Primäre Immundefekte (PID)

Allgemeine Informationen

Definition

  • Primäre Immundefekte (Primary Immunodeficiencies, PID) sind angeborene Erkrankungen des Immunsystems, die zu einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten, Autoimmunerkrankungen und malignen Erkrankungen führen.1
  • Sekundäre, also erworbene Immundefekte können im Zusammenhang mit Erkrankungen wie etwa Malignomen oder HIV, aber auch unter einer Therapie mit Immunsuppressiva auftreten.

Einteilung

  • Das Immunsystem kann grob in 3 Stufen eingeteilt werden:
    1. anatomische und physiologische Barrieren (Haut, Magensäure, Zilien in der Lunge, Lysosomen in der Tränenflüssigkeit und dem Speichel)
    2. angeborene Immunität (Komplementsystem, neutrophile Granulozyten, Makrophagen, Monozyten, Zellrezeptoren)
    3. adaptive Immunität
      • T-Zellen (zelluläre Immunität)
      • B-Zellen (humorale Immunität).
  • PID-Einteilung
    • B-Zelldefekte
    • T-Zelldefekte
    • kombinierte B- und T-Zelldefekte
    • Phagozytendefekte
    • Komplementfaktor-Mangel
    • Sonstige

Häufigkeit

  • Sämtliche PID-Formen sind selten. Die Gesamtinzidenz liegt bei etwa 1:2.000.2
  • Am häufigsten sind variable Immundefekte (CVID, Common Variable Immunodeficiency) und bestimmte Neutropenien wie z. B. die Autoimmunneutropenie.
  • Schwere kombinierte Immundefekte (SCID) sind selten. Die Inzidenz liegt bei etwa 1:60.000.

Diagnostische Überlegungen

  • Primäre Immundefekte sind durch eine pathologische Infektanfälligkeit gekennzeichnet.
    • Diese ist charakterisiert durch:
      • Erreger3
        • Infektionen mit Erregern, die bei Immunkompetenten nur sehr selten schwere Erkrankungen auslösen, z. B. Pneumocystis jirovecii-Pneumonie, CMV-Pneumonie, Candida-Sepsis.
      • Lokalisation3
        • Befall mehrerer Organgebiete
        • ungewöhnliche Lokalisationen z. B. Hirn- oder Leberabszesse
      • Verlauf3
        • lange/chronische und komplikationsreiche Verläufe
      • Intensität3
      • Summe3 
      • = ELVIS3
  • Bei Anzeichen für eine Immundysregulation an PID denken! 
    • Granulome3
      • häufig erstes Anzeichen für einen Immundefekt
      • Auftreten in Lunge, Darm, Haut 
    • Autoimmunität3
      • gehäuftes Auftreten von Autoimmunerkrankungen, z. B. Thyreoiditis und Zytopenien
    • rezidivierendes Fieber3
    • ungewöhnliche Ekzeme
    • Lymphoproliferation3 
      • pathologische Vergrößerung von Leber, Milz und Lymphknoten
    • chronische Darmentzündung3
    • = GARFIELD3

ICPC-2

  • B99 Blut-/Lymph-/Milzerkrankung, andere

ICD-10

  • D80 Immundefekt mit vorherrschendem Antikörpermangel
  • D81 Kombinierte Immundefekte
  • D82 Immundefekt in Verbindung mit anderen schweren Defekten
  • D83 Variabler Immundefekt
  • D84 Sonstige Immundefekte

Differenzialdiagnosen

  • Mittlerweile sind über 430 angeborene Immundefekte bekannt, mit 65 identifizierten Gendefekten.4
  • Die folgenden Auflistungen geben also lediglich einen groben Überblick.

B-Zelldefekte (Mangel an Antikörpern)

  • Humorale Immundefekte
    • Die Hypogammaglobulinämie gehört zu den häufigsten Formen und macht mehr als die Hälfte aller PID aus.
    • Weitere PID-Ursachen sind die X-chromosomale Agammaglobulinämie (XLA) und der schwere kombinierte Immundefekt (Severe Combined Immunodeficiency, SCID).
  • Variabler Immundefekt (CVID)
    • schwerer Antikörpermangel: häufigste Form bei Kindern über 8 Jahren und Erwachsenen, häufig Komplikationen im Teenageralter
  • Vorübergehende Hypogammaglobulinämie bei Kleinkindern
    • Ausschlussdiagnose
    • Selbstlimitierende Störung: Immunglobulinspiegel steigt später als üblich (nach dem 2.–4. Lebensjahr häufig normal).
  • X-chromosomale Agammaglobulinämie (XLA/Bruton Syndrom)
    • klinischer Befund: fehlende Tonsillen
  • IgG-Subklassenmangel
    • In der Regel keine Symptome, kann bei Kindern über 7 Jahren und Erwachsenen jedoch zu häufigen Atemwegsinfektionen und chronischen Lungenschäden führen.
  • Selektiver IgA-Mangel
    • Inzidenz von 1:700, in der Regel keine Symptome
    • evtl. Progression zu CVID

T-Zelldefekte

  • Deletionssyndrom 22q11 (DiGeorge-Syndrom oder velokardiofaziales Syndrom)

Kombinierte B- und T-Zelldefekte

  • Schwerer kombinierter Immundefekt (SCID): verschiedene Varianten
    • Beginn innerhalb der ersten 6 Lebensmonate
    • Gedeihstörungen und schlechte Gewichtszunahme
    • rezidivierende Bronchiolitis, Diarrhö und schwere Infektionen
    • Bei Verdacht auf SCID: umgehende Abklärung/Einweisung
  • Hyper-IgM-Syndrom
  • X-chromosomale lymphoproliferative Erkrankung
    • Betroffene Kinder fallen häufig erst durch eine fulminant verlaufende EBV-Infektion auf.
  • Ataxia telangiectasia
    • progressive Ataxie ab dem Alter von 1–1,5 Jahren
    • Teleangiektasien ab dem Alter von 4–5 Jahren
    • chronische Sinusitiden und Lungenerkrankungen5 
  • Wiskott-Aldrich-Syndrom
    • X-chromosomal vererbte Erkrankung mit einer Mutation des Gens, das für das WAS-Protein kodiert.
    • Ekzeme, bakterielle Infektionen, Blutungsneigung (Thrombozytopenie)5

Phagozytendefekte

    • Eine isolierte Neutropenie tritt am häufigsten kurzzeitig im Zusammenhang mit Virusinfektionen auf. Eine chronische Neutropenie dagegen kann durch genetische Faktoren oder bestimmte Medikamente bedingt sein. PID sind selten Ursache der isolierten Neutropenie.
    • Autoimmunneutropenie
      • Granulozytopenie ab dem 1. Lebensjahr
      • Nachweis von Granulozyten-Antikörper
      • häufig spontane Besserung im Laufe der Kindheit
    • Chronische Granulomatose (CGD)
      • schwerere X-chromosomal und leichtere autosomal-rezessiv vererbte Form
      • Granulombildung in inneren Organen, Abszesse5
      • Infektionen mit Staphylococcus aureus, Pilzen und anderen niedrigpathogenen Mikroben
    • Angeborene schwere Neutropenie
      • Hautinfektionen, Stomatitis, schwere bakterielle Infektionen ab dem Neugeborenenalter
      • erniedrigte Granulozytenzahl im Blut
      • lebenslange G-CSF-Therapie (Granulozytenkolonien stimulierender Faktor)

Anamnese

Warnzeichen

      • Übernommen aus dieser Referenz.3
      • Pathologische Infektionsanfälligkeit „ELVIS“ (Erreger, Lokalisation, Verlauf, Intensität, Summe)
      • Immundysregulation „GARFIELD“ (Granulome, Autoimmunität, rezidivierendes Fieber, ungewöhnliche Ekzeme, Lymphoproliferation, chronische Darmentzündung)
      • Gedeihstörung bei Kindern, bei Erwachsenen meist Gewichtsverlust und anhaltende Diarrhöen
      • Auffällige Familienanamnese (Konsanguinität, Immundefekt, pathologische Infektionsanfälligkeit, Immundysregulation, Lymphome)
      • Hypogammaglobulinämie, anhaltende oder rezidivierende Lymphopenie, Neutropenie, Thrombozytopenie
      • Ein genetischer Hinweis auf einen primären Immundefekt oder ein positives Neugeborenen-Screening auf primäre Immundefekte

Klinische Untersuchung

      • Übernommen aus dieser Referenz.6
      • Auffälligkeiten bei Körperbehaarung und Zähnen
        • Alopezie, Vigilismus, Albinismus
        • Nageldystrophien
        • schwere Stomatitis/Aphthen
          • Hinweis auf syndromale Krankheitsbilder?
      • Fehlende Lymphknoten/Tonsillen, Asplenie, Hepatosplenomegalie
      • Ataxie, Mikrozephalie, Makrozephalie
      • Wachstumsretardierung

Ergänzende Untersuchungen

In der Hausarztpraxis

Bei Spezialist*innen

      • Spezifische Zusatzuntersuchungen (Lymphozytenphänotypisierung, Bestimmung von Impf-Antikörpern, IgG-Subklassenanalyse, Eiweißelektrophorese, genetische/molekulargenetische Analysen etc.)5

Maßnahmen und Empfehlungen

Überweisungen/Klinikeinweisungen/Notfälle

      • Bei Verdacht auf oder Anhaltspunkten für einen angeborenen Immundefekt Überweisung an ein spezialisiertes Zentrum
      • Bei folgenden medizinischen Notfällen sofortige Einweisung, möglichst in Uniklinik oder spezialisiertes Zentrum:7
        • Erythrodermie in den ersten Lebenswochen (Verdacht auf schweren kombinierten Immundefekt)
        • schwere Lymphopenie im 1. Lebensjahr (Verdacht auf schweren kombinierten Immundefekt)
        • persistierendes Fieber und Zytopenie (Verdacht auf primäres Hämophagozytosesyndrom)
        • schwere Neutropenie im Kindesalter (< 500/µl, Verdacht auf schwere kongenitale Neutropenie)
        • schwere Hypogammaglobulinämie (Verdacht auf schweren kombinierten Immundefekt oder Agammaglobulinämie)

Therapie

      • Verschiedene Therapiemöglichkeiten je nach Diagnose und Schwere der Erkrankung
      • Frühzeitige Behandlung bei Verdacht auf eine bakterielle Infektion
        • in schweren Fällen (SCID) prophylaktische Behandlung mit Antibiotika, Virustatika und Antimykotika8
      • Verabreichung von Immunglobulinen9 
      • Zytokine, z. B. G-CSF
      • Allogene Knochenmarktransplantation
        • Analysen belegen eine sehr gute Überlebensrate (> 80 %)10 bei Kindern mit SCID, bei denen frühzeitig im 1. Lebensjahr eine allogene Knochenmarktransplantation durchgeführt wird. Die besten Ergebnisse werden mit Geschwistern als Spender*innen erzielt.11
      • Enzymtherapie
      • Gentherapie aktuell im Rahmen von Studien10 

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

      • Aufklärung über frühe Anzeichen möglicher Infektionen
      • Ggf. Infektionsprophylaxe

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Immunologie. Diagnostik auf Vorliegen eines primären Immundefektes (PID). AWMF-Leitlinie Nr. 112-001. S2k, Stand 2017.  www.awmf.org
  • Arbeitsgemeinschaft pädiatrische Immunologie. Therapie primärer Antikörpermangelerkrankungen. AWMF-Leitlinie Nr. 189-001. S3, Stand 2019. www.awmf.org

Literatur

  1. Jyothi S, Lissauer S, Welch S, Hackett S. Immune deficiencies in children: an overview. Postgrad Med J 2013; 89: 698-708. PubMed
  2. Boyle JM, Buckley RH. Population prevalence of diagnosed primary immunodeficiency diseases in the United States. J Clin Immunol 2007; 27: 497-502. PubMed
  3. Deutsche Gesellschaft für Immunologie. Diagnostik auf Vorliegen eines primären Immundefektes (PID). AWMF-S2k-Leitlinie Nr. 112-001, Stand 2017. www.awmf.org
  4. Castagnoli R, Notarangelo LD. Updates on new monogenic inborn errors of immunity. Pediatr Allergy Immunol. 2020 Nov;31 Suppl 26(Suppl 26):57-59. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. McCusker C, Upton J, Warrington R. Primary immunodeficiency. Allergy Asthma Clin Immunol. 2018 Sep 12;14(Suppl 2):61. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  6. De Vries, E et al. Patient-centred screening for primary immunodeficiency, a multi-stage diagnostic protocol designed for non-immunologists: 2011 update.Clin Exp Immunol 2012;167(1)108-19.
  7. Farmand, S.; Ehl, S. Primäre Immundefekte: Wenn ein Infekt auf den anderen folgt. Dtsch Arztebl 2019; 116(27-28). www.aerzteblatt.de
  8. Segundo GRS, Condino-Neto A. Treatment of patients with immunodeficiency: Medication, gene therapy, and transplantation. J Pediatr (Rio J). 2021 Mar-Apr;97 Suppl 1:S17-S23. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  9. Arbeitsgemeinschaft pädiatrische Immunologie. Therapie primärer Antikörpermangelerkrankungen. AWMF-S3-Leitlinie Nr. 189-001, Stand 2019. www.awmf.org
  10. Bucciol G, Meyts I. Recent advances in primary immunodeficiency: from molecular diagnosis to treatment. F1000Res. 2020 Mar 19;9:F1000 Faculty Rev-194. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Pai S-Y, Logan BR, Griffith LM, et al. Transplantation outcomes for severe combined immunodeficiency, 2000-2009. N Engl J Med 2014; 371: 434-46. doi:10.1056/NEJMoa1401177 DOI

Autor*innen

  • Kristin Haavisto, Dr. med., Fachärztin für Innere Medizin und Hämato-/Onkologie, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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