Zusammenfassung
- Definition: Funktionelle gastrointestinale Erkrankung mit wiederkehrenden Anfällen von Übelkeit und Erbrechen, wobei die Patienten zwischen den Episoden vollkommen gesund sind. Keine bekannte Ursache. Synonym: Syndrom des zyklischen Erbrechens (Cyclic Vomiting Syndrome, CVS).
- Häufigkeit:Schätzungsweise 2 % bei Kindern, die Prävalenz unter Erwachsenen ist unbekannt.
- Symptome:Anfälle mit heftiger Übelkeit und Erbrechen über eine Dauer von 1–10 Tagen.
- Befunde:Die klinischen Befunde sind unauffällig.
- Diagnostik:Magen-Darm-Passage-Röntgen, um eine Malrotation auszuschließen; evtl. weitere Abklärung abhängig vom Einzelfall oder bei erfolgloser Behandlung.
- Therapie:Die Behandlungsempfehlungen basieren auf sehr spärlichen Daten und setzen oft auf dieselbe Herangehensweise und Medikamentenwahl wie bei Migräne.
Allgemeine Informationen
Definition
- 3 oder mehr Episoden mit Anfällen mit Erbrechen mehrmals in 1 Stunde
- Die Episoden dauern zwischen 1 Stunde bis 10 Tage, und die Betroffenen leiden zwischen den Episoden nicht unter Erbrechen.
- Die Episoden laufen von Mal zu Mal bei den jeweiligen Patienten relativ gleichförmig ab.
- Eine andere Ursache für das Erbrechen wird nicht nachgewiesen.
- Wird nach den Rom-IV-Kriterien in der Gruppe „Funktionelle Störungen mit Übelkeit und Erbrechen“ klassifiziert.
- Beim Syndrom des zyklischen Erbrechens (CVS) handelt es sich um eine funktionelle gastrointestinale Störung1, die folgendermaßen charakterisiert ist:
- wiederholte, akut einsetzende und individuell gleichförmig verlaufende Episoden von starker Übelkeit und anhaltendem Erbrechen oder Würgen mit einer Dauer von weniger als 1 Woche
- drei oder mehr Erbrechensepisoden innerhalb 1 Jahres
- keine Übelkeit und Erbrechen zwischen den Episoden
- Die Kriterien müssen in den letzten 3 Monaten erfüllt sein, und die Symptome müssen mindestens 6 Monate vor der Diagnose begonnen haben.
- weiteres unterstützendes Kriterium: Kopfschmerz-Migräne in der eigenen Anamnese oder der Familienanamnese
- Diagnose-Kriterien der NASPGHN (2008)3
- mindestens 5 Episoden in einem beliebigen Intervall oder mindestens 3 Episoden innerhalb von 6 Monaten
- Episodische Anfälle von starker Übelkeit und anhaltendem Erbrechen über einen Zeitraum von 1 Stunde bis zu 10 Tagen, wobei zwischen den einzelnen Episoden ein Zeitraum von mindestens 1 Woche liegen muss.
- stereotype Muster und Symptome beim jeweiligen Patienten
- Häufigkeit/Dauer der Brechanfälle mindestens 4-mal pro Tag für mindestens 1 Stunde
- keine Übelkeit und Erbrechen zwischen den Episoden
- Es ist keine andere Ursache für das Erbrechen nachweisbar.
Häufigkeit
- Ca. 2 % bei Kindern4-5
- Inzidenz: ca. 3 jährliche Neuerkrankungen pro 100.000 Kinder5
- Medianes Alter 4,8 Jahre beim erstmaligen Auftreten der Symptome und 2,7 Jahre bis zur Diagnose6
- Das Syndrom tritt auch bei größeren Kindern und Erwachsenen auf, allerdings gibt es dazu keine verlässlichen Prävalenzdaten.7
- Erwachsene haben länger dauernde aber weniger Episoden pro Jahr im Vergleich zu Kindern.
Ätiologie und Pathogenese
- Die Pathogenese ist unbekannt.
- Das Syndrom wird mit Migräne und abdomineller Migräne in Verbindung gebracht.4
- Bei Erwachsenen besteht der Verdacht, dass eine Dysfunktion des vegetativen Nervensystems ursächlich ist.8
- Es gibt auch die Auffassung, dass Nahrungsmittelallergien, metabolische und endokrine Erkrankungen oder Mitochondriopathien eine Rolle spielen.
Prädisponierende Faktoren
- Familiäre Häufung von Migräne oder zyklischem Erbrechen (insbesondere Migräne der Mutter)4
- Bei Kindern, nicht jedoch bei Erwachsenen, sind zwei häufige mitochondriale DNA-Polymorphismen mit dem zyklischen Erbrechen-Syndrom assoziiert.9
ICPC-2
- D10 Erbrechen
ICD-10
- R11 Übelkeit und Erbrechen
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Das Syndrom kann bei Kindern unter 2 Jahren auftreten, was allerdings sehr selten der Fall ist.3
- Es existieren mindestens 2 Definitionen (siehe Abschnitt Definition):
Rome-VI-Kriterien
- Episoden mit Erbrechen, die sich bezüglich Beginn (akut) und Dauer (weniger als 1 Woche) gleichen.
- Drei oder mehr Erbrechensepisoden innerhalb des letzten Jahres und 2 Episoden in den letzten 6 Monaten mit mindestens 1 Woche Abstand zwischen den Episoden
- Keine Übelkeit und Erbrechen zwischen den Episoden, aber andere milde Symptome können vorkommen.
- Die Kriterien müssen in den letzten 3 Monaten erfüllt sein, und die Symptome müssen mindestens 6 Monate vor der Diagnose begonnen haben.
- Zu den Kriterien, die die Diagnose stützen, gehört Migräne in der eigenen Anamnese oder der Familienanamnese.
Diagnose-Kriterien der NASPGHN (2008)3
- Alle folgende Kriterien müssen erfüllt sein:
- mindestens 5 Episoden in einem beliebigen Intervall oder mindestens 3 Episoden innerhalb von 6 Monaten
- episodische Anfälle von starker Übelkeit und anhaltendem Erbrechen über einen Zeitraum von 1 Stunde bis zu 10 Tagen, wobei zwischen den einzelnen Episoden ein Zeitraum von mindestens 1 Woche liegen muss.
- stereotype Muster und Symptome beim jeweiligen Patienten
- Häufigkeit/Dauer der Brechanfälle mindestens 4-mal pro Tag für mindestens 1 Stunde
- keine Übelkeit und Erbrechen zwischen den Episoden
- Es ist keine andere Ursache für das Erbrechen nachweisbar.
Differenzialdiagnosen
- Malrotation
- Migräne
- Abdominelle Migräne
- Bauchschmerzen ohne Erbrechen
- Stoffwechselentgleisungen
- bei älteren Kindern meist bekannte Grunderkrankung
- Adoleszenten-Ruminations-Syndrom
- unangestrengtes Erbrechen, oft täglich
- Steinerkrankungen in den Harnwegen
- Pankreatitis
Diagnostische Überlegungen
- Eine vollständige Abklärung, um alle anderen Ursachen für die Beschwerden der Patienten auszuschließen, wäre sehr teuer und zeitaufwendig.
- Eine (kosten-)günstigere Möglichkeit besteht darin, eine Röntgenuntersuchung des oberen Gastronintestinaltrakts durchzuführen, um eine Malrotation auszuschließen, und danach die Behandlung zu beginnen.
- Nur diejenigen, die auf die Behandlung nicht ansprechen oder einen Rückfall erleiden, werden weiteren Untersuchungen unterzogen.
- Der Verlauf kann in 4 Phasen unterteilt werden:4
- Symptomfreie Intermediärphase zwischen den Erbrechensphasen; diese kann bis zu mehreren Monaten anhalten.
- Einzelne Patienten beschreiben eine Aura-/Prodromalphase, die von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden anhält und von Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Blässe, Bauchschmerzen, Schwitzen und erhöhter Speichelproduktion geprägt ist.
- Hyperemetische Phase, die typischerweise Phase mit starker Übelkeit und heftigem Erbrechen meist irgendwann zwischen frühmorgens und mittags einsetzt.
- Erholungsphase mit seltenerem Erbrechen und zunehmender Energie und steigendem Appetit.
Anamnese
- Episodisches Erbrechen
- Starke Übelkeit
- Zwischen den Episoden vollkommen gesund
- Warnzeichen, die zu einer erneuten Prüfung der Diagnose führen sollten:3
- galliges Erbrechen, palpationsempfindlicher Bauch und/oder starke Bauchschmerzen
- Episoden, die durch akute Erkrankungen, Fasten oder Mahlzeiten mit hohem Proteingehalt ausgelöst werden (möglicherweise Stoffwechselerkrankung).
- anomale Befunde bei neurologischer Untersuchung, veränderter Geisteszustand, anomale Augenbewegungen, Papillenödem, Ataxie/Gehschwierigkeiten
- progressive Verschlechterung der Episoden oder Übergang zu einem chronischeren Muster.
Klinische Untersuchung
- Normaler Gesundheitszustand bei der Untersuchung
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Tests für den Ausschluss anderer Erkrankungen (Vorschläge):
- Hb, Leukozyten mit Differenzialblutbild, Thrombozyten, Ferritin
- Elektrolyte, Glukose, GPT (ALAT), Gamma-GT, Amylase, Lipase
- Harnteststreifen
- Abklärung von zugrunde liegenden Stoffwechselerkrankungen bei kleinen Kindern (Laktat, Ammoniak, metabolisches Screening von Blut und Urin) während der Anfälle ist zu erwägen.
Diagnostik beim Spezialisten
- Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.10
- Röntgen Magen Darm-Passage, um Malrotation auszuschließen.
- CT/MRT des Kopfes kann indiziert sein.
- Ösophagogastroduodenoskopie kann in Betracht gezogen werden.
Indikationen zur Überweisung
- Bei Unsicherheit hinsichtlich der Diagnose
- Bei häufigen Anfällen
- Bei fehlendem Effekt der Behandlung
Therapie
Therapieziele
- Die Anzahl der Übelkeitsepisoden und den Schweregrad jeder einzelnen Episode reduzieren.
Allgemeines zur Therapie
- Episoden mit Übelkeit und Erbrechen können eine unterstützende Behandlung erfordern, etwa:
- zusätzliche Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr während eines Anfalls
- Klinikeinweisung
- intravenöse Flüssigkeitszufuhr
- Antiemetika.
Empfehlungen für Patienten
- Vermeidung von bekannten Auslösern, z. B.:
- körperliche Erschöpfung oder psychischer Stress
- Autofahren (Kinetose)
- Fasten/Diät
- einzelne Nahrungsmittel wie Schokolade und Käse.
- Während eines Anfalls kann ein Aufenthalt in einem abgedunkelten Raum hilfreich sein.
- Manche Patienten ziehen es vor, Wasser zu trinken, um Erbrechen zu provozieren und so die Übelkeit reduzieren.
- Tiefer Schlaf in der Prodromalphase kann dazu beitragen, Anfälle bei Kindern zu stoppen.
Medikamentöse Therapie
- Bedarfsbehandlung wie bei Migräne
Prävention
- Präventionstherapie wie bei Migräne
- Ergänzende Gabe3
- Coenzym Q10 10 mg/kg/Tag oder 200 mg x 2
- L-Carnitin 50–100 mg/kg/Tag oder 1 g x 2
- Haben in einigen Studien eine präventive Wirkung gezeigt.
- wenige bis keine Nebenwirkungen
- Amitriptylin (trizyklisches Antidepressivum) hat sich in einigen Studien als wirksam erwiesen, und der Effekt ist sowohl bei Erwachsenen als auch Kindern am besten dokumentiert.4
- In Deutschland nur zur Migräneprophylaxe zugelassen, die Verordnung wäre off label.
- In einer randomisierten klinischen Studie führte die Einnahme von Amitriptylin oder Cyproheptadin (in Deutschland nur zur Behandlung der Kälteurtikaria zugelassen) in 50–65 % der Fälle zur vollständigen Remission nach 6 Monaten.12
- Es fehlt der Vergleich mit einem Placebo.
- Bei Kindern ist auch Propranolol als wirksames präventives Medikament dokumentiert.4
- In Deutschland nur zur Migräneprophylaxe zugelassen, die Verordnung wäre off label.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Beginnt in der Regel in der Kindheit. Bei etwa 60 % klingt die Krankheit im Teenageralter ab.4
- Die Episoden dauern zwischen 1 Stunde und 10 Tagen.
- Durchschnittliche Dauer der Episoden ist bei Kindern 2 Tage und bei Erwachsenen 6 Tage.
- Die Inzidenz ist bei Erwachsenen niedriger als bei Kindern.
- Manche Kinder entwickeln im späteren Verlauf Migräne.13
Prognose
- Kinder werden im Laufe ihrer Entwicklung oft spontan gesund, und bei relativ vielen zeigt eine präventive Behandlung Wirkung (siehe Abschnitt Prävention).
Verlaufskontrolle
- Beobachten Sie die Wirksamkeit der Behandlung.
- Kontrollieren Sie die Medikamentennebenwirkungen.
- Das Absetzen der vorbeugenden Behandlung sollte in Betracht gezogen werden, wenn das betroffene Kind in die Pubertät kommt.
- Blutdruck
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Bufler P, Groß M, Uhlig GG. Chronische Bauchschmerzen bei Kindern und Jugendlichen. Dtsch Ärzteblatt 2011, 108 (17): 295 ff. www.aerzteblatt.de
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- Hikita T, Kodama S, et al. Sumatriptan as treatment for cyclic vomiting syndrome: a clinical trial. Cephalgia 2011;31:504. pmid 21147834. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Badihian N, Saneian H, Badihian S, Yaghini O. Prophylactic Therapy of Cyclic Vomiting Syndrome in Children: Comparison of Amitriptyline and Cyproheptadine: A Randomized Clinical Trial. Am J Gastroenterol 2017. pmid:28719594 PubMed
- Hikita T, Kodama H, Ogita K, et al. Cyclic Vomiting Syndrome in Infants and Children: A Clinical Follow-Up Study. Pediatr Neurol 2016; 57: 29-33. pmid:26861170. www.ncbi.nlm.nih.gov
Autoren
- Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München (Revision basierend auf NEL)
- Kurt Østhuus Krogh, spesialist i barnesykdommer, Norsk Helseinformatikk/ Barne-og ungdomsklinikken, St. Olavs Hospital