Beinlängendifferenz

Zusammenfassung

  • Definition: Eine strukturelle Beinlängendifferenz liegt vor, wenn ein Unterschied in der absoluten Länge der beiden unteren Extremitäten besteht.
  • Häufigkeit: 90 % der Bevölkerung haben unterschiedlich lange Beine, jedoch kommt auf 1.000 Personen nur etwa 1 behandlungsbedürftige Beinlängendifferenz.
  • Symptome: Bei einer ausgeprägten Beinlängendifferenz kann es zu einem Hinken mit Störung der physiologischen Biomechanik kommen.
  • Befunde: Wird der Patient stehend und mit gestreckten Beine von hinten betrachtet, fällt ein Beckenschiefstand auf.
  • Diagnostik: Röntgen ist die genaueste ergänzende Untersuchung.
  • Therapie: Bei geringen Unterschieden erfolgt keine Therapie, bei ausgeprägten Beinlängendifferenzen kommen Spezialschuhe, evtl. Epiphysiodese oder Osteotomien in Betracht.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Strukturelle Beinlängendifferenz
    • Unterschied in der absoluten Länge der beiden unteren Extremitäten1
  • Funktionelle Beinlängendifferenz
    • Beckenschiefstand, absolute Länge der unteren Extremitäten jedoch gleich
  • Beinlängendifferenzen sind bei Kindern in der Regel nicht statisch, sondern ändern sich während des Wachstums.

Häufigkeit

  • 90 % der Bevölkerung haben nicht exakt gleich lange Beine, im Durchschnitt 5 mm Unterschied.2
  • 23 % der Bevölkerung haben eine Beinlängendifferenz > 10 mm.3
  • Nur 1 von 1.000 Personen hat eine behandlungsbedürftige Beinlängendifferenz > 20 mm.4
  • Bei Kindern treten unterschiedliche Beinlängen häufig aufgrund von Wachstumsschüben auf.4

Ätiologie und Pathogenese – Ursachen

Prädisponierende Faktoren

  • Andere Erkrankungen (siehe oben Ätiologie und Pathogenese – Ursachen)

ICPC-2

  • L98 Erworbene Deformität Extremität
  • L99 muskuloskelet.Erkrankung, andere

ICD-10

  • M21.79 Unterschiedliche Extremitätenlänge (erworben), nicht näher bezeichnet
  • M95 Sonstige erworbene Deformitäten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes
    • M95.8 Sonstige näher bezeichnete erworbene Deformitäten des Muskel-Skelett-Systems
    • M95.9 Erworbene Deformität des Muskel-Skelett-Systems, nicht näher bezeichnet

ICD-10 Allgemeinmedizin

  • M95-P Sonstige erworbene Deformitäten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose der Beinlängendifferenz erfolgt durch die klinische Untersuchung und radiologisch.

Anamnese

  • Bei einer ausgeprägten Beinlängendifferenz kann es zu einem Hinken mit vermehrter Beckentorsion kommen.
  • Kinder kompensieren dies häufig, indem sie auf dem kürzeren Bein auf den Zehen stehen.
  • Ggf. Rückenschmerzen, es gibt aber keinen Hinweis auf einen Zusammenhang mit Beinlängendifferenz.2  
    • Rückenschmerz ist ein sehr häufiges Symptom in der Bevölkerung und kann daher auch zufällig simultan auftreten.

Klinische Untersuchung

  • Methode der Wahl zur Beinlängenmessung5
    • Patient steht, Knie gestreckt, barfuß.
    • Palpation der Beckenschaufeln von hinten
    • Palpierende Hände auf einer Höhe?
    • Ausgleich einer möglichen Beinlängendifferenz durch Positionierung von Holzblöcken definierter Dicke unter die Füße
  • Unterschenkellänge (Galeazzi-Test)
    • Beurteilung der Unterschenkellänge im Seitenvergleich
    • Bauchlage
    • Knie im 90-Grad-Winkel gebeugt.
    • Knöchel unterschiedlich hoch?
  • Oberschenkellänge (Galeazzi-Test)
    • Beurteilung der Oberschenkellänge im Seitenvergleich
    • Rückenlage
    • Hüfte und Knie im 90-Grad-Winkel gebeugt.
    • Knie unterschiedlich hoch?
  • Abstand Spina/Malleolus (bzw. Spina/Fußsohle)
    • Funktionelle Verkürzung, wie bei einer Beckenrotation oder Adduktionskontraktur einer Hüfte, wird jedoch nicht erkannt.

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Blutuntersuchungen sind ohne diagnostischen Wert.
  • Nur bei Verdacht auf andere Erkrankungen sinnvoll

Diagnstik beim Spezialisten

  • Röntgen 
    • Ganzbein-Stand-Aufnahme
    • genaues Ausmessen der Beinlänge möglich
  • Röntgen der Handknochen
    • Bestimmung des Skelettalters
    • meist zusammen mit radiologischer Beinlängenmessung 
  • Berechnung des Restwachstums/der Differenz am Wachstumsende
    • viele verschiedene Formeln/Methoden
    • Planung von Zeitpunkt und Lokalisierung einer möglichen Epiphysiodese und des Umfangs der Verlängerung bzw. Verkürzung
    • Faustregel nach Menelaus6
      • Femur wächst 1 cm pro Jahr.
      • Tibia wächst 0,6 cm pro Jahr.
      • Jungen wachsen bis 16 Jahre.
      • Mädchen wachsen bis 14 Jahre.

Indikationen zur Überweisung

  • Bei einer klinischen Beinlängendifferenz von > 2 cm sollten die Betroffenen an einen Orthopäden überwiesen werden.
    • Ausnahme: Bei Kleinkindern mit bereits deutlicher Beinlängendifferenz sollte auch schon unter 2 cm Differenz an Spezialisten überwiesen werden zum Ausschluss pathologischer Ursachen.
  • Eine frühzeitige Überweisung ist wichtig.
    • Eingriffe wie die Epiphysiodese sollen vor Ende des Wachstums durchgeführt werden.

Checkliste zur Überweisung

Beinlängendifferenz bei Kindern

  • Zweck der Überweisung
    • Diagnostik, konservative Therapie (orthopädische Hilfsmittel), Chirurgie
  • Anamnese
    • Beginn? Zugrunde liegende Krankheit oder Verletzung? Entwicklung/Progression? Ergebnisse der Röntgenuntersuchung?
    • Symptome: Hinken, Rückenschmerzen?
    • Andere relevante Erkrankungen?
    • Medikamente?
  • Klinische Untersuchung
    • Klinische Beurteilung der Beinlängendifferenz: Wie groß ist der Unterschied in Unterschenkel und Oberschenkel?
    • Perzentilenkurve
  • Ergänzende Untersuchungen
    • Röntgen zur Messung der Beinlängendifferenz
    • Röntgen zur Bestimmung des Knochenalters

Therapie

Therapieziele

  • Symptome lindern.
  • Künftige Beschwerden verhindern.

Allgemeines zur Therapie

  • Die Therapie richtet sich nach der absoluten Differenz und dem Wunsch nach einem Differenzausgleich.
  • Komplikationen einer Therapie sollten gegen den möglichen Nutzen abgewogen werden.
  • Beinlängendifferenzen < 2 cm verändern nicht die Biomechanik beim Gang.7

Empfehlungen

  • 0–1 cm: keine Therapie
    • Cave: Bei Kleinkindern mit bereits ausgeprägter Beinlängendifferenz kann eine pathologische Ursache vorliegen, z. B. fibulare Hemimelie!
      • Zur weiteren Beurteilung an Orthopäden überweisen.
  • 1–2 cm: Einlagen oder Schuherhöhung bei Beschwerden
    • Kinder mit klinischer Beinlängendifferenz von etwa 2 cm sollten zum Röntgen der Beinlänge und Handknochen zur Bestimmung des Knochenalters überwiesen werden.
      • Beträgt die röntgenologisch festgestellte Beinlängendifferenz 2 cm, regelmäßige klinische Beurteilung der Beinlängendifferenz.
      • Je nach Alter im Abstand von 1–2 Jahren, um endgültige Längendifferenzen feststellen zu können.
      • bei Bedarf erneute röntgenologische Beinlängenmessung 
  • > 2 cm, aber < 6 cm Differenz: Evaluation einer Epiphysiodese vs. Orthese vs. Schuherhöhung/Einlagen
    • Epiphysiodese: operativer Wachstumsstop der längeren Beinseite
    • Bei einer Differenz bis zu 5 cm können die Schuhe angepasst werden, z. B. Erhöhung der Sohle um 2 cm auf der kürzeren Seite und Einlegesohle mit 1 cm sowie Reduzierung der Sohle um 2 cm auf der längeren Seite.
    • Eine Orthese ist eine Therapieoption, falls die Schuherhöhung/Einlagen nicht ausreichend sind.
  • > 6 cm Differenz
    • Prozedere zur Verlängerung des kürzeren Beins evaluieren.
    • auch Kombination aus Epiphysiodese (längeres Bein) und Verlängerung (kürzeres Bein) möglich

Orthesen

  • Nur in wenigen Fällen ist die Anpassung einer Orthese nötig.
  • Bei Differenzen > 5 cm gibt es die Möglichkeit von Fuß-in-Fuß-Orthesen oder Spezialschuhen.1

Weitere Therapien

  • Mögliche chirurgische Eingriffe
    • verkürzende oder verlängernde Osteotomie
    • Epiphysiodese: Die Wachstumsfuge wird operativ verschlossen, z. B. mit einer Klammer.

Epiphysiodese

  • Bei berechneter Beinlängendifferenz von 2–6 cm ist sie eine mögliche Therapieoption.
  • Verkürzung des nicht betroffenen, längeren Beins durch operativen Verschluss der Wachstumsfugen
  • Zeitpunkt und Lokalisation einer möglichen Epiphysiodese müssen berechnet werden.
  • In der Regel an distaler Femurepiphyse und/oder der proximalen Epiphysenfuge von Tibia/Fibula 
  • Die Bestimmung des Zeitpunkts der Epiphysiodese ist abhängig von der kalkulierten Beinlängendifferenz und der Epiphyse, in der das Wachstum gestoppt werden soll.
  • Es gibt verschiedene operative Techniken, u. a. kleine Platten (8-Plates) und Klammern, die knapp ober- und unterhalb der Epiphysenfuge angebracht werden.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Die Unterschiede treten im Wachstum auf.

Komplikationen

Infolge einer Beinlängendifferenz

  • Stark umstritten, ob überhaupt Komplikationen auftreten.2
  • Bei sehr ausgeprägten Beinlängendifferenzen > 5 cm Störung der Biomechanik und des physiologischen Gangbilds

Infolge einer verlängernden oder verkürzenden Osteotomie

  • Sehr häufig Pin-Infektionen bei verlängernder Osteotomie mittels Fixateur externe
  • Osteomyelitis
  • Kontrakturen
  • Luxationen
  • Schädigung von Weichteilgewebe
  • Pseudarthrose

Infolge einer Epiphysiodese

  • Über-/Unterkorrektur
  • Rebound: nach Entfernung der Epiphysiodese-Platten verstärktes Wachstum

Prognose

  • Die Prognose hängt vom Grad der Beinlängendifferenz und der gewählten Therapie ab.
  • Kein Beweis für ein erhöhtes Risiko einer Gon- oder Coxarthrose bei moderater Beinlängendifferenz8
  • Kein Hinweis auf ein vermehrtes Auftreten von Rückenschmerzen bei Beinlängendifferenz < 2 cm2
  • Es ist nicht belegt, dass die funktionelle Skoliose zum Ausgleich der Beinlängendifferenz in eine strukturelle Skoliose übergeht.1

Verlaufskontrolle

  • Beinlängendifferenz von etwa 2 cm
    • Regelmäßige Kontrollen, um eine Zunahme rechtzeitig zu bemerken und behandeln zu können.
  • Beinlängendifferenz > 2 cm
    • Das Behandlungskonzept mit dem Orthopäden abstimmen.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patienten informieren?

  • 90 % der Bevölkerung haben leicht unterschiedlich lange Beine.
  • Behandlungsbedarf besteht in der Regel erst bei > 2 cm Differenz.
  • Bei Kindern kommt es zu Wachstumsschüben.
    • Während dieser Wachstumsschübe sind leicht unterschiedlich lange Beine normal.

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. McCarthy JJ, MacEwen GD. Mangement of leg length inequality. J South Orthop Assoc. 2001;10(2). www.medscape.com
  2. Knutson GA. Anatomic and functional leg-length inequality: A review and recommendation for clinical decision-making. Part I, anatomic leg-length inequality: prevalence, magnitude, effects and clinical significance. Chiropr Osteopat 2005; 13: 11. www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Gross RH. Leg length discrepancy: how much is too much?. Orthopedics 1978; 1: 307-310. www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Guichet JM, Spivak JM, Trouilloud P, et al: Lower limb-length discrepancy. an epidemiologic study. Clin Orthop 272:235-241, 1991. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Lampe HI, Swierstra BA, Diepstraten AF. Measurement of limb length inequality. Comparison of clinical methods with orthoradiography in 190 children. Acta Orthop Scand 1996; 67(3): 242-4. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Westh RN, Menelaus MB. A simple calculation for the timing of epiphysial arrest: a further report. J Bone Joint Surg Br 1981; 63: 117-19. www.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Goel A, Loudon J, Nazare A, et al. Joint moments in minor limb length discrepancy: a pilot study. Am J Orthop (Belle Mead NJ) 1997; 26(12): 852-6. www.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Stanitski DF. Limb-length inequality: assessment and treatment options. J Am Acad Orthop Surg 1999; 7(3): 143-53. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autoren

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Orthopädie und Unfallchirurgie, Münster
  • Carl Johan Tiderius, docent och överläkare, Barnortopediska enheten, Ortopediska kliniken, Skånes universitetssjukhus
  • Arild Aamodt, överläkare/professor, Ortopedisk avdeling, Lovisenberg Sykehus, Oslo
  • Ingard Løge, spesialist allmennmedisin, universitetslektor, institutt for sammfunsmedisinske fag, NTNU, redaktør NEL

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