Pavor nocturnus (Nachtschreck)

Zusammenfassung

  • Definition:Der Pavor nocturnus gehört zur Gruppe der Parasomnien und tritt als wiederkehrende Schlafstörung bei Kindern üblicherweise im ersten Drittel des Schlafes auf.
  • Häufigkeit:Etwa 1–6 % aller Kinder sind betroffen, der Häufigkeitsgipfel liegt im Alter zwischen 3 und 5 Jahren.
  • Symptome:Es kommt zu plötzlichem Erwachen aus dem Schlaf mit intensivem Angstgefühl, Panikschrei, starker vegetativer Reaktion und erschwerter Erweckbarkeit. Anschließend besteht oft eine Erinnerungslücke für die Episode.
  • Befunde:Es sind keine auffälligen Befunde zu erwarten.
  • Diagnostik:Diagnosestellung anhand der Schilderung typischer Episoden.
  • Therapie:Der Pavor nocturnus bedarf bei sporadischem Auftreten meist keiner spezifischen Therapie. Aufklärung über die Erkrankung und Beachtung von Verhaltenshinweisen (z. B. Schlafhygiene). Bei organischer oder psychischer Komorbidität ggf. weitere Behandlung.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Pavor nocturnus (auch Nachtschreck oder Nachtangst) gehört zur Gruppe der Parasomnien und somit zu den nichtorganischen Schlafstörungen.1-2
    • plötzliches Erwachen und intensives Angstgefühl1-3
    • ggf. in Begleitung eines Panikschreis und Zeichen vegetativer Erregung
    • Desorientiertheit und erschwerte Erweckbarkeit1,3-4
    • häufig anschließender Erinnerungsverlust für die Episode
    • Pavor nocturnus tritt meist im ersten Drittel des Schlafes auf.1
  • Zu Parasomnien kommt es überwiegend in der Kindheit, im Verlauf der Adoleszenz werden sie seltener.1
  • Der Pavor nocturnus ist gutartig und bedarf in den meisten Fällen keiner spezifischen Therapie.1-2
    • Schlafstörungen können in Ausnahmefällen zu hohem Leidensdruck für Betroffene und Angehörige führen sowie negative Auswirkungen auf das soziale und schulische bzw. berufliche Leben haben.1-2

Häufigkeit

  • Parasomnien treten überwiegend im Kindesalter auf, können aber ebenfalls Erwachsene betreffen.
  • Etwa 1–6,5 % der Kinder zwischen 1 und 12 Jahren leiden an Pavor nocturnus.1-2
    • Prävalenzgipfel zwischen 3 und 5 Jahren
    • Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen.2

Ätiologie und Pathogenese

  • Der Nachtschlaf besteht aus Schlafzyklen (ca. 90 min.) bestehend aus je zwei Stadien:1-2,4
    • Non-REM-Schlaf (NREM-Schlaf): Umfasst Einschlafphase, Schlafbeginn und Tiefschlafphase.
    • REM-Schlaf: Traumphase, Verlust des Muskeltonus, schnelle Augenbewegungen, vegetative (parasympathische) Reaktionen
  • Während der kindlichen Entwicklung verändert sich das Schlafmuster.1
    • bei Neugeborenen noch keine Schlafstadien im NREM-Schlaf
    • zyklischer Wechsel der Schlafstadien wesentlich häufiger als bei Erwachsenen
  • Der Pavor nocturnus gehört zu den Parasomnien des Non-REM-Schlafs.1-2,4-6
    • Als Ursache wird eine gestörte Weckreaktion des Körpers (Arousal) angenommen.
    • In EEG-Studien konnte eine Dissoziation von Wachheit und Schlaf in verschiedenen Hirnregionen nachgewiesen werden.

Prädisponierende Faktoren

  • Aufgrund der familiären Häufung des Auftretens ist eine genetische Disposition anzunehmen.1,6-7
  • Verschiedene auslösende Faktoren wurden identifiziert:1,6
    • Fieber
    • Schlafentzug
    • Medikamentennebenwirkungen
    • emotionaler Stress
    • unruhige Schlafumgebung.

ICPC-2

  • P06 Schlafstörung

ICD-10

  • F51.4 Pavor nocturnus

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

Leitlinie: Diagnosekriterien des Pavor nocturnus1

  • Diagnostische Kriterien gemäß ICD-10
    • wiederholte Episoden (2 oder mehr) von Erwachen aus dem Schlaf mit einem Panikschrei, heftiger Angst, Körperbewegungen und vegetativer Überempfindlichkeit mit Tachykardie, Herzklopfen, schneller Atmung und Schweißausbruch
    • Diese Episoden treten während des ersten Drittels des Nachtschlafs auf.
    • Die Dauer beträgt weniger als 10 min.
    • Wenn andere Personen versuchen, auf die Betroffenen während der Episode beruhigend einzuwirken, hat dies keinen Erfolg. Solchen Bemühungen folgen Desorientiertheit und perseverierende Bewegungen.
    • Die Erinnerung an das Geschehen ist sehr begrenzt.
    • Verursachende organische Faktoren fehlen, wie z. B. neurologische oder internistische Krankheitsbilder, Einnahme psychotroper Substanzen oder eine Medikation.
  • Weitere Anmerkungen der Leitlinienautor*innen
    • genetische Disposition, da familiäre Häufung
    • Prävalenzgipfel zwischen 3 und 5 Jahren
    • Auslöser: z. B. Fieber, Medikamenteneinfluss, Schlafmangel

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Befragung von den Betroffenen und ihren Bezugspersonen1
  • Schlafanamnese unter Berücksichtigung von u. a.:1-2
    • Schlafgewohnheiten (Uhrzeiten, Dauer, Ort)
    • Einschlafassoziationen
    • Schwierigkeiten beim Wiedereinschlafen; nächtliche Aktivitäten
    • Verhalten während des Schlafs (Unruhe, Schnarchen, Bettnässen etc.)
    • Gesamtschlafdauer, Dauer ungestörter Schlafepisoden
    • Rahmenbedingungen des Schlafes
      • auch: Medienkonsum, Konsum von Koffein (Energy-Drinks)
  • Exakte Schilderungen der Episoden von Pavor nocturnus1-2
    • Häufigkeit und Dauer von Attacken sowie erstmaliges Auftreten
    • Symptomatik und Begleitphänomene
    • Erweckbarkeit und Orientiertheit
    • Reaktionen der Bezugspersonen
    • bekannte Triggerfaktoren
  • Ggf. Führen eines Schlaftagebuchs1
  • Anamnese hinsichtlich der kindlichen Entwicklung1-2
  • Psychosoziale Belastungsfaktoren
  • Familienanamnese
  • Berücksichtigung möglicher organischer oder psychischer Komorbidität1
    • z. B. Belastungen, Anpassungsstörungen, phobische Störungen, andere Angststörungen, affektive Störungen, nichtorganische Insomnie, Suizidalität
    • organische Komorbidität (z. B. Schmerzzustände, Bettlägerigkeit)

Klinische Untersuchung

  • Allgemeine körperliche Untersuchung bei häufigem Pavor nocturnus
    • bei Pavor nocturnus ohne Komorbiditäten in der Regel unauffällig
  • Bei Auffälligkeiten ggf. orientierende neurologische bzw. neuropsychiatrische Untersuchung2

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Ggf. weiterführende neuropsychologische Untersuchung, Beschwerdefragebögen oder Persönlichkeitstests1-2
  • Die apparative Zusatzdiagnostik ist fakultativ und für die Diagnosestellung verzichtbar.
  • (Video-)Beobachtung zur Erfassung der Episoden von Pavor nocturnus1
  • Routine-EEG1
    • bei V. a. epileptische Anfälle sowie bei Schwierigkeiten einer Abgrenzung des Pavor nocturnus (z. B. atypische Präsentation)
  • Polysomnografie
    • umfassende Untersuchung während des Schlafes (u. a. Atmung, EEG, Muskelaktivität1
    • Durchführung bei häufigem Pavor nocturnus (> 2 x/Woche), uneindeutiger Abklärung oder Anhalt für epileptogene oder dissoziative Genese1-2
  • Aktigrafie1
    • Aufzeichnung der Bewegungen im Schlaf über einen längeren Zeitraum (Wochen/Monate)
    • Erfassung des Schlaf-Wach-Musters und weiterer Parameter
  • Zerebrale Bildgebung nur bei Verdacht auf eine neurologische Erkrankung1

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf eine organische oder psychiatrische Grunderkrankung, bei anhaltend hoher Frequenz des Pavor nocturnus sowie bei starker Belastung für die Betroffenen und Bezugspersonen

Therapie

Therapieziele

  • Aufklärung über die Gutartigkeit der Erkrankung, Grundlagen der Schlafphysiologie und Prinzipien Schlafhygiene
  • Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität der Betroffenen und Angehörigen
  • Mitbeteiligung der Bezugsperson(en) in Aufklärung und Maßnahmen stellt einen wesentlichen Teil der Behandlung dar.1

Allgemeines zur Therapie

Leitlinie: Therapieempfehlungen bei Pavor nocturnus1

  • Sicherung der Schlafumgebung
  • Einhalten der Schlafhygiene und -empfehlungen (Lärm, Kälte, etc.)
    • Da Pavor nocturnus und Somnambulismus an den Tiefschlaf gebunden sind, führt ein Tiefschlaf-Rebound (z. B. durch Schlafentzug) zu einer erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit.
  • Ggf. können kurze Schlafphasen tagsüber helfen, um Schlafdruck und Tiefschlafphasen zu reduzieren.
  • Ggf. bei regelmäßigem und uhrzeitgebundenem Episodenbeginn leichte Aufwachreaktion evozieren, 15–30 min bevor Episode erwartet wird.
  • Bei starker Belastung/Stress ggf. ein Entspannungsverfahren einsetzen.
    • Hier eignet sich z. B. eine altersgerechte progressive Muskelrelaxation, ggf. auch kindgerechtes autogenes Training.
    • Der Bezug zu dem täglichen Stresserleben sollte beleuchtet werden und stressige Tagesereignisse ggf. verändert werden (z. B. zu viele Termine pro Woche/Tag).
  • Sehr selten bei starker Eigengefährdung/Fremdgefährdung kann der Versuch einer Pharmakotherapie mit einem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer erwogen werden.
    • Der angenommene Wirkmechanismus besteht bei allen Substanzen in einer Symptomverminderung durch eine Veränderung der Erregungsschwelle.
  • Bei sporadischem Auftreten besteht keine Behandlungsbedürftigkeit.1-2
    • Beruhigung der Angehörigen dennoch von Bedeutung
  • Grundlage einer Behandlung sind Aufklärung und Verhaltenshinweise.1-2
    • Mögliche psychosoziale Belastungen sollten adressiert werden.
    • Empfehlungen zur Schlafhygiene sollten befolgt und Schlafmangel vermieden werden.
    • Aggressive Weckversuche während des Pavor nocturnus können das Kind weiter verängstigen und sollten vermieden werden.2

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Beginn von Pavor nocturnus meist im Kindesalter, insbesondere im Alter von 3–5 Jahren1
  • Ohne entsprechende Aufklärung können die Episoden zu großer Beunruhigung bei Bezugspersonen und psychischer Belastung führen.1-2

Prognose

  • Parasomnien wie der Pavor nocturnus treten überwiegend auf die Kindheit beschränkt auf und sistieren meist vollständig im Laufe der Adoleszenz.1-2

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Nichtorganische Schlafstörungen (F51). AWMF-Leitlinie Nr. 028-012. S1, Stand 2018. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Nichtorganische Schlafstörungen (F51). AWMF-Leitlinie Nr. 028-012, Stand 2018. www.awmf.org
  2. Leung, Alexander K C et al. “Sleep Terrors: An Updated Review.” Current pediatric reviews vol. 16,3 (2020): 176-182. doi:10.2174/1573396315666191014152136 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Byars KC, Yolton K, Rausch J, Lanphear B, Beebe DW. Prevalence, patterns, and persistence of sleep problems in the first 3 years of life. Pediatrics. 2012 Feb. 129(2):e276-84. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Castelnovo, Anna et al. “NREM sleep parasomnias as disorders of sleep-state dissociation.” Nature reviews. Neurology vol. 14,8 (2018): 470-481. doi:10.1038/s41582-018-0030-y www.nature.com
  5. Stores G. Aspects of parasomnias in childhood and adolescence. Arch Dis Child 2009; 94: 63-9. PubMed
  6. Guilleminault C, Palombini L, Pelayo R et. al. Sleepwalking and sleep terrors in prepubertal children: what triggers them?. Pediatrics 2003; 111: 17-25. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Kotagal S. Parasomnias of childhood. Curr Opin Pediatr 2008; 20: 659-65. PubMed

Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Freiburg im Breisgau
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit