Säuglingskolik

Zusammenfassung

  • Definition:Schreiphasen bei Säuglingen in den ersten 3 Lebensmonaten an mehreren Tagen pro Woche über mehrere Wochen bei ansonsten gesunden Kindern mit normaler Gewichtszunahme.
  • Häufigkeit:Häufig, betrifft 5–20 % aller Kinder.
  • Symptome:Typisch sind langanhaltende Schreiphasen, oft zur gleichen Zeit jeden Tag, wiederholt an vielen oder allen Tagen der Woche, mehrere Wochen hindurch.
  • Befunde:Bei einer Untersuchung sind keine Krankheitszeichen feststellbar, und die Wachstumskurve entwickelt sich normal.
  • Diagnostik:Keine weitere Diagnostik erforderlich.
  • Therapie:Beruhigung und Unterstützung der Eltern, selbstlimitierend nach meist 3 Monaten. Kaum Evidenzen für verschiedene Therapieansätze.

Allgemeine Informationen

Red Flags und abwendbar gefährliche Verläufe

  • Zeichen eines akuten Abdomens
  • Gewichtsabnahme, Gedeihstörungen
  • Fieber1
  • Lethargie

Definition

  • Säuglingskoliken (Dreimonatskoliken oder infantile Koliken) sind gekennzeichnet durch unstillbares lautstarkes Schreien bis zu mehr als 3 Stunden pro Tag, an mindestens 3 Tagen pro Woche über mehr als 3 Wochen (Dreier-Regel nach Wessel).1
  • Das Schreien beginnt in der Regel vor der 5. Lebenswochen und endet spätestens im Alter von 4–5 Monaten.
  • Typische Anzeichen: Betroffene Kinder schreien, ziehen die Knie Richtung Bauch und scheinen starke Bauchschmerzen zu haben.
  • Es ist eine gutartige selbstlimitierende Störung, Eltern von Schreibabys erleben dies häufig als sehr anstrengende Zeit, dazu kommt die Angst, das Kind könnte doch krank sein.

Häufigkeit

  • 5–20 % aller Säuglinge haben Koliken.2
  • Am häufigsten kommen Säuglingskoliken im Alter von ca. 6 Wochen vor.
  • Geschlecht, Jahreszeiten, Art der Ernährung, Geburtszeitpunkt, sozioökonomischer Status sowie die Art der Säuglingsernährung haben keinen nachgewiesenen Einfluss.1

Ätiologie und Pathogenese

  • Die Ursache ist unbekannt, die Pathogenese ist wahrscheinlich multifaktoriell.
  • Als Ursache des Schreiens werden allgemein Beschwerden des Magen-Darm-Traktes angenommen, Blähungen oder Koliken, wobei tatsächlich nicht ganz klar ist, ob die erlebten Koliken Ursache oder Folge des Schreiens sind.3
  • Diskutiert werden Nahrungsallergien, noch nicht vollständig entwickelte Mikroflora des kindlichen Darms oder eine erhöhte Serotonin-Sekretion.

Pathogenese

  • Am häufigsten kommen Säuglingskoliken im Alter von ca. 6 Wochen vor.
  • Dauer und Intensität der Schreiattacken/Kolik verbessern sich deutlich ab der 8.–9. Lebenswoche.
  • Das Schreien setzt in den meisten Fällen in den Abendstunden ein.
  • Einzelne Schreiattacken können anfangs bis zu über 2 Stunden dauern, die Gesamtschreilänge über den Tag liegt häufig über 3 Stunden (Dreier-Regel nach Wessel).3
  • Alle Säuglinge, mit oder ohne Koliken, schreien in den ersten 3 Monaten mehr als später.

Prädisponierende Faktoren

ICPC-2

  • D01 Bauchschmerzen/-krämpfe, generalis.
    • Inkl. Kolik beim Säugling und Kleinkind

ICD-10

  • R10.4 Sonstige und nicht näher bezeichnete Bauchschmerzen

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Typische Anamnese mit ständigen Schreikrämpfen bei einem ansonsten gesunden Säugling mit normaler Gewichtszunahme
  • Ausschlussdiagnose, bei der eine gründliche Anamnese und klinische Untersuchung in den meisten Fällen ausreichend sind.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Beginn und Dauer der Schreiattacken
  • Frage nach auslösenden Faktoren
  • Begleitsymptome wie Erbrechen, Fieber oder Durchfall
    • Blutig-schleimiger Stuhl ist typisch für eine Invagination.
  • Gewichtsverlust oder Wachstumsretardierung
  • Hautausschlag, Ikterus, verfärbter Urin

Red Flags

  • Zeichen eines akuten Abdomens
  • Gewichtsabnahme, Gedeihstörungen
  • Fieber
  • Lethargie
  • Tachykardie und Blässe
  • Petechien, Hämatome
  • Tachypnoe, Zyanose, Nasenflügeln
  • Hypotonie oder Meningismus

Klinische Untersuchung

  • Betroffene Kinder schreien, ziehen die Knie Richtung Bauch und scheinen starke Schmerzen zu haben.
  • Schreikinder sind bei der klinischen Untersuchung nicht auffällig.
  • Werden bei der klinischen Untersuchung von der Norm abweichende Befunde erhoben, sollte immer an eine andere Ursache für das Schreien gedacht werden.

Ergänzende Untersuchungen 

  • Diese sind bei Schreikindern nicht notwendig, zum Ausschluss anderer Ursachen siehe jeweils unter den angegebenen Differenzialdiagnosen.

Therapie

Therapieziel

  • Symptome lindern.

Allgemeines zur Therapie

  • Betroffene Eltern sollten zunächst darüber aufgeklärt werden, dass Säuglingskoliken harmlos und selbstlimitierend sind.
  • Es gibt wenige verlässliche Studien darüber, was helfen kann, die Schreiattacken zu unterbinden und zu verkürzen.

Allgemeine Maßnahmen

  • Es gibt keine sicheren Untersuchungen darüber, dass Ernährungsumstellungen wie Abstillen, Vermeiden von Laktose oder Allergenen (bei Mutter oder Kind) einen positiven Effekt auf die Koliken haben, im Einzelfall kann es sinnvoll sein, es auszuprobieren.5
  • Regelmäßige Tagesstrukturen können für Eltern und Kind entlastend sein.6
  • Während der Schreiattacken können verschiedene Maßnahmen ausprobiert werden, das Schreien zu verkürzen:
    • monotone Geräusche und Vibrationen („White Noise")7
    • Regelmäßiges Hin- und Her- Wiegen (Arm, Wiege, Kinderwagen)
    • kein Stress bei der Nahrungsaufnahme (hastiges Trinken vermeiden, Aufstoßen fördern)
    • Auch Stillen kann zur Beruhigung des Kindes beitragen.8
    • Nikotin vermeiden.

Medikamentöse Therapie

  • Probiotika
    • Für Lactobacillus reuteri DSM 19378 gibt es mehrere Studienbelege, dass eine Einnahme insbesondere bei gestillten Kindern zu einer signifikanten Reduzierung der Schreizeit führt.9-13
  • Alle weiteren Medikamente (PPI, Simeticon, Laktase) waren in Studien nicht besser als Placebo.114-15
  • Auch Kräutertees haben keine nachgewiesene Wirkung.
    • Von Fencheltee für Kinder unter 4 Jahre wird von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) abgeraten, da dieser karzinogene Stoffe enthalten kann.16

Weitere Therapien

  • Physikalische Therapie einschließlich Chirotherapie oder Osteopathie zeigt, obwohl häufig nachgefragt, keinen statistisch signifikanten Effekt auf Säuglingskoliken.17
  • Akupunkturbehandlungen scheinen einen positiven Einfluss zu haben.18-19

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Bei den meisten Kindern verringern sich bzw. enden die Kolikepisoden ab dem Alter von ca. 3 Monaten („Drei-Monats-Koliken“).

Komplikationen

Prognose

  • Die Prognose ist gut.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Johnson JD, Cocker K, Chang E. Infantile colic: Recognition and treatment. Am. Fam. Physician. 2015. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Perry R, Leach V, Penfold C. et al. An overview of systematic reviews of complementary and alternative therapies for infantile colic. Syst Rev 2019. systematicreviewsjournal.biomedcentral.com
  3. Wolke D, Bilgin A, Samara M. Systematic Review and Meta-Analysis: Fussing and Crying Durations and Prevalence of Colic in Infants. J Pediatr 2017 Jun; 185: 55-61. pmid:28385295 PubMed
  4. Reijneveld SA, Brugman E, Hirasing RA. Infantile colic: maternal smoking as potential risk factor. Arch Dis Child 2000; 83: 302-3. PubMed
  5. Gordon M,Biagioli E,Sorrenti M,Lingua C,Moja L,Banks SS,Ceratto S,Savino F, Dietary modifications for infantile colic. The Cochrane database of systematic reviews. 2018 www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. White BP, Gunnar MR, Larson MC, Donzella B, Barr RG. Behavioral and physiological responsivity, sleep, and patterns of daily cortisol production in infants with and without colic. Child Dev 2000; 71: 862-77. PubMed
  7. Sezici E,Yigit D, Comparison between swinging and playing of white noise among colicky babies: A paired randomised controlled trial. Journal of clinical nursing. 2018 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Howard CR, Lanphear N, Lanphear BP, et al. Parental responses to infant crying and colic: the effect on breastfeeding duration. Breastfeed Med 2006; 1: 146-55. pmid:17661591 PubMed
  9. Daelemans S, Peeters L, Hauser B, Vandenplas Y.Recent advances in understanding and managing infantile colic.F1000Res. 2018 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Szajewska H, Gyrczuk E, Horvath A. Lactobacillus reuteri DSM 17938 for the Management of Infantile Colic in Breastfed Infants: A Randomized, Double-Blind, Placebo-Controlled Trial. J Pediatr 2013. doi:10.1016/j.jpeds.2012.08.004. DOI
  11. Chau K, Lau E, Greenberg S, et al. Probiotics for infantile colic: A randomized, double-blind, placebo-controlled trial investigating Lactobacillus reuteri DSM 17938. J Pediatr. 2015; 166:74-78. PMID: 25444531 PubMed
  12. Sung V, D`Amico F, Cabana MD, et al. Lactobacillus reuteri to Treat Infant Colic: A Meta-analysis. Pediatrics 2018 Jan; 141(1): pii: e20171811. pmid:29279326 PubMed
  13. Sung V, Hiscock H, Tang MLK, et al. Treating infant colic with the probiotic Lactobacillus reuteri: double blind, placebo controlled randomised trial. BMJ 2014; 348: g2107. BMJ (DOI)
  14. Garrison MM, Christakis DA. A systematic review of treatments for infant colic. Pediatrics 2000; 106: 184-90. PubMed
  15. Gieruszczak-Białek D, Konarska Z, Skórka A, et al. No Effect of Proton Pump Inhibitors on Crying and Irritability in Infants: Systematic Review of Randomized Controlled Trials. J Pediatr 2014. doi:10.1016/j.jpeds.2014.11.030 DOI
  16. European Medicines Agency. Public statement on the use of herbal medicinal products containing estragole, 24. november 2014. www.ema.europa.eu
  17. Dobson D, Lucassen PL, Miller JJ, et al. Manipulative therapies for infantile colic. Cochrane Database Syst Rev. 2012 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  18. Landgren K, Kvorning N, Hallstrøm I. Feeding, stooling and sleeping patterns in infants with colic - a randomized controlled trial of minimal acupuncture. BMC Complement Altern Med 2011; 11: 93. PubMed
  19. Landgren K, Hallström I. Effect of minimal acupuncture for infantile colic: a multicentre, three-armed, single-blind, randomised controlled trial (ACU-COL). Acupunct Med 2017. pmid:28093383 PubMed
  20. Levitzky S, Cooper R. Infant colic syndrome-maternal fantasies of aggression and infanticide. Clin Pediatr 2000; 39: 395-400. PubMed

Autor*innen

  • Monika Lenz, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Neustadt am Rübenberge
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit