Diagnostik von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung

Vernachlässigung und Kindesmisshandlung kommen in allen Ländern dieser Welt und in allen sozialen Schichten vor. Diese können sich in verschiedenen Formen, wie z. B. körperlicher und psychischer Gewalt sowie sexuellem Missbrauch, äußern und für die betroffenen Kinder schwere Konsequenzen hinsichtlich ihrer Gesundheit und Entwicklung haben.

Welche Formen der Vernachlässigung und Kindesmisshandlung gibt es?

Vernachlässigung und Kindesmisshandlung wird meist in folgende Gruppen, die sich jedoch häufig überschneiden, eingeteilt:

  • Vernachlässigung. Bedürfnisse der Kinder, seien es körperlicher oder seelischer Art, werden nicht erfüllt.
  • Körperliche Gewalt. Umfasst jegliche absichtliche physische Gewalt wie Schläge, Verbrennungen oder nicht-unallbedingte Kopfverletzungen bei Babys.
  • Psychische Gewalt. Umstände, die Kinder in ihrer seelischen Entwicklung beeinträchtigen können. Dazu gehören beispielsweise Ablehnung oder Überforderung.
  • Sexueller Missbrauch. Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt werden.

Wie wird Kindesmisshandlung und Vernachlässigung erkannt?

Vernachlässigung und Kindesmisshandlung bleiben noch immer häufig unerkannt. Der Verdacht, dass ein Fall von Kindesmisshandlung vorliegt, kann von verschiedenen Seiten geäußert werden, z. B. durch die Schule, medizinisches Personal oder bestimmte Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, gleichermaßen aber auch durch Betroffene oder Familienangehörige selbst. Aufgabe der Ärztin/des Arztes ist dann eine sorgfältige Klärung der Situation durch Gespräche mit der Familie und gründliche Untersuchung des Kindes, um den körperlichen und psychischen Entwicklungszustand sowie eventuelle Verletzungen zu beurteilen. Dabei ist es wichtig, einfühlsam und ohne Vorurteile vorzugehen. Wichtigstes Ziel außerhalb der direkten Gefährdungssituation ist es, den erhobenen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zu erhärten oder entkräften. Die Schritte der Untersuchung richten sich dabei nach Schwere und Art der vermuteten Kindesmisshandlung.

Vernachlässigung

Vernachlässigung kann sich bei betroffenen Kindern durch verschiedene Symptome äußern. Wenn die Kinder mangelhaft ernährt oder versorgt werden, kann dies körperliche Auswirkungen haben, z. B. vermindertes Wachstum, Hautsymptome oder ein schlechter Zahnstatus. Auch inzwischen unübliche Vitaminmangelerkrankungen können bei fehlernährten Kindern vorkommen und sollten von den Ärzten erkannt werden. Wichtig ist es, auf die bei Kindern durchzuführenden Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen zu achten, die möglicherweise versäumt wurden. Schwerer zu beurteilen sind die möglichen psychischen Konsequenzen der Vernachlässigung, die sich in Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität, Bindungsstörungen oder Depression äußern können. Die behandelnde Ärztin/der behandelnde Arzt sollte ein derart auffälliges Kind auf jeden Fall erneut sehen, um den Entwicklungsverlauf beurteilen zu können.

Körperliche Gewalt

Die Möglichkeit von körperlicher Gewalt sollte bei Kindern grundsätzlich bei jeder Art von Verletzungen in Erwägung gezogen werden, jedoch haben Kinder auch in ihrem natürlichen Verhalten ein hohes Risiko für Verletzungen. Es gibt daher einige Verletzungsmuster, die speziellen Verdacht erwecken lassen sollten. Nach Stürzen beispielsweise sind Verletzungen an Stellen wie dem Hals, dem Gesäß und dem Körperstamm eher ungewöhnlich. Auch bestimmte Knochenbrüche, wie z. B. komplizierte Schädelfrakturen sollten sorgfältig untersucht und auf Plausibilität geprüft werden. Symmetrische, scharf begrenzte Verbrennungen bzw. Verbrühungen ohne Abtropfspuren, insbesondere an ungewöhnlichen Stellen, sollten ebenfalls genauer abgeklärt werden.

Eine schwere Folge körperlicher Gewalt gegenüber Kindern können innere Verletzungen der Bauchorgane oder eine Schädelblutung nach nicht-unfallbedingten Kopfverletzungen bei Babys sein. Wenn Ärzte körperliche Gewalt als Ursache einer Verletzung vermuten, muss das Kind ggf. in ein Krankenhaus eingewiesen werden, um weitere Untersuchungen durchzuführen. Dazu gehören häufig eine Ultraschalluntersuchung der Bauchorgane, eine Bildgebung des Schädels mittels CT oder MRT und eine Röntgenuntersuchung des Skeletts, insbesondere bei Kindern unter zwei Jahren.

Spätestens bei wiederholtem Auftreten von untypischen Verletzungen sollte die Ärztin/der Arzt dem Verdacht auf körperliche Gewalt nachgehen. Es kommt vor, dass Eltern trotz ernster Verletzungen oft erst spät Kontakt zu Ärzten aufnehmen und die Schuld am Unfall dem Kind schreiben. Hier liegt es am ärztlichen Personal, genau zu prüfen, ob der beschriebene Unfallhergang mit den vorhandenen Verletzungen zusammenpasst.

Psychische Gewalt

Psychische Gewalt ist mitunter schwer zu erkennen, aber sie kann schwere Auswirkungen auf die psychische Verfassung und Entwicklung des Kindes verursachen. Gleichermaßen können viele psychische Symptome auch ohne zugrunde liegende Misshandlung auftreten, sodass hier eine sorgfältige Abklärung unter Einbezug von Ärzten der Kinder- und Jugendpsychiatrie notwendig ist. Mögliche Symptome sind Depression, starke Wut und Aggressionen, Essstörungen, Angststörungen und sozialer Rückzug. All diese Symptome sind stark altersabhängig. Während Kleinkinder z. B. Sprachentwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten wie spätes Daumenlutschen entwickeln, zeigen Schulkinder eher hyperaktives Verhalten oder Kontaktstörungen. Nach einem einschneidenden Ereignis kann es auch bei Kindern und Jugendlichen zu einer posttraumatischen Belastungsstörung kommen, die sich in wiederkehrenden Erinnerungen, Alpträumen und zurückgezogenem Verhalten äußern kann. Für die Diagnose und Behandlung einer psychischen Störung wird das betroffene Kind meist an Ärzte oder Zentren, die auf Kinder- und Jugendpsychiatrie spezialisiert sind, weiterverwiesen. Wichtig ist es allerdings auch in diesen Fällen, den Entwicklungsstatus des Kindes, z. B. anhand von Größe und Gewicht, zu erfassen.

Sexueller Missbrauch

Sexueller Missbrauch umfasst ein großes Spektrum möglicher Handlungen gegenüber Kindern und reicht von unangebrachter Entblößung Erwachsener bis hin zu Vergewaltigungen. Die Folgen sind meist sehr unspezifisch und umfassen emotionale und psychische Reaktionen, nicht selten zeigen die Kinder jedoch ein für ihr Alter unangemessenes sexualisiertes Verhalten. Da es sich um einen sehr sensiblen Prozess handelt, sollten die Gespräche und Untersuchungen auf jeden Fall von psychologisch geschulten Fachärzten begleitet werden. Hierbei wird auch über die Dringlichkeit einer Behandlung und Beteiligung des Jugendamtes zum Schutz des Kindes entschieden.

Weitere Schritte

Die ausführliche Gesprächsführung und ärztliche Untersuchung sind die wichtigsten ersten Schritte. Sie sollten beim Verdacht auf Missbrauch besonders gründlich durchgeführt werden. Abhängig von der Situation und der weiteren Gefährdung des Kindes werden in Absprache mit der Familie andere Fachärzte, psychosozial geschultes Personal und weitere Einrichtungen wie die Jugendhilfe, Kinderschutzzentren und Beratungsstellen hinzugezogen und bestimmte Maßnahmen zum Schutze des Kindes eingeleitet. Eine Möglichkeit besteht in einer sogenannten Helferkonferenz: Hier kommt die Familie mit Helfern verschiedener Fachrichtungen und Betreuern wie z. B. Lehrern zusammen, um die Situation des Kindes zu besprechen. Wenn eine akute Kindeswohlgefährdung besteht, können die Behandelnden unter bestimmten Umständen auch ohne Zustimmung der Eltern und unter Umgehung der ärztlichen Schweigepflicht das Jugendamt oder sogar die Polizei einbeziehen.

Weitere Informationen

Autoren

  • Jonas Klaus, Arzt, Freiburg i. Br.

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit

Literatur

Dieser Artikel basiert auf dem Fachartikel Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Nachfolgend finden Sie die Literaturliste aus diesem Dokument.

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. S3-Leitlinie Kindesmisshandlung, - missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie). AWMF-Leitlinie Nr. 027-069, Stand 2019. register.awmf.org
  2. Münch H. Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewaltopfer – Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistik 2019. Pressestatement. Berlin, 11. Mai 2020. www.bka.de
  3. Bundekriminalamt. PKS 2022 Bund - Falltabellen. Wiesbaden 2023. www.bka.de
  4. Deutscher Kinderschutzbund (DKSB), Landesverband Niedersachsen. Ärztlicher Leitfaden Kinderschutz. Hannover 2013. www.kinderschutz-niedersachsen.de
  5. Münnch T. Kindesmisshandlung - Neue Regeln für die Meldepflicht. Der Allgemeinarzt, 2013; 35: 42-44. www.doctors.today
  6. Bundesärztekammer. (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte. Stand 2021. www.bundesaerztekammer.de
  7. Landesärztekammer Thüringen, et al (Hrsg.). Gewalt gegen Kinder - Thüringer Leitfaden für Ärzte und Psychotherapeuten. 3. Auflage, 2015. www.bundesaerztekammer.de
  8. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2023. Stand 06.12.2022 www.dimdi.de
  9. Rüth U, Freisleder FJ. Ärztliche Diagnose und Befunde – Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. In: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration (Hrsg.) Gewalt gegen Kinder und Jugendliche - Erkennen und Handeln - Leitfaden für Ärztinnen und Ärzte. Letzter Zugriff am 07.07.2017 www.aerzteleitfaden.bayern.de
  10. Mützel E, Heinrich M, Penning R, Graw M. 3. Ärztliche Diagnose und Befunde – Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. 3.1. Körperliche Gewalt. In: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration (Hrsg.). Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – Erkennen und Handeln. Leitfaden für Ärztinnen und Ärzte. München 2012. www.aerzteleitfaden.bayern.de
  11. Landesärztekammer Baden-Württemberg. Leitfaden für Ärztinnen und Ärzte – Gewalt gegen Kinder. Stuttgart 2013. www.aerztekammer-bw.de
  12. Bundesinitiative Frühe Hilfen. Qualität in den Frühen Hilfen. Wissenschaftlicher Bericht 2020 zum Thema Qualitätsentwicklung. www.fruehehilfen.de
  13. Paul M, Nationales Zentrum Frühe Hilfen, und BzGA. Persönliche Auskunft per E-Mail am 22.03.2019.
  14. Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg. Frühe Hilfen - Vernetzung für wirksamen Kinderschutz. Letzte Aktualisierung: 01.08.2023 www.kvbawue.de