Red Flags und abwendbar gefährliche Verläufe1-2
Red Flags |
Abwendbar gefährlicher Verlauf |
Synkope Präsynkope bzw. Unwohlsein/Schwindelgefühl |
kardiogener Schock, Kammerflimmern, Herz-Kreislauf-Stillstand, akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, Lungenembolie, Aortendissektion, Spannungspneumothorax |
Neurologisches Defizit
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zerebrale Minderperfusion, kardiogener Schock, Kammerflimmern, Herz-Kreislauf-Stillstand |
Retrosternaler Schmerz und Ausstrahlung in:
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akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, Aortendissektion, Lungenembolie, Cholangitis, Pankreatitis |
Schwitzen, blasse feuchte Haut |
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Akute Dyspnoe |
Lungenembolie, Lungenödem, Spannungspneumothorax, Pneumothorax, Pneumonie |
Atemabhängige Thoraxschmerzen |
Lungenembolie, Pneumothorax, Pleuraempyem |
Nausea/Erbrechen |
akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, schlagartiger Beginn nach heftigem Erbrechen: Ösophagusruptur |
Herzklopfen, Herzrasen, Tachykardie |
Lungenembolie, gefährliche Rhythmusstörung |
Risikofaktoren für eine thromboembolische Erkrankung (perioperativ, Schwangerschaft, Immobilität) |
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Bekannte kardiovaskuläre Risikofaktoren, bekannte vaskuläre Erkrankung (z. B. PAVK) |
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Vorgeschichte mit Thoraxschmerzen (in Ruhe, bei Belastung) |
koronare Herzerkrankung, rezidivierende Lungenembolien, akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, Lungenembolie |
Hämoptoe |
Lungenembolie, Pneumonie, Infarktpneumonie, Bronchialkarzinom |
Fieber > 38,5 °C, Husten, Pleuritis |
Allgemeine Informationen
Definition
- Brustschmerzen: Brennen, Ziehen, Druckgefühl oder andere Missempfindungen im Bereich des vorderen oder seitlichen Thorax3
Häufigkeit
- 0,7 % aller Konsultationen in (hessischen) Hausarztpraxen erfolgen aufgrund von Brustschmerzen.4
- Frauen sind etwas häufiger betroffen (56:44 %).
- mittleres Alter 59 Jahre
- Häufigkeit der Ursachen des Beratungsanlasses „Brustschmerz“ in der Primärversorgung:5
- Brustwandsyndrom: 25–50 %
- Atemwegserkrankungen: 10–18 %
- psychische Ursachen: 10–18 %
- stabile koronare Herzerkrankung: 7–11 %
- gastrointestinale Beschwerden: 6–10 %
- ösophageale Beschwerden: 6–7 %
- akutes Koronarsyndrom oder Myokardinfarkt: 1,5–3,6 %.
- Eine koronare Erkrankung liegt den Brustschmerzen somit in maximal 15 % der Fälle zugrunde (11 % stabile KHK, 4 % akutes Koronarsyndrom).
ICD-10
- R07.4: Brustschmerzen, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Überlegungen
- Empfohlene Vorgehensweise gemäß DEGAM3
- Bei Brustschmerz ist der Ersteindruck sehr wichtig: Bestehen pathologische Vitalparameter, soll eine dringliche stationäre Einweisung erfolgen.3
- Zeichen des akuten Kreislaufversagens (Schockindex > 1)
- Bewusstseinstrübung und/oder Verwirrtheit
- (unmittelbar vorangegangene) Synkope oder Kollaps
- Kaltschweißigkeit
- aktuelle Ruhedyspnoe
- ausgeprägte Angst der Patient*innen
- Bei fehlenden lebensbedrohlichen Symptomen erfolgen Anamnese, körperliche Untersuchung und psychosoziale Einschätzung der Patient*innen.
- Zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit einer kardialen Ursache wird der Marburger Herz-Score empfohlen. Pro erfülltem Kriterium wird 1 Punkt vergeben:
- Alter und Geschlecht (Männer ≥ 55 J. und Frauen ≥ 65 J.)
- bekannte vaskuläre Erkrankung
- Beschwerden belastungsabhängig
- Schmerzen sind durch Palpation nicht reproduzierbar.
- Patient*in vermutet Herzkrankheit als Ursache.
- Ab 3 Punkten besteht mittlere bis hohe Wahrscheinlichkeit für kardiale Ursache, sodass EKG abgeleitet und ggf. Troponin ermittelt werden sollte.
- Positives Troponin weist zwar einen Myokardinfarkt zuverlässig nach, ausschließen kann man ihn aber erst bei Symptomdauer > 12 h.
- bei EKG-Veränderungen dringliche stationäre Einweisung.
- Bei unauffälligem EKG und fehlenden Risikofaktoren (siehe nächste Zeile) kann eine symptomatische Behandlung und ggf. ambulante Diagnostik bezüglich KHK (Belastungs-EKG) erfolgen.
- Folgende Risikofaktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein ACS und sollten bei der Entscheidungsfindung zur stationären Einweisung beachtet werden:
- neu aufgetretene Beschwerden in Ruhe
- Beschwerdedauer in Ruhe > 20 min
- Crescendo Angina
- Patient*in ist „anders“ als sonst.
- Patient*in „gefällt“ Ihnen nicht.
- Patient*in ist kaltschweißig.
- Patient*in ist blass.
- Vorsicht: Zusammenhänge zwischen kardialen Beschwerden und Brustwandsyndromen sind möglich. Patient*in kann aufgrund kardialer Probleme immer wieder Brustwandschmerzen bekommen.
Mögliche Differenzialdiagnosen
- Übersicht über mögliche Differenzialdiagnosen
- KHK
- Herzinfarkt
- akutes Koronarsyndrom
- Lungenembolie
- Pneumothorax
- Aortendissektion
- Herzklappenvitien
- Ösophagusruptur (Boerhaave-Syndrom)
- Brustwandsyndrom
- Deformitäten des Thorax und Rippenfehlbildungen
- Polymyalgia rheumatica
- respiratorische Infekte
- gastrointestinale Ursachen (Reflux)
- psychogene Störungen
- Pancoast-Tumor
- Die 4 häufigsten Differenzialdiagnosen werden im Folgenden mithilfe von Angaben der DEGAM genauer erläutert.3
Brustwandsyndrom (25–50 % der Fälle)
- Für ein Brustwandsyndrom sprechen:
- lokalisierte Muskelverspannung
- stechender Schmerz
- durch Palpation reproduzierbar.
- Gegen ein Brustwandsyndrom sprechen:
Atemwegserkrankungen (10–18 % der Fälle)
- Dafür sprechen:
- Krankheitsdauer unter 24 Stunden (Pneumonie)
- trockener Husten (Pneumonie)
- Durchfall (Pneumonie)
- Temperatur ≥ 38 °C (Pneumonie)
- zäh- oder dünnflüssiger Auswurf (Bronchitis)
- atemabhängige Brustschmerzen (Bronchitis, Pleuritis)
- Rasselgeräusche (Bronchitis)
- Heiserkeit (Tracheitis)
- retrosternales Brennen (Tracheitis)
- Pleurareiben (Pleuritis)
- gedämpfter Klopfschall (Pleuraerguss).
- Dagegen spricht:
- normaler Auskultationsbefund der Lunge (Pneumonie).
Psychische Ursachen (10–18 % der Fälle)
- Hinweise für Angststörung
- Angst-/Panikattacken
- unklare körperliche Symptome (Tachykardie, Schwindel, Luftnot)
- Nervosität, Ängstlichkeit oder Anspannung
- „Nicht in der Lage sein, Sorgen zu stoppen oder zu kontrollieren.“
- Hinweise für depressive Störung
- Stimmung: niedergeschlagen, depressiv oder hoffnungslos
- Anhedonie: Kein/wenig Interesse oder Freude an Dingen, die früher Spaß gemacht haben.
- Hinweise für somatoforme Störung
- wiederholte Konsultationen wegen unspezifischer Beschwerden und bei bereits mehrfach ausgeschlossenen somatischen Ursachen
Ösophago-gastro-intestinale Ursachen (12–17 %)
- Dafür sprechen:
- Schmerz abhängig von Nahrungsaufnahme
- Schmerz auslösbar durch Schlucken
- Übelkeit und Erbrechen
- Besserung auf Antazidaeinnahme
- retrosternaler brennender Schmerz/Sodbrennen.
- Dagegen sprechen:
- bewegungsabhängiger Schmerz
- belastungsabhängiger Schmerz
- atemabhängiger Schmerz.
- Alarmzeichen
- klinische Zeichen einer gastrointestinalen Blutung/unklare Anämie
- Alter > 55 und neu aufgetretene Beschwerden
- Dysphagie
- unklarer Gewichtsverlust
Anamnese
- Abfragen der Red Flags (s. o.), u. a. Synkope, Husten, Dyspnoe
- Abfragen der Kriterien vom Marburger Herz-Score
- Abhängigkeit des Schmerzes von:3
- körperlicher Belastung
- Bewegung
- Inspiration
- Nahrungsaufnahme.
- Eine „erlebte Anamnese“ ist sehr hilfreich zur Einordnung von Brustschmerzen in der Hausarztpraxis.5
- Begleitumstände (sozioökonomische Lage)
- Risikofaktoren (u. a. Nikotinabusus, Familienanamnese, kardiovaskuläre Vorerkrankungen)
- Verhalten von den Betroffenen („Anders“ als sonst?)
- Beurteilung der Aussagekraft von Angaben/Selbsteinschätzung der Patient*innen
Klinische Untersuchung
- Allgemeinzustand
- Fieber
- Blässe
- Kaltschweißigkeit
- schweres Krankheitsgefühl
- starke Unruhe/Angst
- Bei allen Patient*innen mit Brustschmerz sind zu untersuchen:3
- Herz
- Puls (tastbar? Frequenz? Rhythmus?)
- Blutdruck
- Auskultation
- Lunge
- Perkussion
- Auskultation
- Brustwand
- Inspektion (Trauma?)
- Palpation (Reproduzierbarkeit des Schmerzes?)
- Herz
- Weitere Untersuchungen sind nur indiziert, wenn sich entsprechende Hinweise ergeben.3
- Beine
- Risikofaktoren für tiefe Beinvenenthrombose
- Hinweise auf Herzinsuffizienz
- Abdomen
- Schmerz bzw. Ausstrahlung ins Abdomen
- periphere Pulse
- Hinweise auf thorakales Aortenaneurysma
- Beine
Weitere Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Die Labordiagnostik hat nur geringen Stellenwert und ist nur bei entsprechender Verdachtsdiagnose indiziert.3
- Troponin
- zum Nachweis von Myokardinfarkt gut geeignet
- zum Ausschluss nur bei Symptomdauer > 12 h geeignet
- D-Dimere
- nur zum Ausschluss von TVT/Lungenembolie geeignet
- Blutbild
- Inflammationsparameter
- z. B. Pneumonie, rheumatische Erkrankung
- Troponin
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Abhängig von der Verdachtsdiagnose sind ggf. weitere Untersuchungen nötig, z. B.:
- Röntgen-Thorax
- Pneumonie, Rippenfraktur
- Belastungs-EKG, Herzechokardiografie
- Ösophagogastroduodenoskopie
- bei Dysphagie, Gewichtsverlust
- Röntgen-Thorax
Indikationen zur Klinikeinweisung
- Dringliche stationäre Einweisung bei V. a. abwendbar gefährlichen Verlauf, z. B.:
Therapie
Allgemeines zur Therapie
- Nach Anamnese und körperlicher Untersuchung ist – vor jeglicher weiterführenden Diagnostik – mit den Patient*innen die Ersteinschätzung zu besprechen.3
- Somatische und psychosoziale Informationen sind zu einem gemeinsamen Verständnis der Situation zu integrieren.
- In uneindeutigen Situationen ist abwartendes Offenhalten eine oft gewählte Vorgehensweise.3
- Für die Patient*innen kann diese Unsicherheit belastend sein.
- Sinnvoll: „Sicherheitsnetz“ mit Verhaltensweisen und Kontaktdaten für den Fall, dass sich ein bedrohlicher Verlauf abzeichnet bzw. Symptome sich in einer für die Patient*innen besorgniserregenden Weise verändern.
Quellen
Literatur
- Schaufelberger M, Meer A, Furger P, Derkx H et al.. Red Flags - Expertenkonsens - Alarmsymptome der Medizin. Neuhausen am Rheinfall, Schweiz: Editions D&F, 2018.
- Fleischmann T. Fälle Klinische Notfallmedizin - Die 100 wichtigsten Diagnosen. München, Deutschland: Elsevier, 2018.
- Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Brustschmerz. AWMF-Leitlinie Nr. 053-023, DEGAM-Leitlinie Nr. 15, Stand 2011 (in Überarbeitung). www.awmf.org
- Bösner S, Becker A, Haasenritter J et al. Chest pain in primary care: epidemiology and pre-work-up probabilities. Eur J Gen Pract 2009; 15: 141-6. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Schmiemann G, Frantz S. Akute Brustschmerzen in der Hausarztpraxis – Unsicherheit zwischen abwartendem Offenhalten und Notarzteinsatz. Dtsch Med Wochenschr 2019; 144(10): 659-664. www.thieme-connect.com
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
- Annette Becker, Prof. Dr. med., Abteilung Allgemeinmedizin, präventive und rehabilitative Medizin Philipps-Universität Marburg (Review)
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).