Intelligenzminderung

Zusammenfassung

  • Definition:Intelligenzminderung (früher „geistige Behinderung“) bezeichnet unvollständig entwickelte Intelligenz, die eine Behandlung, persönliche Assistenz oder Trainingsmaßnahmen im Alltag erforderlich machen. Prädisponierend sind angeborene Hirnschädigung, frühzeitige, schwere Erkrankungen sowie genetische Faktoren.
  • Häufigkeit:Die Gesamtprävalenz liegt in Deutschland bei ca. 1 %.
  • Symptome:Unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z. B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten.
  • Befunde:Die klinische Untersuchung ist häufig nicht wegweisend, gelegentlich fallen motorische Einschränkungen auf.
  • Diagnostik:Ausschlaggebend für die Diagnose sind Intelligenztests und Funktionsanalysen.
  • Therapie:Eine Kausaltherapie ist nur in seltenen Fällen möglich. Entscheidende Bedeutung kommt einer möglichst frühen individuellen Förderung zu.

Allgemeine Informationen

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf dieser Referenz.1

Definition

  • Intelligenzminderung (früher auch „geistige Behinderung“) und mentale Retardierung werden synonym gebraucht.
  • WHO-Definition 2000
    • „Eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z. B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten.“
  • DSM-V 2013
    • Intellectual Disability (Intellectual Developmental Disorder) ersetzt den Begriff „Mental Retardation“ aus dem DSM-IV.
    • Die Diagnose umfasst Beeinträchtigungen allgemeiner psychischer Fähigkeiten, die wiederum das adaptive Funktionsniveau in 3 Bereichen einschränken:
      1. konzeptionell: Sprache, Lesen, Schreiben, Mathematik, Urteilen, Denken, Wissen und Gedächtnis
      2. sozial: Empathie, soziales Urteilsvermögen, interpersonelle Kommunikationsfähigkeiten, Fähigkeiten zur Beziehungsaufnahme und Beziehungserhalten
      3. praktisch: Selbstmanagement, Hygiene, berufliche Verantwortlichkeit, Umgehen mit Geld, Freizeitverhalten, Schulbesuch und andere Arbeitsaufgaben.
  • Fehlklassifikationen
    • Nicht selten kommt es zu einer Über- oder aber Unterschätzung der intellektuellen Fähigkeiten.
    • Eine korrekte Diagnosestellung ist von entscheidender sozialer, persönlicher, rechtlicher, ökonomischer und pädagogischer Bedeutung.

Häufigkeit

  • Prävalenz
    • Variiert je nach Studie und Land.
    • Prävalenzangaben in der internationalen Literatur schwanken zwischen 0,6 % und 1,83 %.2 
    • Für Deutschland wird von einer Gesamtprävalenz von ungefähr 1 % ausgegangen.
    • Ein gewisser Anteil der Prävalenzrate von leichter Intelligenzminderung überschneidet sich vermutlich mit dem untersten Abschnitt der IQ-Normalverteilung in der Bevölkerung.
  • Ein niedriger sozioökonomischer Status erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine leichte Intelligenzminderung.3
  • Jungen bzw. Männer sind in allen Studien gegenüber Mädchen bzw. Frauen überrepräsentiert.

Ätiologie und Pathogenese

  • Sowohl zahlreiche spezifische genetische als auch verschiedene Grunderkrankungen können eine Intelligenzminderung zur Folge oder als Begleiterscheinung haben.

Aufteilung nach dem Zeitpunkt der Schädigung

  • Pränatale Ursachen
    • genetische Anomalien und exogene Schädigungen
    • in ca. 70 % der Fälle schwerer Intelligenzminderung und ca. 40–50 % der Fälle mittelgradiger Intelligenzminderung
  • Perinatale Ursachen
    • Ca. 5–20 % der Fälle werden perinatalen Ursachen wie Asphyxie und neonatalen Infektionen zugeschrieben.4
  • Postnatale Ursachen
    • Ca. 1–12 % der Fälle werden auf postnatale Ursachen wie Infektionen und Traumata zurückgeführt.

Aufteilung nach spezifischen Ursachen

  • Genetische Ursachen
    • Chromosomenaberration (Down-Syndrom etc.)
    • nicht-chromosomale genetische Erkrankungen (wie tuberöse Sklerose, Neurofibromatose, Schimmelpenning-Feuerstein-Mims-Syndrom, Sjögren-Larsson-Syndrom sowie Stoffwechselstörungen wie Phenylketonurie, Galaktosämie, Mukopolysaccharidosen, Homozystinurie usw.)
    • multifaktorielle Erkrankungen (Mikrozephalie, Hydrozephalus, zerebrale Fehlbildungen, Smith-Lemli-Opitz-Syndrom usw.)
  • Exogene Ursachen

Pathologie

  • Intelligenzminderung stellt eine lebenslang andauernde Beeinträchtigung dar und ist häufig die Folge einer diffusen Hirnschädigung.
  • Negative Auswirkung auf Lernfähigkeit, Abstraktions- und Problemlösungsvermögen sowie die psychomotorische Geschwindigkeit
  • Nicht selten generelle Lernbeeinträchtigung
    • Sprachkompetenz kann sowohl im rezeptiven als auch im produktiven Bereich stark variieren.
    • In manchen Fällen kann eine gute Sprechfertigkeit das tatsächliche Ausmaß einer dahinter liegenden Entwicklungsstörung verdecken.
  • Eine neuropsychologische Untersuchung ist sinnvoll, um die individuellen kognitiven Stärken und Schwächen zu identifizieren.

Komorbidität

  • Die Prävalenz psychischer Störungen ist bei Menschen mit Intelligenzminderung höher als in der Allgemeinbevölkerung.
    • Je schwerer die Intelligenzminderung, desto häufiger kann das Auftreten von zusätzlichen Beeinträchtigungen beobachtet werden.
  • Kinder mit Entwicklungsstörungen haben ein erhöhtes Risiko für kognitive Dysfunktionen.
  • Erhöhtes Risiko, gewalttätig zu sein oder Opfer einer Gewalttat zu werden.
    • Bei Personen mit Intelligenzminderung besteht ein erhöhtes Risiko, sexuell missbraucht oder misshandelt zu werden.
    • Verminderte kognitive Funktion und reduzierte Anpassungsfähigkeit erhöhen zudem das Risiko für physische und psychische Gewalttätigkeit, kriminelles Verhalten, Drogenmissbrauch und sexuellen Missbrauch.
  • Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten sind häufig Anlässe für eine  psychiatrische/psychologische Überweisung.
    • Die Abgrenzung zwischen Verhaltensauffälligkeit und psychischer Erkrankung ist teilweise umstritten.
  • Psychische Störungen können bei intelligenzgeminderten Kindern ein heterogenes Symptombild aufweisen.
  • Schizophrenie und Depression können auf Basis der Symptome mit einer Intelligenzminderung verwechselt werden.
    • z. B. reduzierte psychomotorische Geschwindigkeit oder stark eingeschränkte Alltagsfertigkeiten

Prädisponierende Faktoren

  • Intelligenzminderung durch genetische Ursachen und mit unterschiedlich hohen Vererbungsrisiken (sowohl auf dem dominanten als auch auf dem rezessiven Vererbungsweg)
  • Pränatale Faktoren wie maternale Infektionen, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch während der Schwangerschaft5
  • Intrauterine Wachstumsretardierung, intrauterine Hypoxie und Frühgeburt
  • Perinatale Faktoren wie eine langdauernde und schwierige Geburt, neonatale Asphyxie, Frühgeburt
  • Mangelhafte Fürsorge und psychosoziale Deprivation
  • Angeborene Erkrankungen, z. B.:

ICPC-2

  • P85 Mentale Retardierung

ICD-10

  • F70 Leichte Intelligenzminderung
  • F71 Mittelgradige Intelligenzminderung
  • F72 Schwere Intelligenzminderung
  • F73 Schwerste Intelligenzminderung
  • F78 Andere Intelligenzminderung
  • F79 Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung

Diagnostik

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf dieser Referenz.1

Diagnostische Kriterien

  • Diagnosestellung: Anamnese + Beurteilung der adaptiven Fähigkeiten + Intelligenztests

ICD-10-Kriterien

  • Signifikant unterdurchschnittliche Intelligenz, entsprechend einem IQ von unter 70 Punkten
  • Beginn vor dem vollendeten 18. Lebensjahr
  • Erhebliche Abweichungen der adaptiven Fähigkeiten im alltäglichen Leben
    • bezogen auf die geltenden Standards der Kultur in den Bereichen Kommunikation, Selbstständigkeit, eigenständiges Wohnen, soziale und zwischenmenschliche Fertigkeiten, Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen, Selbstkontrolle, elementare schulische Fertigkeiten, Arbeits- und Freizeitverhalten, Gesundheit und Sicherheit

Weitere Beurteilungsmöglichkeiten

  • Die ärztliche Untersuchung sollte die Problematik stets aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten.
    • Liegt eine Intelligenzminderung vor? In welchem Umfang?
    • Spezifische Ätiologie?
    • Bestehen neurologische oder sensorische Defizite oder sonstige Fehlbildungen?
    • Ist die Erkrankung gleichbleibend oder progredient?
  • Beurteilung der Anpassungsfunktionen sollte Alter, soziokulturellen Hintergrund, körperliche und sensorische Behinderungen sowie psychische Erkrankungen berücksichtigen.
    • Anpassungsschwierigkeiten lassen sich therapeutisch leichter erfolgreich behandeln als eine verminderte Intelligenz.
  • Eine Reihe von Erkrankungen lässt sich bereits anhand von Blutproben zuverlässig bestimmen (wie z. B. bei Phenylketonurie).
  • Eine frühzeitige Diagnosestellung ist häufig schwierig und erfordert gute Kenntnisse der physiologischen psychomotorischen Entwicklung.

Klassifikation der Intelligenzminderung

Leichte Intelligenzminderung (F70, ICD-10)
  • Lernschwierigkeiten in der Schule
  • Viele Erwachsene können arbeiten, gute soziale Beziehungen unterhalten und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten.
  • Zu dieser Gruppe gehören etwa 80 % der intelligenzgeminderten Menschen.
Mittelgradige Intelligenzminderung (F71)
  • Entwicklungsverzögerung in der Kindheit
  • Die meisten Menschen erreichen jedoch ein gewisses Maß an
    Unabhängigkeit sowie eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit und Ausbildung.
  • Erwachsene brauchen in unterschiedlichem Ausmaß Unterstützung im täglichen Leben und bei der Arbeit.
  • Zu dieser Gruppe gehören etwa 12 % der intelligenzgeminderten Menschen.
Schwere Intelligenzminderung (F72)
  • Die Betroffenen benötigen in der Regel lebenslange Unterstützung.
  • Hierzu gehören etwa 7 % aller intelligenzgeminderten Menschen.
Schwerste Intelligenzminderung (F73)
  • Führt zu erheblichen Beeinträchtigungen in den Bereichen der Selbstversorgung, Kommunikation und Mobilität.
  • Die Betroffenen sind nicht mittels Standard-Intelligenztests beurteilbar; ihr IQ wird auf weniger als 20 Punkte veranschlagt.
  • Weniger als 1 % der intelligenzgeminderten Menschen
Nicht überprüfbare Personen (F78, F79)
  • In Fällen, in denen Menschen nicht im herkömmlichen Sinne überprüfbar sind, etwa durch physiologische oder Sprachbarrieren, kann auf die Kodierungen F78 „Andere Intelligenzminderung“ oder F79 „Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung“ zurückgegriffen werden.
  • Dann rein klinische Bewertung oder ggf. als Hilfsmittel Verwendung einer Skala wie z. B. Vineland-II (Vineland Adaptive Behavior Scales; kostenpflichtig)
  • Die Codes F78 und F79 können auch temporär benutzt werden, um sie ggf. zu einem späteren Zeitpunkt zu revidieren, wenn sich die Grundlage für eine spezifischere Diagnose einstellt.
    • F78 „Andere Intelligenzminderung“ wird verwendet, wenn die kognitive Einschätzung schwierig oder unmöglich ist, weil sensorische oder körperliche Beeinträchtigungen, schwere Verhaltensstörungen oder körperliche Behinderungen (wie z. B. eine Zerebralparese) vorliegen.
    • F79 „Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung“ wird verwendet, wenn zwar Anzeichen einer Entwicklungsstörung gegeben sind, aber keine ausreichenden Informationen vorliegen, um die Patient*innen gemäß der ICD-10-Klassifikation nach leichter, mittelgradiger, schwerer oder schwerster Intelligenzminderung einzuordnen, wie z. B. im Falle neu zugewanderter Migrant*innen.

Differenzialdiagnosen

  • Störung der sensorischen Integration
    • Kann wie eine Intelligenzminderung erscheinen mit verlangsamter psychomotorischer Entwicklung.
  • Zerebralparese
    • Motorische Defekte können leicht als Zeichen einer Intelligenzminderung missverstanden werden, zumal die Kommunikation oftmals erschwert ist.
  • ADHS
  • Spezifische Lernschwierigkeiten
    • Lese- und Schreibschwierigkeiten (Dyslexie)
    • Rechenschwierigkeiten (Dyskalkulie)
    • In diesen Fällen ist lediglich die Entwicklung innerhalb eines fest umgrenzten Bereichs betroffen, während jedoch keine generellen Beeinträchtigungen der kognitiven Entwicklung und Anpassungsfunktion vorliegen.
  • Autismus-Spektrum-Störungen
  • Neurologische Erkrankungen

Anamnese

  • Häufig haben Eltern frühzeitig den Verdacht, dass eine Entwicklungsstörung vorliegt, entweder aufgrund der verzögerten Entwicklung oder aufgrund von symptomatischen Auffälligkeiten in Bezug auf das ZNS.
    • verzögerte Sprachentwicklung
    • „unreifes“ Verhalten/Spielverhalten
    • Gering ausgebildete Fähigkeiten, Probleme selbstständig zu bewältigen.
    • Lernschwierigkeiten
    • Jüngere Geschwister überholen die Betroffenen in ihren Entwicklungsschritten.
    • Das Kind zeigt oft nur geringes Interesse an seiner Umgebung.
  • Das Kind erreicht die Meilensteine der kindlichen Entwicklung nicht oder verspätet.
  • Ein erster Verdacht und der Anlass zu weiteren Untersuchungen sollte sich bei folgenden Anzeichen ergeben:
    • wiederholte Krämpfe
    • neurologische Symptome
    • verzögerte psychomotorische Entwicklung
    • Auffällig abweichendes Aussehen, wozu insbesondere Veränderungen der Haare, der Haut und der Augen zählen.
    • auffälliger Geruch
    • Skelettveränderungen.
  • Informationen über:
    • Entwicklungszeiträume
    • schulische Leistungen
    • familiäre Verhältnisse
    • medizinische und psychiatrische Auffälligkeiten.

Untersuchung der adaptiven Fähigkeiten

  • Hierfür wird häufig die Vineland-II-Skala benutzt, die ein Instrument zur Bewertung der 4 wichtigsten adaptiven Bereiche im Leben eines Menschen ist:
    1. motorische Entwicklung: Grobmotorik, Feinmotorik, Mobilität und Beweglichkeit
    2. Alltagskompetenz: Haushalt, Kleidung, Hygiene und Ernährung
    3. Kommunikation: produktive und rezeptive Sprachverwendung, Lese- und Schreibfertigkeit sowie der Umgang mit Geld
    4. Sozialkompetenz: Freundschaften schließen und pflegen, Interaktion mit anderen sowie Teilnahme an gemeinschaftlichen Aktivitäten.

Klinische Untersuchung

  • Intelligenzminderung zeigt sich am ehesten durch das Fehlen einer adäquaten Reaktionsweise im psychosozialen Umgang.
  • Typische Befunde können sein: verzögerte psychomotorische Entwicklung, persistierende primitive Reflexe, anomale Schlaf- und Essgewohnheiten sowie motorische Ungeschicklichkeit.

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Die Funktion der Sinnesorgane sollte sorgfältig untersucht und beurteilt werden, insbesondere das Hör- und Sehvermögen.
  • Ggf. Diagnostik bei Spezialist*innen für Augenheilkunde und HNO-Heilkunde

Diagnostik bei Neurolog*in, Psychiater*in

  • Intelligenztests
    • Die ausschlaggebende Untersuchung in der Diagnostik betrifft die kognitiven Fähigkeiten, wie sie in Intelligenztests erfasst werden.
  • Laboruntersuchungen
    • Sind auf spezifische Ätiologien ausgerichtet – wie im Falle von DNA-Untersuchungen oder Blut- und Urinanalysen – und fallen normalerweise nicht in den täglichen hausärztlichen Bereich.
    • Chromosomenanalyse: In sehr vielen Fällen kommt die Array-CGH zum Einsatz, insbesondere wenn monogene Vererbung oder angeborene Infektion unwahrscheinlich sind.
    • Untersuchungen des Metabolismus, um etwaige Stoffwechseldefekte zu erkennen (z. B. Hypothyreose, Homozystinurie).
  • CT oder MRT des Gehirns
    • Alle Betroffenen einer schweren Intelligenzminderung wie auch die meisten Betroffenen einer leichteren Form der Intelligenzminderung, sollten neuroradiologisch untersucht werden, um etwaige organische Differenzialdiagnosen auszuschließen.
  • Augenuntersuchungen
    • Sowohl die Retina als auch der Sehnerv (N. opticus) gehören zum zentralen Nervensystem (ZNS); Augenuntersuchungen sind deshalb ein wichtiger Bestandteil in der Diagnostik von Intelligenzminderungen.

Intelligenztests

  • Zur Durchführung und Auswertung eines Intelligenztests ist eine Zertifizierung erforderlich.
  • Nur wenn nahezu alle kognitiven Fähigkeiten statistisch signifikant vermindert ausfallen, kann eine Person als intelligenzgemindert diagnostiziert werden.
  • Die Durchführung eines IQ-Tests erfolgt nach vorgegebenen Richtlinien und die Auswertung gemäß der jeweils geltenden Best Practice.
  • Der am häufigsten angewandte Intelligenztest ist der Wechsler-Test, wie z. B. der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (4. Aufl., WAIS-IV).
  • Ein weiterer häufig verwendeter Intelligenztest ist der Leiter-Test, der komplett ohne gesprochene Sprache auskommt, und zwar sowohl von Proband*in als auch Versuchsleiter*in.
  • Die Intelligenz eines Menschen gilt im Allgemeinen als zeitlich relativ konstant bleibend, von der Jugend bis zum späten Erwachsenenalter; schwieriger kann es hingegen sein, das spätere Intelligenzniveau vom Kindesalter her zu prognostizieren.
  • Unter Umständen kann es daher begründet sein, die Intelligenz nach einigen Jahren erneut zu messen, da die kognitiven Fähigkeiten im Laufe der Zeit durch Umweltfaktoren, den Bildungsweg, Symptome psychischer Erkrankung sowie medizinische Begleitumstände beeinflusst werden können.

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf eine Intelligenzminderung sollte eine Überweisung an pädiatrische Spezialist*in erfolgen, um das Vorliegen etwaiger Syndrome, Stoffwechselstörungen oder genetischer Erkrankungen etc. abzuklären sowie die erforderlichen Therapiemaßnahmen einzuleiten.
  • Insbesondere bei Verdacht auf psychiatrisch/neurologische Grunderkrankungen ist eine entsprechende Überweisung sinnvoll.

Therapie

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf dieser Referenz.1

Therapieziele

  • Möglichst optimale psychomotorische und soziale Entwicklung
  • Verminderung aggressiver Konflikte und Verbesserung der Impulskontrolle
  • Aufbau sozialer Kompetenzen
  • Ressourcenaktivierung
  • Entwicklung eines adäquaten Störungsmodells und Verbesserung der Erziehungskompetenz der Eltern
  • Erlernen von Umgang und Akzeptanz der individuellen Einschränkungen des Kindes
  • Verbesserung der Erziehungskompetenz der Lehrkräfte, insbesondere Erarbeitung von speziellen Fördermöglichkeiten

Allgemeines zur Therapie

  • Für die meisten Fällen von mentaler Retardierung existiert keine kausale Therapie.
  • Frühzeitige Stimulation kann jedoch im Kindesalter dabei helfen, die eigenen Ressourcen auf bestmögliche Weise zu nutzen.
  • Die optimale Therapie und Förderung erfordert einen interdisziplinären Ansatz, zu dem verschiedene Berufsgruppen mit ihren Sichtweisen und Kompetenzen beitragen können, wie z. B. Sozialpädagog*in, Psycholog*in und (Sonder-)Pädagog*in, ggf. sozialpsychiatrische Dienste, Physiotherapeut*in sowie pflegerisches und ärztliches Fachpersonal.
  • Sinnvoll wäre z. B. die Einrichtung von verantwortlichen Betreuungsnetzwerken, die von den jeweils am nächsten mit den Patient*innen befassten Therapeut*innen angeleitet wird, um die Gesamtheit der Maßnahmen zu überblicken und zu koordinieren.
  • Die enge Kooperation mit den Eltern ist von entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche Therapie- und Förderarbeit.
  • im Umgang mit den Patient*innen erweisen sich folgende Strategien therapeutisch als hilfreich:
    • weniger Komplexität in der sprachlichen Interaktion, kürzere Therapieeinheiten, höhere Therapiefrequenzen, kürzere Sätze, Verwendung weniger und einfacherer Worte, Einbeziehung von Spielen und ein engeres Einbeziehen von Bezugspersonen.

Psychotherapie und Verhaltenstherapie

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Grundsätzlich können alle psychotherapeutischen Verfahren bei Menschen mit Intelligenzminderung angewandt werden.
  • Als wirksam haben sich in vielen Studien verhaltenstherapeutische und psychodynamische Ansätze erwiesen.
  • Die systemische Familientherapie leistet einen wichtigen Beitrag zur Behandlung von Menschen mit Intelligenzminderung, entweder als primäre Methode oder im Rahmen verhaltenstherapeutischer oder psychodynamischer Vorgehensweisen.
  • Menschen mit Intelligenzminderung profitieren außerordentlich von Kreativtherapien (Kunst- und Gestaltungstherapie, körperorientierte Angebote, Musiktherapie, tiergestützte Therapien) sowie ergotherapeutischen Angeboten.

Physiotherapie und Ergotherapie

  • Die Datenlage zur Evidenz von Heilmittelbehandlungen heterogen und insgesamt ist nicht ausreichend, um eindeutige Empfehlungen für bestimmte therapeutische Ansätze geben zu können.
  • Unbestritten ist jedoch insgesamt ein positiver Effekt dieser Maßnahmen.1
  • Die Eltern sollen in Heilmittelbehandlungen aktiv einbezogen werden.
  • Heilmittelbehandlungen sollen „Top-down“-Interventionen sein, die sich an den Aktivitäten und der Teilhabe der Kinder orientieren.
  • Therapieziele sollen vor Behandlungsbeginn konkret festgelegt werden, sie sollten klar abgegrenzt und messbar sein.

Empfehlungen und Informationen für Patient*innen

Medikamentöse Therapie

  • Eine medikamentöse Therapie in der Behandlung von Intelligenzminderung ist nicht regelhaft vorgesehen.
  • Medikamentös werden insbesondere Begleiterkrankungen wie z. B. eine Epilepsie behandelt.

Antipsychotika?

  • Keine eindeutige Evidenz zur Behandlung von Verhaltensstörungen wie übersteigerter Aggressivität und Selbstverletzungen7-10
    • kein effektiver Behandlungsansatz
    • Selten besteht ein Erfordernis einer medikamentösen Behandlung aufgrund ansonsten nicht ausreichender Ressourcen.

Prävention

  • Optimale Schwangerschaftsbegleitung
  • Frühzeitige Informationen für werdende Eltern über mögliche Ursachen von Behinderungen und etwaige Risiken, falls das eigene Kind intelligenzgemindert sein könnte.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

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Verlauf

  • Der Verlauf hängt vollständig von Ursache und Grad der Intelligenzminderung ab.
  • Die meisten Betroffenen einer leichten Intelligenzminderung werden in der Lage sein, ein Leben in relativer Unabhängigkeit zu führen, doch benötigen auch sie regelmäßige Unterstützung, um ihre Funktionalität beizubehalten.
  • Viele Menschen mit mittelgradiger Intelligenzminderung leben in der heutigen Gesellschaft in Einrichtungen mit bedarfsweise variierenden Unterstützungsmöglichkeiten und mit Tagestherapie-Angeboten (u. a. einem geschützten Arbeitsplatz und weiteren Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten).
  • Menschen mit schwerer Intelligenzminderung benötigen in der Regel eine Betreuung rund um die Uhr sowie spezielle fördernde Angebote am Tag wie Verhaltenstraining, unterschiedliche Formen der sensorischen Stimulation und weitere personalisierte Angebote.

Komplikationen

  • Bei etlichen Betroffenen liegen Herzfehler, Schilddrüsendysfunktion, neurologische Störungen oder weitere Organdefekte vor.
  • Stoffwechselstörungen nehmen häufig einen progressiven Verlauf, wobei sich Komplikationen in Verbindung mit dem jeweiligen Defekt ergeben können.
  • Viele Betroffene einer höchstens mittelgradigen mentalen Retardierung sind somatisch gesund und haben keine eingeschränkte Lebenserwartung.
  • Bei schwerer Intelligenzminderung besteht ein erhöhtes Risiko für rezidivierende untere Atemwegserkrankungen, Stressulzera und andere (chronische) Erkrankungen.

Prognose

  • Die Prognose ist abhängig von der spezifischen Ursache und dem Grad der Intelligenzminderung.
  • Viele Kinder mit spezifischen Syndromen, genetischen Defekten und Stoffwechselstörungen haben eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten sowie eine reduzierte Lebenserwartung.

Verlaufskontrolle

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  • Individuelle Behandlungskonzepte sollten in enger interdisziplinärer Abstimmung aller Beteiligter erstellt und von einer hauptverantwortlich betreuenden Stelle aus koordiniert werden.
  • Es ist von Vorteil, wenn die psychomotorische und soziale Entwicklung auch über längere Zeit hinweg von einer festen verantwortlichen Betreuungsperson oder -gruppe verfolgt wird.
  • Die Kontrollen der somatischen Komplikationen wie Herzerkrankungen, der endokrinologischen und Stoffwechselstörungen sowie der Sinnesorgane sollten individuell und in enger Absprache mit den jeweiligen Fachärzt*innen erfolgen.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Intelligenzminderung. AWMF-Leitlinie Nr. 028-042. S2k, Stand 2021. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Intelligenzminderung. AWMF-Leitlinie Nr. 028-042, Stand 2021. www.awmf.org. www.awmf.org
  2. Maulik M, Mascarenhas MN, Mathers CD, Dua T, Saxena S. Prevalence of intellectual disabilities: A Meta-analysis of population-based studies. 2011. Res Dev Disabil 32: 419–436. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Strømme P, Hagberg G. Aetiology in severe and mild mental retardation: a populationbased study of Norwegian children. Dev Med Child Neurology 2000; 42: 76-86. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Purugganan O. Intellectual Disabilities. Pediatr Rev. 2018 Jun;39(6):299-309. doi: 10.1542/pir.2016-0116. PMID: 29858292. publications.aap.org. publications.aap.org
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  6. Mason J. The provision of psychological therapy to people with intellectual disabilities: an investigation into some of the relevant factors. Journal of Intellectual Disability Research 2007; 51: 244-9. PubMed
  7. Matson JL, Wilkins J. Antipsychotic drugs for aggression in intellectual disability. Lancet 2008; 371: 9-10. PubMed
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  10. Machalicek W, O'Reilly MF, Beretvas N, Sigafoos J and Lancioni GE. A review of interventions to reduce challenging behavior in school settings for students with autism spectrum disorders. Res Autism Spectr Disord 2007; 1: 229-46. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster/W
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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