwa im Rahmen einer akuten Psychose mit imperativen Halluzinationen, kann die Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung und Zwangsmaßnahmen indiziert sein (s. u.).7

Maßnahmen

  • Die Betroffenen nicht alleine lassen und ggf. Vitalparameter überwachen.
  • Sie haben oft große Angst und neigen aufgrund der Fehlinterpretation oder Fehlwahrnehmung der Situation zur Selbst- und Fremdgefährdung.
  • Die Gabe von Beruhigungsmitteln birgt Risiken und verändert darüber hinaus das klinische Bild. Vor der Untersuchung im Krankenhaus sollte sie nach Möglichkeit vermieden werden.
  • Bei Medikamenten, die einen Verwirrtheitszustand auslösen können, ist die Absetzung oder Verringerung der Dosis zu erwägen.

Somatische Grundbehandlung 

  • Zugrunde liegende Erkrankung behandeln.
  • Erkennen, überwachen und ggf. korrigieren:
    • Sauerstoffversorgung
    • Hirnperfusion
    • Metabolismus, z. B. Elektrolythaushalt
    • ungünstige Umgebungs- und Pflegesituation
    • toxische Faktoren (z. B. Medikamente).

Nichtmedikamentöse Maßnahmen2,8-9

  • Mit Unterstützung von Angehörigen und Pflegenden
    • Die Betroffenen sollten abgeschirmt werden, ruhige Atmosphäre.
    • regelmäßige Präsenz vertrauter Bezugspersonen
      • insgesamt möglichst wenige beteiligte Personen
      • Wenn möglich, dafür sorgen, dass mit der betroffenen Person in ihrer Muttersprache gesprochen wird.
    • zeitliche und räumliche Orientierungshilfen, z. B.:
      • gut sichtbare Uhr, Kalender
      • Vereinfachen der Umgebung, z. B. unnötige Gegenstände entfernen.
      • Tag-/Nacht-Rhythmik durch Beleuchtungsmodulation vorgeben.
      • Der betroffenen Person helfen, sich zu orientieren. Mit ihr darüber sprechen, was passiert, wo sie sich befindet, welcher Tag es ist usw.
    • Hindernisse und „Stolperfallen“ entfernen.
    • Dafür sorgen, dass die Person Seh- und Hörhilfen verwendet.
    • ggf. schrittweise Mobilisation
    • Für eine optimale Ernährung sorgen, Harnverhalt und Verstopfung vorbeugen.

Medikamentöse Behandlung

Weitere Behandlung und Verlaufskontrolle

  • Die Betroffenen und Bezugspersonen sollten über die Störung und über die entsprechende Behandlung informiert werden.
  • Verlauf regelmäßig überwachen: Morgen- und Abendbericht.

Zwangsmaßnahmen nur als Ultima Ratio

Rechtliche Grundlage7

  • Zwangsmaßnahmen wie Festhalten, Fixierung oder Zwangseinweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung können Angst und Aggressivität erheblich steigern sowie zu psychischer Traumatisierung der Patient*innen und auch der ausführenden Personen beitragen.
    • Sie sollten daher als absolute Ultima Ratio gelten. Da sie einen erheblichen Einschnitt in die Freiheitsrechte der Patient*innen bedeuten, sind sie nur unter eng definierten Grenzen erlaubt.
  • Eine ärztliche Behandlung gegen den natürlichen Willen der Betroffenen
    • Ist grundsätzlich nur in einer stationären Einrichtung zulässig. Bei Personen, die nicht so weit in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, dass sie sich einer Zwangsbehandlung entziehen könnten, erfordert dies die Einweisung in eine geschlossene Krankenhausabteilung. Unter welchen Voraussetzungen diese erfolgen kann, ist im Einzelnen in länderspezifischen Unterbringungsgesetzen (PsychKG oder UBG) geregelt.
    • Die bisher bestehende Gesetzeslücke, die bewirkte, dass immobile Patient*innen nicht gegen ihren natürlichen Willen behandelt werden konnten10, wurde durch eine Änderung des Betreuungsrechts im Juli 2017 geschlossen.11-12

Deeskalation7,13

  • Psychiatrische Konfliktforscher*innen raten, mit Patient*innen, die sich aggressiv verhalten, möglichst viel und offen zu sprechen.
    • Das gilt besonders auch während und unbedingt nach erfolgtem Einsatz von körperlichem Zwang oder Fixierung.
    • Wenn Zwangsmaßnahmen in Erwägung gezogen werden, sollen die Patient*innen und ggf. die Angehörigen soweit wie möglich in die Behandlungsplanung miteinbezogen werden.
    • Regelmäßig im Team anhand von konkreten Vorfällen über Möglichkeiten nachdenken, wie zukünftig anders reagiert und früher deeskaliert werden könnte.
  • Beispiele für deeskalierende Maßnahmen bei ausreichend kommunikationsfähigen Patient*innen
    • verbale Deeskalation „Talking down“
      • Zuhören.
      • Interesse an der Situation der betroffenen Person und Verständnis signalisieren.
    • Gespräche mit anderen anbieten, z. B.:
      • Heimleitung
      • Chefärzt*in
      • Seelsorger*in
      • Patientenfürsprecher*in
      • Freund*innen
      • Verwandte
      • andere Vertrauenspersonen.
    • Verbal Grenzen setzen.
      • Verhalten, das unerwünscht und nicht tolerabel ist, eindeutig benennen.
    • nur bei Patient*innen ohne Bewusstseinsstörung:
      • Getränk anbieten oder Essen.
      • eine Süßigkeit (evtl. Zusatznutzen bei Hypoglykämie als Auslöser)
      • Eine Zigarette anbieten oder gemeinsam rauchen (evtl. Zusatznutzen bei Nikotinentzug als Auslöser).
    • Ein Medikament anbieten (oral nur bei Patient*innen ohne Bewusstseinsstörung)
    • bei überwachungspflichtigen Patient*innen nicht oder nur mit Einschränkung möglich:
      • „Time out“ im eigenen Zimmer anbieten, im Garten, in der Klinikkapelle o. Ä.
      • Ein warmes Bad anbieten.
      • Die Patienten in eine Tätigkeit einbinden, auf Station oder im Garten.
      • Bewegung anbieten (Tischtennis, Laufen o. Ä.).

Fixierung14

  • Eine Fixierung darf nur unter folgenden Voraussetzungen erfolgen:
    • Notfall mit erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung und fehlender Geschäfts- oder Einwilligungsfähigkeit
    • nur nach ärztlicher Anordnung und sorgfältiger Indikationsstellung
    • Sie ist nur dann legal, wenn sie aus Notwehr oder bei Notstand erfolgt oder richterlich angeordnet ist.
    • Alternative Strategien zur Deeskalation abwägen.
    • Verhältnismäßigkeit beachten.
    • Fixierte Personen bedürfen der kontinuierlichen Überwachung.
    • Indikation, Art und Dauer der Fixierung dokumentieren.
    • Für längere oder regelmäßige Fixierungen braucht man eine richterliche Genehmigung.

Sedierung als „chemische Fixierung“?14

  • Grundsätzlich gelten für die „chemische Fixierung“ ähnlich restriktive Voraussetzungen wie für die mechanische Fixierung.
  • Zudem ist eine zwangsweise Verabreichung von Medikamenten nach derzeitiger Rechtslage nur nach Einweisung in eine stationäre Einrichtung und in der Regel in eine geschlossene Abteilung zulässig (s. o.).
  • Sedierende Substanzen ohne therapeutischen Zweck, ausschließlich zur Immobilisierung, sind nur unter Bedingungen einer Intensivstation zu rechtfertigen:
    • Mit lückenloser Überwachung, um eine sachgerechte Betreuung und Pflege der Patient*innen zu gewährleisten und Nebenwirkungen rechtzeitig zu erkennen.
    • Die Grenze zwischen therapeutischer Indikation, erwünschten sedierenden Nebenwirkungen und überwiegender Absicht der „Ruhigstellung“ ist in der Praxis jedoch oft fließend.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Darüber, dass eine Einweisung aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung erforderlich ist, auch wenn sie dies nicht verstehen oder wahrnehmen.
  • Die Angehörigen/Bezugspersonen sind ebenfalls zu informieren.
  • Je nach zugrunde liegender Ursache reicht die Prognose von schlecht bis hervorragend.

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006. S1, Stand 2020. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-022. S3, Stand 2018. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Demenzen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-013. S3, Stand Januar 2016 (abgelaufen). www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006, S1. Stand 2020. www.awmf.org
  2. Hübscher A, Isenmann S. Delir: Konzepte, Ätiologie und klinisches Management. Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: 233-44. PMID: 27100850 PubMed
  3. Hansen HC (Hrsg.) Bewusstseinsstörungen und Enzephalopathien - Diagnose, Therapie, Prognose. Berlin, Heidelberg: Springer, 2013.
  4. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. S3-Leitlinie Demenzen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-013, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org
  5. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2021. Stand 18.09.2020; letzter Zugriff 30.03.2021. www.dimdi.de
  6. Shi Q, Warren L, Saposnik G, Macdermid JC.. Confusion assessment method: a systematic review and meta-analysis of diagnostic accuracy. Neuropsychiatr Dis Treat 2013; 9: 1359-1370. PubMed
  7. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-022, Stand 2018. www.awmf.org
  8. Siddiqi N, Harrison JK, Clegg A et al. Interventions for preventing delirium in hospitalised non-ICU patients. Cochrane Database Syst Rev 2016; 3: CD005563. PMID: 26967259 PubMed
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  10. Bundesverfassungsgericht Pressemitteilung Nr. 59/2016 vom 25. August 2016: Die Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung auf untergebrachte Betreute ist mit staatlicher Schutzpflicht nicht vereinbar. www.bundesverfassungsgericht.de
  11. Leonhard B, Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. Voraussetzungen für die ärztliche Zwangsbehandlung werden neu gefasst. Veröffentlichung 06.07.2017. Letzter Zugriff 07.10.2017 www.lebenshilfe.de
  12. Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten. Bundesgesetzblatt, 17. Juli 2017; S. 2426-28. www.bgbl.de
  13. Heim, TM. Blicke über den Tellerrand und der Griff an die eigene Nase. InFo Neurologie 2013; 15: 56. doi:10.1007/s15005-013-0272-6 DOI
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Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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