Zusammenfassung
- Definition:Chromosomenanomalie, in der Regel 47, XXY. Die Erkrankung verursacht eine Störung der Hodenfunktion und kann die Intelligenzentwicklung, das Sozialverhalten und das Längenwachstum beeinflussen.
- Häufigkeit:Häufigste Form des männlichen Hypogonadismus 1 pro 660 männliche Neugeborene, d. h. in Deutschland werden jährlich etwa 600 Jungen mit der Erkrankung geboren.
- Symptome:Infertilität, verringerte Libido, hohe Rate an Komorbiditäten, leicht erhöhte Mortalität.
- Befunde:Kleine fibrotische Hoden, bei 85 % der Betroffenen Gynäkomastie in der Pubertät, verminderte Körperbehaarung, verringerte Muskelmasse.
- Diagnostik:FSH, LH, Serum-Testosteron, SHBG (Sex Hormone Binding Globulin), Prolaktin. Chromosomenuntersuchung.
- Therapie:Keine ursächliche Therapie möglich. Testosteronsubstitution führt zu einer Besserung körperlicher und psychischer Symptome.
Allgemeine Informationen
Definition
- Das Klinefelter-Syndrom ist die häufigste Ursache für eine Störung der Hodenfunktion mit verringerter Spermatogenese und Testosteronproduktion.1-2
- Durch kleine Hoden, Azoospermie, Gynäkomastie, unauffällige äußere Genitalien, ggf. Auffälligkeiten in der geistigen Entwicklung und erhöhten FSH-Spiegel gekennzeichnet
- Verursacht durch Chromosomenanomalie; 47,XXY in etwa 80 % der Fälle
- Die Erkrankung wurde erstmals von Klinefelter, Reifenstein Albright im Jahr 1942 beschrieben.3
Häufigkeit
- Das Klinefelter-Syndrom ist die häufigste Form von männlichem Hypogonadismus und Aneuploidie.
- Inzidenz/Prävalenz
- ca. 1 pro 660 männliche Neugeborene, d. h. etwa 600 neue Fälle in Deutschland jährlich4
- Die Gruppe stellt bis zu 3,1 % der Männer mit unerfülltem Kinderwunsch.5
- Die Erkrankung ist signifikant unterdiagnostiziert.
- In einer dänischen Studie wurden weniger als 10 % der erwarteten Fälle vor der Pubertät diagnostiziert.5
Ätiologie und Pathogenese
- Karyotyp
- Primäre Störung der Hodenfunktion
- Führt aufgrund der verringerten negativen Rückkopplung an die Hypophyse zu verminderter Testosteronproduktion und sekundärem Hypergonadotropismus.
- Mikroskopische Befunde in den Hoden
- Fehlendes Epithel und hyalinisierende Fibrose der Hodenkanälchen, was zu Azoospermie führt.
- große Mengen elastischer Fasern
- erhöhte Anzahl von Leydig-Zellen
- Patienten mit Chromosomenmosaiken zeigen in der Regel wenige klinische Anzeichen.2
Prädisponierende Faktoren
- Fortgeschrittenes Alter der Mutter prädisponiert für eine mütterliche Non-Disjunction.
ICPC-2
- A90 Angeborene Anomalie/NNB/Multiple angeborene Anomalien
ICD-10
- Q98.0 Klinefelter-Syndrom, Karyotyp 47,XXY
- Q98.1 Klinefelter-Syndrom, männlicher Phänotyp mit mehr als zwei X-Chromosomen
- Q98.2 Klinefelter-Syndrom, männlicher Phänotyp mit Karyotyp 46,XX
- Q98.4 Klinefelter-Syndrom, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Charakteristische morphologische Befunde und Karyotyp mit zwei oder mehreren X-Chromosomen.
Differenzialdiagnosen
- Andere Ursachen der Gynäkomastie
- idiopathische Gynäkomastie
- hormonproduzierende Tumoren in Hoden oder Nebennieren (Achtung: Hodenkarzinom)
- Prolaktin-produzierender Hypophysentumor
- Medikamentengebrauch
- Andere Ursachen für männlichen Hypogonadismus
- Andere Ursachen für erhebliches Längenwachstum
Anamnese
- Ein nicht voll entwickeltes äußeres männliches Genital kann in seltenen Fällen einen Verdacht auf die Erkrankung bereits bei der Geburt erregen.
- Selten wird wegen eines schnellen Längenwachstums und leichter emotionaler und Verhaltensauffälligkeiten die Diagnose schon in der Kindheit gestellt.
- verzögerte Sprachentwicklung
- Dyslexie8-9
- Legasthenie
- Lernschwierigkeiten
- Aufmerksamkeitsdefizit
- Schwierigkeiten mit der Ausführung oder Lösung praktischer Aufgaben
- Häufig wird die Diagnose erst in der Pubertät gestellt.10
- Pubertätseintritt zur normalen Zeit
- kleine, feste Hoden
- Gynäkomastie in 85 % der Fälle in der Pubertät
- auffälliger Körperbau (Hochwuchs, verminderte Muskelmasse, Neigung zu Stammfettsucht)
- Die Diagnose kann im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen bei Kinder*ärztinnen (U-Untersuchungen), der Schuleingangsuntersuchung (ESU) oder bei Urolog*innen gestellt werden, wobei die Körpergröße an der oberen Perzentile, Hypogonadismus oder Gynäkomastie diagnostische Hinweise bieten können. Bei Erwachsenen wird die Diagnose oft im Verlauf der Abklärung einer Infertilität gestellt.
- Nach dem 25. Lebensjahr klagen ca. 70 % über verminderte Libido und Potenz, nur 1/5 der Betroffenen hat normalen Bartwuchs.2
Klinische Untersuchung
- In der Regel verläuft die körperliche Entwicklung bis zur Pubertät unauffällig, aber die physischen Merkmale können von Person zu Person erheblich variieren.
- Hypergonadotroper Hypogonadismus von der Pubertät an
- Über die Pubertät hinaus bestehende Gynäkomastie
- Die Hoden sind klein (ungefähr 1,5 x 1,5 cm), fest und fibrotisch.
- Verminderte Körperbehaarung, vor allem Achsel- und Schambehaarung sowie Bartwuchs
- Verminderte Muskelmasse
- Infertilität
- Das Geburtsgewicht ist in der Regel normal, oft ist jedoch ein starkes Längenwachstum in der frühen Kindheit zu beobachten mit langen Beinen und kürzerem Rumpf.
- Verhaltensauffälligkeiten und Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten
-
- Sozialisierungsprobleme
- eingeschränktes Urteilsvermögen
- Planung und Durchführung von praktischen Aufgaben erschwert
- Aufmerksamkeitsdefizit
- psychologische Auffälligkeiten
- Stimmungsschwankungen
- Antriebsarmut
- Körperbildstörung
- Bei mehreren X-Chromosomen (XXXY, XXXXY) sind oft größere morphologische und intellektuelle Abweichungen zu sehen.
-
- Mikrozephalie
- Kleinwuchs
- Intelligenzminderung
- Klinodaktylie (seitliche Schiefstellung eines oder mehrerer Fingerglieder)
- radioulnare Synostose (Verknöcherung)
- Erhöhte Inzidenz weiterer somatischer Erkrankungen
- Mund und Zähne
- Taurodontie (Zahnanomalie der Molaren mit später Aufzweigung der Zahnwurzel aufgrund einer starken Vergrößerung der Pulpa dentis coronaris) kommt bei Menschen mit Klinefelter-Syndrom häufiger vor.
- Beiß- und Abweichungen der Zahnstellung treten etwas häufiger auf als in der durchschnittlichen Bevölkerung, ein Fehlen permanenter Zahnanlagen kommt vor.
- Mund und Zähne
Indikationen zur Überweisung
- Bei Verdacht auf das Klinefelter-Syndrom immer entsprechende Fachdisziplinen einbinden (Endokrinologie, Urologie, Pädiatrie, Humangenetik).
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Laboruntersuchungen
- FSH, LH: in Serum und Urin erhöht, FSH ist der beste Indikator für diese Pathologie.
- Serum-Testosteron: erniedrigt
- SHBG (Sex Hormone Binding Globulin): erhöht
- Prolaktin: erhöht
- Chromosomenanalyse
- Die Diagnose wird durch Chromosomenanalyse der Lymphozyten bestätigt.6
- Bisweilen zeigt die Untersuchung einen normalen Karyotyp, in solchen Fällen sollte die Analyse anhand von Hautfibroblasten oder durch Hodenbiopsie vorgenommen werden.
- Kann auch mittels PCR-Nachweis der RNA auf X-inaktive-spezifische Transkriptase (XIST) in peripheren Leukozyten diagnostiziert werden.
- Ejakulat
- Evtl. Echokardiografie, um einen Mitralklappenprolaps auszuschließen.
- Evtl. Knochendichtemessung
Therapie
- Eine Heilung des Klinefelter-Syndroms ist nicht möglich.
Therapieziele
- Steigerung der Lebensqualität, Verringerung psychosozialen Stresses und Spätfolgen verhindern.
- Bestmögliche seelische und körperliche Entwicklung der Betroffenen
Allgemeines zur Therapie
- Bei Infertilität kann versucht werden, durch IVF und die Verwendung frischen Spermas oder die Entnahme von Spermien durch mikrochirurgische Verfahren den Kinderwunsch zu erfüllen.11
- Eine lebenslange Testosteronsubstitution steigert die Libido, Knochendichte und Lebensqualität.1
- Bei Gynäkomastie können Operationen gute kosmetische Ergebnisse hervorbringen und die psychische Belastung reduzieren.
- Psychologische Begleitung
- Logopädie
Empfehlungen für Patienten
- Körperliche Aktivität und gesunde Lebensweise sind wichtig, u. a. um das Risiko von Osteoporose zu minimieren.
Medikamentöse Therapie
Testosteronsubstitution
- Aufgabe für Fachärzt*in
- Frühzeitiger Beginn
- Wird normalerweise mit Einsetzen der Pubertät begonnen und stellt eine lebenslange Behandlung dar.12
- Unterdrückt die eigene noch verbleibende Spermatogenese, daher Abwägung der Therapie bei Kinderwunsch.
- Bei aktuellem Kinderwunsch mindestens 3–6 Monate zuvor Testosteron absetzen.
- Eine frühe Behandlung führt zu mehr körperlicher Kraft, Libido, Knochendichte und Körperbehaarung.12-13
- Wirkt sich positiv auf die Stimmung und das Verhalten aus, verbessert zielgerichtetes Denken und das Selbstwertgefühl, vermindert Müdigkeit, einen unzweckmäßigen Tag-Nacht-Rhythmus und Reizbarkeit.14
- kaum hilfreich bei Gynäkomastie
- Ein hoher Spiegel von Gonadotropinen (LH und FSH) weist auf eine unzureichende Behandlung mit Testosteron hin.
- Intramuskuläre Injektion
- Testosteronundecanoat in öliger Depotform 1.000 mg alle 12 Wochen nach initialer Aufsättigung15
- Die i. m. Injektion von Testosteron-Fettsäureestern (Testosteron-Enantat oder Testosteron-Cypionat) jede 2.–4. Woche war die Standardbehandlung, die allerdings erhebliche Schwankungen des Serum-Testosteronspiegels mit sich bringt; deshalb wird aktuell die Depotform angewendet.
- Transdermale Behandlung mit Depotpflaster oder einem Gel
- Ermöglicht einen gleichmäßigeren Serum-Testosteronspiegel und kann bei einigen Betroffenen intramuskuläre Injektionen ersetzen.
- Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass testosteronhaltiges Gel bei Intimkontakt o. Ä. auf die Partner*innen übertragen wird. Ein direkter Hautkontakt mit dem Auftragungsbereich sollte in den ersten Stunden nach der Anwendung vermieden werden.
- Testosteron in Tablettenform wird nicht empfohlen, da sie im Tagesverlauf zu stark variierenden Testosteronspiegeln führen und von hohen zu niedrigen Werten am selben Tag schwanken können.
Weitere Maßnahmen
- TESE (testikuläre Spermienextraktion) und ICSI (intrazytoplasmatische Spermieninjektion)
- Kann bei einigen Patienten wirksam sein.
- erhöhtes Risiko für Trisomie 2116
- Es ist auch möglich, Spermien zu einem frühen Zeitpunkt z. B. in der Pubertät zu entnehmen und für eine evtl. spätere Verwendung einzufrieren.
Prävention
- Es existiert keine Behandlung, mit der man dem Klinefelter-Syndrom vorbeugen könnte.
- Das Klinefelter-Syndrom ist angeboren, aber nicht vererbt.
- Eltern tragen kein höheres Risiko für weitere Kinder mit derselben Diagnose als die übrige Bevölkerung.
- Das Risiko für Patienten mit Klinefelter-Syndrom ein Kind mit der selben Diagnose zu bekommen, ist nicht höher als in der Allgemeinbevölkerung, da die Spermatogonien einen 46,XY-Chromosomensatz zu haben scheinen.17
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die meisten haben eine unauffällige Kindheit, evtl. eine Beeinträchtigung der psychosozialen Entwicklung.
- Üblicherweise wird die Diagnose in der Pubertät gestellt, manchmal aber auch erst später im Leben, insgesamt werden nur ca. 25 % aller Betroffenen im Lauf ihres Lebens diagnostiziert.18
Komplikationen
- Erhöhte Inzidenz somatischer Erkrankungen
- deutlich erhöhtes Brustkrebsrisiko
- chronische Lungenerkrankungen
- Herzerkrankungen, insbesondere Mitralklappenprolaps
- Diabetes mellitus und verminderte Glukosetoleranz19-20
- Osteoporose
- Varizen treten bei 20–40 % auf.
- Ulzera cruris21, Infektionen der Haut und Ekzeme
- TVT, Lungenembolie22
- generell erhöhte Inzidenz von Autoimmunerkrankungen u. a. systemischer Lupus erythematodes, Sjögren-Syndrom und rheumatoide Arthritis
- neurologische Erkrankungen u. a. Zerebralparese, Epilepsie und Augenkrankheiten
- Mediastinaltumoren
- Infertilität
- Ca. 5 % (Klinefelter 46, XY/47,XXY Mosaik) können dennoch ihren Kinderwunsch auf natürlichem Wege erfüllen.
- Erhöhte Inzidenz von Verhaltensauffälligkeiten, psychiatrischen und psychosozialen Problemen
Prognose
- Normale Lebenserwartung für die meisten Betroffenen
- Im extremsten Fall ist die Lebensdauer aufgrund des erhöhten Auftretens verschiedener somatischer Erkrankungen leicht verringert.20
- Kinderlosigkeit und erhöhte Inzidenz somatischer, psychosomatischer und psychiatrischer Erkrankungen
- Eine Testosteronsubstitution sorgt für eine gesteigerte Lebensqualität bei der Mehrheit der Betroffenen.
Patienteninformation
Patienteninformationen in Deximed
Patientenorganisationen
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) e. V., Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) e. V., Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) e. V. Varianten der Geschlechtsentwicklung. AWMF-Leitlinie Nr. 174-001. S2k, Stand 2016. www.awmf.org
Literatur
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Autor*innen
- Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München
- Susanne Schlesinger, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Freiburg
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).