Definition:Kompression eines peripheren Nervs an einer oberen oder unteren Extremität.
Häufigkeit:Nervenkompressionssyndrome sind relativ weit verbreitet.
Symptome:Je nach Art der betroffenen Nervenfaser sind evtl. Ausfälle motorischer oder sensorischer Natur.
Klinik:Je nach Art und Lage des betroffenen Nervs ergibt die klinische Untersuchung unterschiedliche Befunde.
Diagnostik:Neben der klinischen Untersuchung kommen Neurografie, Elektromyografie und ggf. bilddiagnostische Verfahren infrage.
Therapie:Besteht in der Regel in relativer Ruhestellung und Schonung der betroffenen Region.
Allgemeine Informationen
Definition
Nervenkompressionssyndrome sind chronische Irritationen und Druckläsionen innerhalb anatomischer Engpässe bzw. fibroossärer Kanäle.1
Von den typischen Engpass-Syndromen sind akute Druckschäden der Nerven durch äußere Druck- oder Gewalteinwirkung, bei oberflächlichem Nervenverlauf in der Nähe von knöchernen Vorsprüngen oder Dehnungsschäden in der Nähe von Gelenken abzugrenzen.
Bestimmte Nerven sind aufgrund ihrer anatomischen Lage besonders anfällig für eine Druckschädigung.
Je nach Art der betroffenen Nervenfaser sind evtl. Ausfälle motorischer oder sensorischer Natur: Parästhesien, Sensibilitätsstörungen und/oder Paresen.1
Aufgrund des Risikos langanhaltender bzw. bleibender Symptome ist eine frühzeitige Erkennung und Intervention wichtig.
Klassische Kompressionssyndrome
Diese Referenz bezieht sich auf den gesamten Abschnitt.1
Die genaue Ursache ist meist unbekannt, möglicherweise durch Arbeiten in der Hocke.
Häufigkeit
Nervenkompressionssyndrome sind relativ weit verbreitet.
So betrifft z. B. die häufigste Form der Nervenkompression, das Karpaltunnelsyndrom, Schätzungen zufolge 3 % der Gesamtbevölkerung und 5–15 % der Angehörigen bestimmter Berufsgruppen.2
Die zweithäufigste Form der Nervenkompression ist das Kubitaltunnelsyndrom, bei dem der Nervus ulnaris im Bereich des Ellbogens betroffen ist.3
Ätiologie und Pathogenese
Man unterscheidet 3 Arten von Nervenschäden: Neurapraxie, Axonotmesis und Neurotmesis (s. u.).
Die meisten Nervenkompressionssyndrome führen zu einer Neurapraxie oder Axonotmesis.
Der Grad der Schädigung hängt von Stärke und Dauer der Druckeinwirkung ab.4
Neurapraxie
Mildeste Form der Nervenschädigung
Nerv in Kontinuität erhalten ohne strukturelle Schäden
Überdehnung oder lokale Kompression des Nervs, z. B. durch Ödem
In der Regel auf eine Dauer von einigen Tagen bis Wochen begrenzt.
Axonotmesis
Axon durchtrennt, aber Hüllstrukturen des Nervs erhalten
Beispielsweise bei Luxation oder starker Kompression
Die Regeneration des Nervs ist möglich, dauert aber häufig mehrere Monate; bei vielen Patient*innen bleibt eine dauerhafte Schädigung zurück.
Neurotmesis
Vollständige Durchtrennung des Nervs
Beispielsweise bei offener Fraktur und schweren Traumata
Hierbei ist es sehr unwahrscheinlich, dass es zu einer Spontanheilung kommt oder eine konservative Therapie zum Erfolg führt.5
Prädisponierende Faktoren
Die Kompression tritt häufig an bestimmten Prädilektionsstellen auf, an denen Nerven durch besonders enge Räume verlaufen oder besonders exponiert liegen.
Ausgelöst wird das Syndrom durch Kompression oder Schädigung des Nervs, z. B. infolge einer ungünstigen Liegeposition, Fraktur, Ödem oder Gips.
ICD-10
G56.- Mononeuropathien der oberen Extremität
G56.0 Karpaltunnel-Syndrom
G56.2 Läsionen des N. ulnaris (Kubitaltunnelsyndrom)
G56.8 Sonstige Mononeuropathien der oberen Extremität
G57.- Mononeuropathien der unteren Extremität
G57.5 Tarsaltunnel-Syndrom
G57.8 Sonstige Mononeuropathien der unteren Extremität
ICPC-2
N81 Verletzung Nervensystem, andere
N94 Periphere Neuritis / Neuropathie
N93 Karpaltunnelsyndrom
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
Diagnostisch zielführend sind neben Anamnese und klinischem Befund elektrophysiologische Untersuchungen und Bildgebung.1
zur Darstellung ossärer Ursachen für die Kompression, z. B. Osteophyten
MRT
Die MRT kann eine evtl. Denervierung des Muskels sichtbar machen.6
Zudem sind Veränderungen in den Weichteilen, wie z. B. Ödeme, als mögliche Ursache für eine Kompression darstellbar.
Eine unauffällige MRT bedeutet jedoch nicht zwingend, dass keine Nervenschädigung vorliegt.
Ultraschall
Ist im Vergleich zur MRT kostengünstiger, aber auch von etwas geringerem diagnostischem Wert und sehr stark von der Kompetenz der untersuchenden Person abhängig.7
Neurografie
Dient der Diagnosesicherung und der Verlaufskontrolle während der Therapie.8
Bei einer Schädigung oder Demyelinisierung des Nervs sinkt die Nervenleitgeschwindigkeit.
Elektromyografie (EMG)
Dient der Differenzialdiagnostik und der Verlaufskontrolle.9
Durch Messung der Nervenleitgeschwindigkeit in Verbindung mit einer EMG lassen sich periphere von zentralen Nervenschäden abgrenzen.
Indikationen zur Überweisung
Patient*innen mit Zeichen einer peripheren Nervenschädigung sollten an eine neurologische Praxis überwiesen werden.
Therapie
Therapieziele
Dauerhafte Nervenläsionen verhindern.
Nervenfunktionen wiederherstellen.
Allgemeines zur Therapie
Je nachdem, welcher Nerv geschädigt ist, können unterschiedliche Therapiemaßnahmen indiziert sein.
Häufig besteht die Therapie in Ruhigstellung und Schonung des betroffenen Bereichs.
In manchen Fällen ist eine Operation indiziert.
Weitere Therapien
Physiotherapie kann den Heilungsprozess positiv beeinflussen.
Physiotherapeut*innen können Patient*innen dabei unterstützen, funktionierende Muskelfasern zu nutzen und dadurch die Funktion zu verbessern.
Eine Kräftigung der Muskulatur in der Heilungsphase kann dazu beitragen, dass die Muskelkraft vollständig wiederhergestellt werden kann.
Bei stark ausgeprägten Lähmungen (z. B. Fallhand oder -fuß) kann eine Schiene hilfreich sein.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Bei einer Neurapraxie stellt sich die Funktionalität meist nach einigen Tagen (bei Wiederherstellung der intraneuralen Zirkulation) oder innerhalb von etwa 8 Wochen (Remyelinisierung) wieder ein.
Bei einer Axonotmesis kann der Nerv häufig langsam wieder zusammenwachsen, jedoch dauert dies mehrere Wochen bis Monate.
Bei einer Neurotmesis kann der Nerv dagegen nicht zusammenwachsen, weil die Myelinscheide nicht mehr intakt ist.
Die Wiederherstellung vollständig durchtrennter Nerven ist nur durch eine chirurgische Rekonstruktion möglich.
Anerkennung als Berufskrankheit
Treten Nervenkompressionssyndrome im Zusammenhang mit beruflichen Belastungen auf, können diese als Berufskrankheit anerkannt werden.10
Zuständig hierfür sind die gesetzlichen Unfallversicherungsträger.
Der Verdacht auf eine Berufskrankheit muss dort gemeldet werden (Meldebogen11).
Es wird eine ausführliche Arbeits- und Gefährdungsanamnese erhoben, und ein Gutachten entscheidet über die Anerkennung als Berufskrankheit.
Dann können bestimmte Maßnahmen auf Kosten der GUV durchgeführt werden:
geeignete Schutzvorrichtungen
spezielle therapeutische Maßnahmen
Einstellung der gefährdenden Tätigkeit
Minderung der Erwerbsfähigkeit bis zur Zahlung einer Rente.12
Manchmal muss die Tätigkeit erst vollständig aufgegeben werden, damit die Anerkennung als Berufskrankheit erfolgen kann.
Prognose
Hängt vom Grad der Nervenschädigung ab.
Welche funktionellen Beeinträchtigungen eine Nervenschädigung nach sich zieht, hängt davon ab, welcher Nerv betroffen ist.
Sensible Innervation der rechten Hand (Quelle: Wikimedia Commons)
Karpaltunnelsyndrom, Anatomie und Symptome
Karpaltunnelsyndrom, Tinel-Zeichen
Quellen
Literatur
Assmus H, Antoniadis G, Bischoff C. Karpaltunnel-, Kubitaltunnel- und seltene Nervenkompressionssyndrome. Dtsch Arztebl Int 2015; 112(1-2): 14-26; DOI: 10.3238/arztebl.2015.0014. www.aerzteblatt.de
Atroshi I, Gummesson C, Johnsson R, Ornstein E, Ranstam J, Rosén I. Prevalence of carpal tunnel syndrome in a general population. JAMA 1999; 282: 153-8. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Santosa KB, Chung KC, Waljee JF. . Complications of compressive neuropathy: prevention and management strategies.. Hand Clin 2015; May;31(2): 139-49. pmid:24322638 PubMed
Gupta R, Rummler L, Steward O. Understanding the biology of compressive neuropathies. Clin Orthop Relat Res 2005; (436): 251-60. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
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Bendszus M, Wessig C, Schötz A, et al. Assessment of nerve degeneration by gadofluorine Menhanced magnetic resonance imaging. Ann Neurol 2005; 57: 388-95. PubMed
Martinoli C, Tagliafico A, Bianchi S, et al. Peripheral nerve abnormalities, ultrasound clinics. Musculoskeletal Ultrasound 2007; 2: 655-67. www.ncbi.nlm.nih.gov
Longstaff L, Milner RH, O'Sullivan S, Fawcett P. Carpal tunnel syndrome: the correlation between outcome, symptoms and nerve conduction study findings. J Hand Surg Br 2001; 26: 475-80. PubMed
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Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Dortmund. Merkblätter und wissenschaftliche Begründungen zu den Berufskrankheiten der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), zuletzt aktualisiert durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung vom 22. Dezember 2014. Zugriff 24.1.2017. www.baua.de
DGVU Formtexte für Ärzte: Ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Berufskrankheit. www.dguv.de
Mehrtens, G. Valentin, H. Schönberger, A. Arbeitsunfall und Berufskrankheit : rechtliche und medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung S.878ff. Berlin: Erich Schmidt Verlag 9: Auflage, 2017.
Autor*innen
Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).