N. ulnaris, Läsion

Zusammenfassung

  • Definition:Schädigung durch Kompression oder Verletzung des Nervus ulnaris.
  • Häufigkeit:Läsionen des N. ulnaris sind, insbesondere durch seinen oberflächlichen Verlauf, häufig.
  • Symptome:Klinisch zeigen sich Sensibilitätsstörungen der ulnaren Hand sowie motorische Ausfälle bis hin zur Krallenhand.
  • Untersuchung:Als klinische Befunde können Paresen und eine Atrophie der durch den N. ulnaris innervierten kleinen Handmuskeln sowie ein positives Froment-Zeichen vorliegen.
  • Diagnostik:Zur erweiterten Diagnostik gehören elektrophysiologische Untersuchungen, wie eine Neurografie oder eine Elektromyografie.
  • Therapie:Die Therapie erfolgt primär konservativ. Bei Therapieversagen operative Dekompression möglich.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Läsion, z. B. durch Kompression oder Verletzung, des Nervus ulnaris
  • Verletzungen (Kompressionen) des Nervs sind in seinem gesamten Verlauf möglich, am häufigsten treten sie jedoch am Ellenbogen (Kubitaltunnelsyndrom) und am zweithäufigsten im Bereich des Handgelenks (Guyon-Logen-Syndrom) auf.
    • Der früher häufig benutzte Begriff des Sulcus-ulnaris-Syndroms ist anatomisch inkorrekt, da er nur unzureichend den Ort der Schädigung beschreibt.1
  • Der Nerv ist für die motorische Innervation der Muskeln im Unterarm und der Hand sowie für die sensible Innervation des ulnaren Teils der Hand verantwortlich.

Häufigkeit

  • Die Ulnarisneuropathie ist nach dem Karpaltunnelsyndrom das zweithäufigste Nervenkompressionssyndrom.2

Anatomische Grundlagen

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.3-4
  • Der N. ulnaris hat seinen Ursprung in den Rückenmarkssegmenten C8–Th1 und entspringt dem Fasciculus medialis des Plexus brachialis.
  • Bis zum Ellenbogen gibt er keinen Nervenast ab und verläuft dort am Epicondylus medialis sehr oberflächlich durch den Kubitaltunnel.
    • Der Kubitaltunnel gliedert sich dabei in 3 Teile:1
      1. Retrokondylärer Sulcus, der bereits zum Teil von der humeroulnaren Arkade überdeckt ist.
      2. Humero-ulnare Arkade (Synonyma: Osborne-Band, Lig. arcuatum oder Lig. epitrochleoanconaeum), die in die Faszie des M. flexor carpi ulnaris zwischen dessen Köpfen übergeht und auch Kubitaltunnel-Retinakulum genannt wird.
      3. tiefe Flexorenfaszie bzw. Flexor-Pronator-Aponeurose.
  • Am Handgelenk Aufspaltung in oberflächlichen und tiefen Ast
  • Der tiefe Ast zieht gemeinsam mit der A. ulnaris durch einen fibroossären Kanal, die Guyon-Loge.
    • begrenzende Strukturen der Guyon-Loge
      • palmar: Ligamentum carpi palmare, M. palmaris brevis
      • dorsal: Retinaculum flexorum, Ligamentum pisohamatum
      • radial: Hamulus ossis hamati
      • ulnar: Os pisiforme
  • Innervationsgebiet des N. ulnaris
    • Nervenäste mit Abgang am Unterarm nach dem Sulcus ulnaris
      • Rr. musculares (motorisch)
        • M. flexor carpi ulnaris (Volar- und Ulnarflexion im Handgelenk)
        • M. flexor digitorum profundus (Flexion der Finger IV und V)
      • R. dorsalis (sensibel)
        • dorsale und palmare Handfläche (ulnar)
        • dorsale Teile der Finger IV und V
    • Endäste mit Abgang an der Hand nach der Guyon-Loge
      • R. profundus (motorisch)
        • Mm. lumbricales III und IV
        • Mm. interossei dorsales und palmares (Beugung Fingergrund- und Streckung Fingerendgelenke aller Finger)
        • M. adductor pollicis (Adduktion des Daumens)
        • M. flexor pollicis brevis
        • Muskulatur des Kleinfingerballens (Beugung, Abduktion und Opposition des kl. Fingers)
      • R. superficialis (sensibel)
        • palmare Teile der Finger IV und V

Ätiologie und Pathogenese

  • Läsion im Bereich des Halses, der Axilla und des Oberarms
  • Läsion im Bereich des Kubitaltunnels
    • häufigste Lokalisation einer Läsion des N. ulnaris2
    • primäre Form1
      • keine morphologischen Veränderungen, insbesondere keine knöchernen Veränderungen des Ellenbogengelenks oder Raumforderungen erkennbar
      • Macht etwa 25‒55 % der Fälle aus.
    • sekundäre Form1
      • Nervenläsion durch arthrotische oder posttraumatische Veränderungen des Ellenbogengelenks oder raumfordernde Prozesse
  • Läsion im Bereich der Handwurzel/Guyon-Loge
    • zweithäufigste Lokalisation einer Läsion des N. ulnaris2
    • Ursachen z. B. Ganglion, Trauma, chronischer Druck („Radfahrerlähmung“)

Risikofaktoren für Kubitaltunnelsyndrom

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Männliches Geschlecht 
    • in der Regel größeres Tuberkulum des Processus coronoideus und ein dickeres Fettlager über dem Ellenbogen
  • Repetitive Belastung
  • Übergewicht

ICPC-2

  • N94 Periphere Neuritis/Neuropathie

ICD-10

  • G56.2 Läsion des N. ulnaris
  • S44.0 Verletzung des N. ulnaris in Höhe des Oberarmes
  • S54.0 Verletzung des N. ulnaris in Höhe des Unterarmes
  • S64.0 Verletzung des N. ulnaris in Höhe des Handgelenkes und der Hand

Diagnostik

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Schmerzen und Sensibilitätsstörungen (Dys- und Parästhesien, Hypästhesie) im ulnaren Teil der Handfläche sowie dem Ringfinger und kleinen Finger
  • Symptombeginn des Kubitaltunnelsyndroms häufig akut („über Nacht")1
  • Bei Flexion im Ellenbogen verstärken sich die Beschwerden oft.
  • Motorische Ausfälle machen sich in einer abgeschwächten Fingerspreizung und Fingerbeugung der ulnaren Finger bemerkbar.
    • Patient*innen klagen über Ungeschicklichkeit der Hand, z. B. beim Schreiben oder Umdrehen eines Schlüssels.1

Klinische Untersuchung

  • Inspektion
    • Krallenstellung der Finger 4 und 51
      • Überstreckung der Fingergrundgelenke bei gleichzeitiger Beugung in den Mittel- und Endgelenken der Finger
      • verursacht durch Ausfall der Mm. lumbricales und interossei
    • Asymmetrie der Handmuskulatur (Atrophie Mm. interossei und M. adductor pollicis bei chronischer Läsion)
    • Deformierung oder Fehlstellung des Ellbogengelenks als Hinweis für sekundäres Kubitaltunnelsyndrom
  • Palpation der Ulnarisrinne bei gestrecktem und gebeugtem Unterarm1
    • Erfassung einer (Sub-)Luxation des N. ulnaris und/oder einer Dislokation des medialen Trizepskopfs bei Unterarmbeugung sowie anatomischer Besonderheiten im Verlauf des Sulcus, wobei auch auf eine umschriebene Verdickung des N. ulnaris (Pseudoneurombildung) und eine abnorme Druckempfindlichkeit zu achten ist.
    • Seitenvergleich oft hilfreich
    • Druckdolenz des medialen Epikondylus als Ausdruck einer Epikondylitis
  • Prüfung der Beweglichkeit des Ellenbogengelenks dient zum Nachweis einer Arthrose.1
  • Neurologische Ausfälle
    • sensible Defizite
      • palmar: Hypothenar, Kleinfinger und der ulnarseitige Ringfinger
      • dorsal: ulnarseitiger Handrücken, Klein-, Ring- und der ulnarseitige Mittelfinger
    • motorische Defizite
      • Parese der Fingerbeuger im Endglied der Finger 4 und 5
  • Klinische Zeichen
    • Hoffmann-Tinel-Zeichen
      • Perkussion des N. ulnaris im Sulcus ulnaris
      • positiv: Provokation von einschießenden Schmerzen bzw. Parästhesien
    • Froment-Zeichen
      • Einklemmen eines Blattes Papier zwischen Daumen und Zeigefinger
      • Positiv: Kompensatorische Flexion des Daumenendgliedes, weil der M. adductor pollicis durch die Ulnarisläsion ausfällt.
      • Flexion des Endglieds durch den vom N. medianus innervierten M. flexor pollicis longus möglich
    • Jeanne-Zeichen
      • Hyperextension des Daumens im Grundgelenk
      • verursacht durch Ausfall vom M. flexor pollicis brevis

Diagnostik bei Spezialist*innen

Leitlinie: Diagnostik und Therapie des Kubitaltunnelsyndroms1

  • Für die Elektrodiagnostik des N. ulnaris ist die Untersuchung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit mit Oberflächenelektroden erforderlich.
  • Eine elektromyographische Untersuchung kann bei nicht eindeutigen klinischen und neurographischen Befunden hilfreich sein.
  • Zum Nachweis knöcherner Veränderungen kann eine Röntgenuntersuchung des Ellenbogengelenks in zwei Ebenen einschließlich Tangentialaufnahmen des Sulcus sinnvoll sein.
  • Mit hoch auflösender Sonographie (13 Megahertz-Sonde) können u. a. Größen- und Lageveränderungen des N. ulnaris am Ellenbogen sowie Ganglien dargestellt werden.
  • Die MRT kann zuverlässig Ursachen eines sekundären Kubitaltunnelsyndroms (posttraumatische und durch Ganglien, aberrierende Muskeln oder sonstige Raumforderungen bedingte Veränderungen) nachweisen.
  • Eine CT-Untersuchung ist nur in Einzelfällen (z. B. bei stärkeren knöchernen Veränderungen) indiziert.

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Paresen oder Sensibilitätsstörungen sollte eine Überweisung zur Neurologie erfolgen.

Therapie

Allgemeines zur Therapie

  • Konservative Therapie
    • Therapie der 1. Wahl
    • Schonung des Nervs4-5
      • Druckeinwirkung vermeiden.
      • Ellenbogen nicht lange beugen.
      • Polsterung in der Nacht

Leitlinie: Diagnostik und Therapie des Kubitaltunnelsyndroms1

  • Bei intermittierender Hypästhesie und/oder Reizsymptomatik mit Parästhesien und Schmerzen, die in den letzten 14 Tagen aufgetreten sind, ist eine abwartende Haltung mit Verlaufsbeobachtung bis zu 3 Monaten akzeptabel.
  • Voraussetzung ist, dass sich die Patient*innen unter fortlaufender neurologischer und elektrophysiologischer Kontrolle befinden.
  • Vermeiden einer repetitiven exogenen Druck- und Zugeinwirkung bzw. von Schmerz und Parästhesien provozierende Aktivitäten durch Verhaltensänderung ohne sonstige Behandlungsmaßnahmen, z. B. Vermeiden des Aufstützens des Ellenbogens beim Telefonieren
  • Bei intermittierender Hypästhesie und/oder Reizsymptomatik mit Parästhesien und Schmerzen, die länger als 2 Wochen besteht, können neben der oben erwähnten Anleitung zur Vermeidung exogener Noxen konservative Maßnahmen eingesetzt werden:
    • Auch hier ist Voraussetzung, dass sich die Patient*innen unter fortlaufender neurologischer und elektrophysiologischer Kontrolle befinden.
    • nächtliche Ruhigstellung mit einer Ellenbogengelenksschiene aus plastischem Material (Polyform) mit guter Polsterung von der Mitte des Oberarmes bis zur Hand
      • 30-Grad- bis 35-Grad-Flexion am Ellenbogen, Unterarm in 10-Grad- bis 20-Grad-Pronationsstellung und Handgelenk in Neutralstellung für die Dauer von 6 Monaten
  • Operative Therapie
    • Bei progredienten Beschwerden und bei Vorliegen sensomotorischer Ausfallserscheinungen und Muskelatrophien oder einer ausbleibenden Besserung des klinischen und elektrophysiologischen Befundes während einer mehrwöchigen Verlaufskontrolle ist eine operative Indikation gegeben.1
    • operative Freilegung und Dekompression des Nervens4,6

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Irreversible Schädigung des Nervs
  • Anhaltende Paresen oder Sensibilitäts- und Funktionsstörungen

Prognose

  • Das Ausmaß der Nervenschädigung ist ein wichtiger prognostischer Faktor.1
  • Überwiegend gute Prognose mit Rekonstitution der Nervenfunktion

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Innervation hand .jpg
Sensible Innervation der rechten Hand (Quelle: Wikimedia Commons)
Plexus brachialis
Plexus brachialis

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie e.V. (DGH). Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e. V. (DGNC). Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN). Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie e. V. (DGOOC). Diagnostik und Therapie des Kubitaltunnelsyndroms. AWMF-Leitlinie Nr. 005-009. S3, Stand 2017. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie e.V. (DGH). Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e.V. (DGNC). Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN). Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie e.V. (DGOOC). Diagnostik und Therapie des Kubitaltunnelsyndroms. S3. AWMF-Leitlinie 005-009. Stand 2017. www.awmf.org
  2. Latinovic R, Gulliford MC, Hughes RAC. Incidence of common compressive neuropathies in primary care. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2006; 77: 263-5. PubMed
  3. Martin Trepel. Neuroanatomie - Struktur und Funktion, 5. Auflage. München: Elsevier, 2012. shop.elsevier.de
  4. Glocker F, Kottlors M. N. ulnaris (C8–Th1). In: Hufschmidt A, Lücking C, Rauer S et al., ed. Neurologie compact. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme 2017.
  5. Svernlov B, Larsson M, Rehn K, Adolfsson L. Conservative treatment of the cubital tunnel syndrome. J Hand Surg Eur Vol. 2009 Apr. 34(2):201-7. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Bacle G, Marteau E, Freslon M, et al. Cubital tunnel syndrome: comparative results of a multicenter study of 4 surgical techniques with a mean follow-up of 92 months. Orthop Traumatol Surg Res 2014; 100 (4Suppl): S205-8. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung, Neurologie, Freiburg im Breisgau
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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