Nichtakzidentelles Schädel-Hirn-Trauma (Schütteltrauma)

Zusammenfassung

  • Definition:Häufige Form eines nichtakzidentellen Schädel-Hirn-Traumas, bei dem das kräftige Schütteln eines Kindes zu subduralen und retinalen Blutungen sowie zu einer diffusen Hirnschädigung führt.
  • Häufigkeit:Die Häufigkeit wird für Deutschland auf 100–200 Fälle pro Jahr geschätzt.
  • Symptome:Das Spektrum reicht von leichten unspezifischen bis zu schweren neurologischen Symptomen. Häufig sind eine verspätete Vorstellung beim Arzt und Widersprüche zwischen der Art der Verletzung und dem beschriebenen Ereignishergang. Zudem können multiple oder unterschiedlich alte Verletzungen vorliegen.
  • Befunde:Charakteristisch sind Subduralblutungen und retinale Blutungen, Rippenfrakturen und thorakale Hämatome.
  • Diagnostik:Vorrang haben eine sorgfältige und gut dokumentierte Anamnese und körperliche Untersuchung mit Bild- und/oder Videodokumentation äußerlich erkennbarer Verletzungen. Eine MRT oder bei vitaler Gefährdung eine CT des Kopfes und ggf. der Wirbelsäule sowie eine Röntgenuntersuchung des gesamten Skeletts sind bei entsprechendem Verdacht indiziert.
  • Therapie:Etwaige Verletzungen sind zu behandeln. Eine stationäre Aufnahme des Kindes sollte stets erwogen werden. Eine frühzeitige Kontaktaufnahme zum zuständigen rechtsmedizinischen Institut sowie zum Jugendamt sollte in Betracht gezogen werden.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Schädel-Hirn-Trauma bei Säuglingen oder Kleinkindern, das durch absichtliches heftiges Schütteln entsteht.1
  • Das Kind wird so stark geschüttelt, dass es zu starken unkontrollierten Kopfbewegungen mit einer ausgeprägten rotatorischen Komponente kommt.
  • In den einschlägigen Leitlinien wird vom Gebrauch des Begriffs „Schütteltrauma" und ähnlicher Begriffe abgeraten.2
    • Stattdessen wird der Begriff „nichtakzidentelles Schädel-Hirn-Trauma" bevorzugt, da dieser neutral sei und weder den Verletzungsmechanismus noch die Intention der verursachenden Person vorwegnehme.
  • Häufige Befunde sind Subduralhämatome (SDH), retinale Blutungen (RB) und Anzeichen einer schweren diffusen Hirnschädigung im Sinne einer akuten Enzephalopathie.3
  • Es wird davor gewarnt, allein auf Grundlage derartiger Befunde voreilig ein nichtakzidentelles Schädel-Hirn-Trauma zu diagnostizieren.4-5
  • Bei den Täter*innen handelt es sich zumeist um Väter oder neue Lebenspartner der Mütter, eher selten um Babysitter oder die Mütter.3
  • Näheres siehe auch Artikel Kindesmisshandlung und Vernachlässigung.

Häufigkeit

  • Die Häufigkeit in Deutschland wird auf 100–200 Fälle pro Jahr geschätzt, wobei keine offiziellen Daten vorliegen.
  • Im Säuglings- und Kleinkindesalter ist das nichtakzidentelle Schädel-Hirn-Trauma die gravierendste Form einer Misshandlung und die häufigste nicht-natürliche Todesursache.3

Ätiologie und Pathogenese

  • Die Biomechanik, die bei starkem Schütteln eines Babys zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen kann, ist noch nicht im Einzelnen geklärt.6
    • Das biomechanische Konzept des „Schütteltraumas" wurde daher immer wieder grundsätzlich infrage gestellt.
    • Aus naheliegenden ethischen Gründen sind keine randomisiert kontrollierten Studien möglich.
      • Die folgenden pathogenetischen Konzepte beruhen daher überwiegend auf retrospektiven Daten sowie auf Expertenmeinung, die allerdings immer wieder in Konsensprozessen überprüft wurden.7
    • Die Übereinstimmung der Geständnisse von Täter*innen und eine Vielzahl von Indizien, die im Rahmen von Strafrechtsprozessen erhoben wurden, sprechen zusätzlich dafür, dass das vermutete pathophysiologischen Geschehen zutreffend ist.7
  • Vermutete Pathogenese2,8
    • Das Kind wird bewusst und stark geschüttelt.
    • Dies führt durch starke Abscherbewegungen zu subduralen und retinalen Blutungen, parenchymatöser Hirnschädigung mit diffusem axonalen Schaden.
  • Retinale Blutungen
    • In einer systematischen Übersicht aus dem Jahr 2010 wurde festgestellt, dass retinale Blutungen bei Säuglingen ein sehr spezifischer Indikator für Kopfverletzungen infolge einer Misshandlung sind, insbesondere, wenn beidseitige, ausgedehnte Befunde in mehreren Schichten vorliegen.9
  • Subduralblutungen
    • Infolge einer Überdehnung und Ruptur von Brückenvenen kommt es zu einer dünnschichtigen Subduralblutung auf der Gehirnoberfläche.
    • Es handelt sich nicht um eine raumfordernde Subduralblutung5, daher geht man nicht mehr davon aus, dass das SDH eine Bedeutung hinsichtlich Prognose oder Todesursache hat.
  • Hirnschädigung
    • Über den Mechanismus, durch den die Hirnschädigungen auftreten, gibt es verschiedene Theorien.
    • Bei den Kopfbewegungen infolge des Schüttelns erfolgt eine Hyperextension der Medulla oblongata, was zu einer zentralen Apnoe führt. Die resultierende Hypoxie resultiert in einem Hirnödem.
    • Auch ein traumatischer diffuser Axonschaden trägt zum Hirnödem bei.
    • Signifikante Assoziation auch mit:2
      • zerebralen Diffusionsstörungen
      • Schädelfrakturen und konsekutiven intrakraniellen Verletzungen.
    • Es wird angenommen, dass eine schwere Kopfverletzung vorliegen muss, damit es zu größeren Hirnschädigungen kommt.10-12

Validität der Diagnose „Misshandlung“

  • Die Validität steigt stark an, wenn mehrere Befunde vorliegen.2,13
    • Die Wahrscheinlichkeit des Bestehens einer Kopfverletzung infolge einer Misshandlung erhöht sich, wenn Faktoren wie eine Schädelfraktur, eine Rippenfraktur, metaphysäre Frakturen, retinale Blutungen, Hämatome am Kopf/Hals, eine Apnoe und/oder Krampfanfälle vorliegen.
    • Liegt ausschließlich eine intrakranielle Verletzung vor, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass die Kopfverletzung auf eine Misshandlung zurückzuführen ist, bei etwa 4 %.
    • Liegen 3 oder mehr der o. g. Faktoren (gleich welche) vor, beträgt der positive prädiktive Wert mehr als 85 %, und zwar unabhängig davon, welche Kombination konkret vorliegt.
  • Neuropathologische Studien haben gezeigt, dass misshandelte Kinder nicht immer schwere Hirnschädigungen davontragen und dass auch im Todesfall nur leichte strukturelle Schädigungen vorliegen können.14-15
  • Es ist nicht bekannt, wie groß die einwirkende Kraft sein muss, um Schädigungen im Hirn des Kindes hervorzurufen.
  • Nach neueren Erkenntnissen verfolgen die Täter*innen in der Regel zu Beginn ihrer Handlung nicht die bewusste Absicht, dem Opfer zu schaden. Erst während sie das Kind schütteln, wird ihnen klar, dass sie diesem schweren Schaden zufügen.2,16

Prädisponierende Faktoren

  • Betreuungspersonen, die das Kind misshandeln.
  • Schlechter sozioökonomischer Status
  • Behinderung des Kindes
  • Neigung der Betreuungspersonen zu Gewalt
  • Alkohol- und Drogenkonsum
  • Typische Konstellation: Schreikind mit jungen, überforderten Eltern3

ICPC-2

  • Z16 Beziehungsproblem mit Kind
  • Z21 Problem durch Verhalt. Eltern/Familie

ICD-10

  • T74 Missbrauch von Personen17
    • T74.0 Vernachlässigen oder Imstichlassen
    • T74.1 Körperlicher Missbrauch
    • T74.2 Sexueller Missbrauch
    • T74.3 Psychischer Missbrauch
    • T74.8 Sonstige Formen des Missbrauchs von Personen. Mischformen.
    • T74.9 Missbrauch von Personen, nicht näher bezeichnet

Diagnostik

Diagnostische Überlegungen

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,6
  • Wegen der relativen Unsicherheit des biomechanischen pathophysiologischen Konzepts (siehe Abschnitt Ätiologie und Pathogenese) ist eine sehr sorgfältige Abgrenzung gegenüber anderen möglichen Ursachen der erhobenen Befunde notwendig.
    • „Nichtakzidentelles Schädel-Hirn-Trauma" ist in vielen Fällen als reine Ausschlussdiagnose zu verwenden.
  • Eine voreilige diagnostische Festlegung zieht eine Vorverurteilung und Stigmatisierung der Beschuldigten nach sich und ist daher unbedingt zu vermeiden.
  • Andererseits ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
    • Im Interesse des Kinderschutzes ist jedem Verdachtsfall nachzugehen.
  • Die erhobenen anamnestischen Informationen und Untersuchungsbefunde sind detailliert und wertfrei zu dokumentieren.
  • In Zweifelsfällen sollte frühzeitig eine rechtsmedizinische Diagnostik angestrebt werden.

Diagnostische Kriterien

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.2
  • Klassische Trias:
    1. subdurale Blutung
    2. retinale Blutung
    3. Rippenfraktur.
  • Aufgrund der diffusen Hirnschädigung gibt es kein symptomloses Intervall.
  • Traumatische Hirnschädigung (subdurales Hämatom, diffuses axonales Trauma, Scherverletzungen, Parenchymblutungen, Kontusionen, Kopfhämatome) und das Vorliegen mindestens 1 der Folgenden:
    1. zumeist ausgeprägte, oft mehrschichtige retinale Blutungen, Glaskörperblutungen, Retinoschisis
    2. kein oder minimales äußeres Trauma (fakultativ diskrete Skalphämatome, Griffmarken der Oberarme)
    3. keine adäquate oder fehlende Anamnese bzw. bezeugtes oder zugegebenes Schütteln
    4. Misshandlungsbegleitverletzungen
    5. elterliche Risikofaktoren (Substanzabusus, frühere Sozialdienstinterventionen, frühere Misshandlungen).
  • Angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen, die die Diagnose einer Misshandlung mit sich bringt, ist jeder Fall äußerst sorgfältig aufzunehmen und zu prüfen.
  • Auch wenn Zweifel bezüglich der Validität der einzelnen Befunde bestehen, ist es für das Kind von entscheidender Bedeutung, dass eine Misshandlung in Betracht gezogen und diesem Verdacht nachgegangen wird.

Typische Zeichen körperlicher Misshandlung bei Säuglingen und Kleinkindern2,18

  • Verspätete Vorstellung bei einer Ärztin/einem Arzt
  • Vage Beschreibung des Hergangs, fehlende Details, Änderungen in der Beschreibung
  • Widersprüche zwischen der Art der Verletzung und dem beschriebenen Ereignishergang
  • Anomaler Affektzustand/Verhalten der Eltern
  • Ausdruck des Kindes („Frozen Watchfulness“)
  • Beschreibung des Ereignishergangs durch das Kind
  • Multiple Verletzungen, ältere und neuere Verletzungen

Differenzialdiagnosen

  • Da folgende Erkrankungen und äußere Einwirkungen ebenfalls mit intrakraniellen oder retinalen Blutungen sowie mit Hirnödemen einhergehen können, sind sie differenzialdiagnostisch vom Schütteltrauma sorgfältig abzugrenzen:6
  • Akzidentelles Schädel-Hirn-Trauma
  • Perinatale Subduralblutung
  • Koagulopathien, z. B. infolge:
  • Hydrozephalus
  • Immunologische Erkrankungen, z. B. Rhesusinkompatibilität
  • Skeletterkrankungen, z. B. Osteogenesis imperfecta
  • Krampfanfälle
  • Hypoxie, Reanimation
  • Hypernatriämie, Dehydratation
  • Gefäßmalformationen

Anamnese

  • Meist ist die Anamnese uneindeutig und widersprüchlich.8,19
  • Es ist besonders darauf zu achten, die initialen Angaben sorgfältig zu dokumentieren, um Widersprüche später nachweisen zu können.
  • Wichtig ist der Hinweis darauf, dass die neurologischen Symptome direkt nach dem Schütteln begonnen haben, das heißt, es gibt kein symptomfreies Intervall.2-3
  • Differenzialdiagnosen (s. o.) beachten, z. B. familiäre Gerinnungsanamnese2
  • Psychosoziale Belastungsfaktoren bei den Eltern/Sorgeberechtigten?2

Körperliche Misshandlung?

  • Die Umstände, unter denen es zu der Verletzung gekommen ist, sind ausführlich zu klären.
  • Aufgrund der möglichen rechtlichen Konsequenzen werden hohe Anforderungen an die Dokumentation der Symptome und der medizinischen Befunde gestellt.
  • Es sollten umfassende Aufzeichnungen angefertigt werden, aus denen alle ggf. hinzugezogenen Personen hervorgehen, und die nach Möglichkeit auch mit Fotos versehen werden.

Interdisziplinarität

  • Auf jeden Fall sollten Kolleg*innen aus Ophthalmologie und Radiologie zur Diagnosefindung hinzugezogen werden.
  • Eine frühzeitige Kontaktaufnahme zur Rechtsmedizin wird angeraten.3
  • Ggf. Konsultation Kinder- und Jugendpsychiatrie
  • Ggf. ist auch die Polizei früh hinzuziehen, vorzugsweise jedoch von Vertretern des Jugendamts.

Interessen des Kindes

  • Diese Fälle sind oft sehr komplex.
  • Häufig wird die Verantwortung von sich gewiesen, die Sachverhalte werden beschönigt, und die beteiligten Erwachsenen unterstützen sich gegenseitig.
  • Angesichts der schwierigen und widersprüchlichen juristischen Auslegung der Gesetze und den schwerwiegenden Folgen, die die Beschuldigung für die familiäre Konstellation hat, zögert das medizinische Personal häufig, Maßnahmen zu ergreifen.
  • Die Sorge um das Kind muss hier richtungsweisend sein.

Klinische Untersuchung

  • Zeichen äußerer körperlicher Verletzungen
    • Hämatome/Blutergüsse?
  • Retinale Blutungen
    • Retinale Blutungen galten bis vor Kurzem als pathognomonischer Befund, inzwischen wird dieser Standpunkt jedoch infrage gestellt.20-21
    • Die Untersuchung sollte am dilatierten Auge durch erfahrene Untersucher*innen (Ophthalmologie) erfolgen.
  • Zeichen einer Hirnschädigung
  • Weitere Verletzungen?

Ergänzende Untersuchungen

  • Gerinnungsstörung?
  • Foto- oder Video-Dokumentation
    • Ggf. sind an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen Aufnahmen anzufertigen, da Verfärbungen häufig erst nach einem Tag in Erscheinung treten.

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Radiologische Untersuchungen haben große Bedeutung für die initiale Dokumentation, Evaluation und Verlaufskontrolle.3

  • Schädel-MRT mit kraniozervikalem Übergang möglichst innerhalb weniger Tage und nach 2 Monaten als Verlaufskontrolle2
    • Kranielle CT als erste Untersuchung nur, wenn das Kind vital bedroht ist (z. B. Bewusstseinstrübung).
    • Weder die kranielle CT noch die Sonografie können eine MRT ersetzen.
    • Planung der Untersuchung und Lagerung des Kindes als MRT von Schädel und Wirbelsäule. Bei normalem intrakraniellem Befund kann die Untersuchung der Wirbelsäule unterbleiben.
  • Ggf. Bildgebung weiterer Körperregionen bei entsprechenden Hinweisen
  • Skelettstatus bzw. Röntgen der betroffenen Skelettanteile in 2 Ebenen2
    • Näheres zum Röntgen-Skelett-Screening bei Misshandlungsverdacht siehe Artikel Kindesmisshandlung.
  • Wenn wegen des Verdachts auf andere ZNS-Erkrankungen, z. B. Meningitis, eine Lumbalpunktion durchgeführt wird, dann sollte das Blutungsalter im Liquor zytologisch bestimmt werden.2

Leitlinie: Verdacht auf misshandlungsbedingte Schädelhirnverletzung – Diagnostik2

Indikation zur strukturierten Diagnostik

  • Dem Verdacht auf eine misshandlungsbedingte Schädelhirnverletzung sollte bei Kindern und Jugendlichen mit der Kombination von 2 oder mehr der folgenden Merkmale nachgegangen werden (IIa/A):
    • kein akzidentelles Trauma und zweifelhafte Anamnese
    • subdurale Blutung
    • zerebrale Diffusionsstörung
    • Schädelfraktur mit oder ohne intrakranielle Verletzung
    • Rippenfraktur/en
    • (metaphysäre) Fraktur/en der langen Röhrenknochen
    • zerebraler Krampfanfall
    • Apnoe.

Kranielle Bildgebung

  • Ist das Kind klinisch nicht vital bedroht, soll eine MRT des Schädels inklusive einer diffusions- und einer suszeptibilitätsgewichteten Sequenz erfolgen (IIa–III/A).
  • Zeigen sich bei der Untersuchung weitere Zeichen für eine Misshandlung, soll außerdem eine MRT der Wirbelsäule durchgeführt werden (IIa–III/A).
  • Ist das Kind vital bedroht, soll eine kranielle CT erfolgen (IIa/A).
    • Ergibt die kranielle CT Hinweise auf eine misshandlungsbedingte Schädelhirnverletzung, sollen eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Schädels – inklusive einer diffusions- und einer suszeptibilitätsgewichteten Sequenz – sowie eine MRT der Wirbelsäule durchgeführt werden (IIa–III/A).
  • Eine Ultraschalluntersuchung des Schädels kann als Diagnostik bei Verdacht auf eine Schädelfraktur durchgeführt werden (IIa–III/C).

Augenärztliche Untersuchung

  • Bei Kindern < 24 Monate mit Verdacht auf eine misshandlungsbedingte Schädelhirnverletzung soll eine sorgfältige augenärztliche Untersuchung (erweiterte Pupillen und indirekte Funduskopie) durchgeführt werden (IIa/A).

Weitergehende Diagnostik

  • Bei einem Kind < 24 Monate mit intrakranieller Verletzung und einer Schädelfraktur und fehlendem bezeugtem akzidentellem Trauma oder zweifelhafter Anamnese besteht der Verdacht einer körperlichen Misshandlung. Diesem sollte durch weitergehende strukturierte Diagnostik nachgegangen werden (IIa/A).
  • Bei Kindern mit subduraler Blutung, insbesondere mit dem Nachweis mehrerer subduraler Blutungen und/oder mit Zeichen einer zerebralen Diffusionsstörung und/oder einem Hirnödem in der Bildgebung des zentralen Nervensystems und bei fehlendem bezeugtem akzidentellem Trauma oder zweifelhafter Anamnese, soll dem Verdacht einer körperlichen Misshandlung durch weitergehende strukturierte Diagnostik nachgegangen werden (IIa/A).
    • Bei Kindern im Alter < 12 Monate mit nichtakzidentellem Schädel-Hirn-Trauma sind diese Verletzungen schwerwiegend und stehen in Verbindung mit einer hohen Sterblichkeitsrate.

Indikation zur Krankenhauseinweisung

  • Stationäre Aufnahme bei Verdacht auf ein nichtakzidentelles Schädel-Hirn-Trauma dringend indiziert

Therapie

Therapieziele

  • Wahrscheinlichkeit einer Misshandlung klären.
  • Erforderliche Maßnahmen zur Verhinderung ergreifen oder bleibende neurologische Schäden einschränken.

Medikamentöse Therapie

  • Angemessene medizinische Versorgung

Weitere Maßnahmen

  • Ob und wann Strafverfolgungsbehörden einzuschalten sind, ist individuell abzuwägen.
  • Eine eigentliche Meldepflicht im klinischen Kontext besteht nicht.
  • Da das nichtakzidentelle Schädel-Hirn-Trauma in aller Regel eine Gefahr für das Leben des Kindes darstellt, sollte vor Entlassung aus dem Krankenhaus das Jugendamt informiert und weitere Verlaufskontrollen vereinbart werden.
  • Die rechtlichen Vorgaben zum allgemeinen Vorgehen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung sind im entsprechenden Artikel aufgeführt.

Prävention

  • Es liegen keine Studien vor, in denen die Vor- und Nachteile primärpräventiver Maßnahmen in der medizinischen Grundversorgung direkt miteinander verglichen werden.22
  • Es wird empfohlen, ein Bewusstsein für die Problematik zu entwickeln und einem Verdacht auf eine Misshandlung stets nachzugehen.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Misshandlungen bei Kindern unter 3 Jahren und insbesondere bei Kindern unter 1 Jahr sind lebensbedrohlich (20–25 % Mortalität, 60–70 % neurologische Beeinträchtigung, Gesamtmorbidität um 90 %).2
  • Die Gefahr einer wiederholten Misshandlung ist groß.

Komplikationen

  • Tod
  • Neurologische Folgeschäden wie Hemiplegie o. Ä.
  • Psychische Folgeschäden

Prognose

  • Die unmittelbare Prognose richtet sich nach dem Ausmaß und der Schwere der Hirnschädigung.
  • Langfristig hängt die Prognose davon ab, ob eine sichere Entwicklungsumgebung für das Kind geschaffen wird.

Verlaufskontrolle

  • Vor der Entlassung aus dem Krankenhaus ist die weitere Betreuung zu klären. Dazu eignet sich eine interdisziplinäre Fallkonferenz.
  • Die Verantwortlichkeiten bedürfen einer klaren Regelung, sodass ein Eingreifen sichergestellt ist, falls die eingeleiteten Maßnahmen nicht zu einer Verbesserung der Situation führen.
  • Die Verantwortung für die Überwachung und die Koordination der Präventivmaßnahmen sollte einer darin geschulten Person und nicht nur einer Instanz übertragen werden.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Kindesmisshandlung, - missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie). AWMF-Leitlinie Nr. 027-069. S3, Stand 2019. www.awmf.org

Literatur

  1. Christian CW, Block R. Abusive head trauma in infants and children. Pediatrics 2009;123:1409-11 www.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Kindesmisshandlung, - missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie). AWMF-Leitlinie Nr. 027-069, S3, Stand 2019. www.awmf.org
  3. Matschke J, Herrmann B, Sperhake J, Körber F, Bajanowski T, Glatzel M. Das Schütteltrauma-Syndrom. Eine häufige Form des nicht akzidentellen Schädel-Hirn-Traumas im Säuglings- und Kleinkindesalter. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(13): 211-7. www.aerzteblatt.de
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  7. Herrmann B und J Sperhake. Das Shaken Baby Syndrom – Konzepte und forensische Kontroversen. Zeitschrift der DGgKV Deutsche Gesellschaft gegen Kindesmisshandlung und –vernachlässigung 2005;8:4-17 www.kindesmisshandlung.de
  8. American Academy of Pediatrics Committee on Child Abuse and Neglect. Shaken baby syndrome: rotational cranial injuries-technical report. Pediatrics 2001;108: 206-10. pediatrics.aappublications.org
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Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Ulrike Arendt, Dr. med., Ärztin in Weiterbildung zur Allgemeinmedizinerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abt. für Allgemeinmedizin, Universität Oldenburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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