Nervenkompressionssyndrome

Zusammenfassung

  • Definition:Kompression eines peripheren Nervs an einer oberen oder unteren Extremität.
  • Häufigkeit:Nervenkompressionssyndrome sind relativ weit verbreitet.
  • Symptome:Je nach Art der betroffenen Nervenfaser sind evtl. Ausfälle motorischer oder sensorischer Natur.
  • Klinik:Je nach Art und Lage des betroffenen Nervs ergibt die klinische Untersuchung unterschiedliche Befunde.
  • Diagnostik:Neben der klinischen Untersuchung kommen Neurografie, Elektromyografie und ggf. bilddiagnostische Verfahren infrage.
  • Therapie:Besteht in der Regel in relativer Ruhestellung und Schonung der betroffenen Region.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Nervenkompressionssyndrome sind chronische Irritationen und Druckläsionen innerhalb anatomischer Engpässe bzw. fibroossärer Kanäle.1
    • Von den typischen Engpass-Syndromen sind akute Druckschäden der Nerven durch äußere Druck- oder Gewalteinwirkung, bei oberflächlichem Nervenverlauf in der Nähe von knöchernen Vorsprüngen oder Dehnungsschäden in der Nähe von Gelenken abzugrenzen.
  • Bestimmte Nerven sind aufgrund ihrer anatomischen Lage besonders anfällig für eine Druckschädigung.
  • Je nach Art der betroffenen Nervenfaser sind evtl. Ausfälle motorischer oder sensorischer Natur: Parästhesien, Sensibilitätsstörungen und/oder Paresen.1
  • Aufgrund des Risikos langanhaltender bzw. bleibender Symptome ist eine frühzeitige Erkennung und Intervention wichtig.

Klassische Kompressionssyndrome

  • Diese Referenz bezieht sich auf den gesamten Abschnitt.1
  • Karpaltunnelsyndrom
    • Kompression des N. medianus im palmaren Handgelenkbereich
  • Supinatortunnelsyndrom
    • Kompression des des rein motorischen Nervus interosseus posterior des Nervus radialis
  • Morton-Metatarsalgie
    • Kompression der Zehennerven zwischen den Metatarsalköpfchen
  • Meralgia paraesthetica (Bernhardt-Roth-Syndrom)
    • Kompression des sensiblen Nervus cutaneus femoris lateralis im Bereich des Leistenbands
  • Cheiralgia paraesthetica (Wartenberg-Syndrom)
    • Kompression des N. radialis im 1. Intermetacarpalraum
  • Tarsaltunnelsyndrom
    • Kompression des N. tibialis im Bereich des Malleolus medialis

Kombinationsformen (mit Druck-/Zerrungsläsionen)

  • Kubitaltunnelsyndrom (frühere, obsolete Bezeichnung: Sulcus-ulnaris-Syndrom)
    • Kompression des N. ulnaris im Ellbogenbereich
  • Loge-de-Guyon-Syndrom
    • Kompression des N. ulnaris im Handwurzelbereich
  • N.-peronaeus-Kompressionssyndrom
    • Die genaue Ursache ist meist unbekannt, möglicherweise durch Arbeiten in der Hocke.

Häufigkeit

  • Nervenkompressionssyndrome sind relativ weit verbreitet.
  • So betrifft z. B. die häufigste Form der Nervenkompression, das Karpaltunnelsyndrom, Schätzungen zufolge 3 % der Gesamtbevölkerung und 5–15 % der Angehörigen bestimmter Berufsgruppen.2
  • Die zweithäufigste Form der Nervenkompression ist das Kubitaltunnelsyndrom, bei dem der Nervus ulnaris im Bereich des Ellbogens betroffen ist.3

Ätiologie und Pathogenese

  • Man unterscheidet 3 Arten von Nervenschäden: Neurapraxie, Axonotmesis und Neurotmesis (s. u.).
  • Die meisten Nervenkompressionssyndrome führen zu einer Neurapraxie oder Axonotmesis.
  • Der Grad der Schädigung hängt von Stärke und Dauer der Druckeinwirkung ab.4

Neurapraxie

  • Mildeste Form der Nervenschädigung
  • Nerv in Kontinuität erhalten ohne strukturelle Schäden
  • Überdehnung oder lokale Kompression des Nervs, z. B. durch Ödem
  • In der Regel auf eine Dauer von einigen Tagen bis Wochen begrenzt.

Axonotmesis

  • Axon durchtrennt, aber Hüllstrukturen des Nervs erhalten
  • Beispielsweise bei Luxation oder starker Kompression
  • Die Regeneration des Nervs ist möglich, dauert aber häufig mehrere Monate; bei vielen Patient*innen bleibt eine dauerhafte Schädigung zurück.

Neurotmesis

  • Vollständige Durchtrennung des Nervs
  • Beispielsweise bei offener Fraktur und schweren Traumata
  • Hierbei ist es sehr unwahrscheinlich, dass es zu einer Spontanheilung kommt oder eine konservative Therapie zum Erfolg führt.5

Prädisponierende Faktoren

  • Die Kompression tritt häufig an bestimmten Prädilektionsstellen auf, an denen Nerven durch besonders enge Räume verlaufen oder besonders exponiert liegen.
  • Ausgelöst wird das Syndrom durch Kompression oder Schädigung des Nervs, z. B. infolge einer ungünstigen Liegeposition, Fraktur, Ödem oder Gips.

ICD-10

  • G56.- Mononeuropathien der oberen Extremität
    • G56.0 Karpaltunnel-Syndrom
    • G56.2 Läsionen des N. ulnaris (Kubitaltunnelsyndrom)
    • G56.8 Sonstige Mononeuropathien der oberen Extremität
  • G57.- Mononeuropathien der unteren Extremität
    • G57.5 Tarsaltunnel-Syndrom
    • G57.8 Sonstige Mononeuropathien der unteren Extremität

ICPC-2

  • N81 Verletzung Nervensystem, andere
  • N94 Periphere Neuritis / Neuropathie
  • N93 Karpaltunnelsyndrom

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Diagnostisch zielführend sind neben Anamnese und klinischem Befund elektrophysiologische Untersuchungen und Bildgebung.1
  • Für die klassischen Nervenkompressionssyndrome siehe die einzelnen Artikel im Abschnitt Klassische Kompressionssyndrome.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Als Symptome treten Schmerzen und Parästhesien sowie ggf. Sensibilitätsverluste und Lähmungserscheinungen im Versorgungsbereich des Nervs auf.
  • Bei Nerven mit vorrangig motorischer Funktion treten Lähmungserscheinungen auf, ohne dass zuvor Schmerzen oder Missempfindungen vorlagen.
  • Die Symptome können plötzlich oder schleichend auftreten.

Klinische Untersuchung

  • Gestörte motorische und/oder sensorische Funktionen im Versorgungsbereich des betroffenen Nervs.
  • Schlaffe Lähmungen, ggf. verminderte Reflexe
  • Im Verlauf Entwicklung einer Atrophie

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Ggf. Blutuntersuchungen auf prädisponierende Faktoren für Neuropathien:

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Röntgen
    • zur Darstellung ossärer Ursachen für die Kompression, z. B. Osteophyten
  • MRT
    • Die MRT kann eine evtl. Denervierung des Muskels sichtbar machen.6
      • Zudem sind Veränderungen in den Weichteilen, wie z. B. Ödeme, als mögliche Ursache für eine Kompression darstellbar.
    • Eine unauffällige MRT bedeutet jedoch nicht zwingend, dass keine Nervenschädigung vorliegt.
  • Ultraschall
    • Ist im Vergleich zur MRT kostengünstiger, aber auch von etwas geringerem diagnostischem Wert und sehr stark von der Kompetenz der untersuchenden Person abhängig.7
  • Neurografie
    • Dient der Diagnosesicherung und der Verlaufskontrolle während der Therapie.8
    • Bei einer Schädigung oder Demyelinisierung des Nervs sinkt die Nervenleitgeschwindigkeit.
  • Elektromyografie (EMG)
    • Dient der Differenzialdiagnostik und der Verlaufskontrolle.9
    • Durch Messung der Nervenleitgeschwindigkeit in Verbindung mit einer EMG lassen sich periphere von zentralen Nervenschäden abgrenzen.

Indikationen zur Überweisung

  • Patient*innen mit Zeichen einer peripheren Nervenschädigung sollten an eine neurologische Praxis überwiesen werden.

Therapie

Therapieziele

  • Dauerhafte Nervenläsionen verhindern.
  • Nervenfunktionen wiederherstellen.

Allgemeines zur Therapie

  • Je nachdem, welcher Nerv geschädigt ist, können unterschiedliche Therapiemaßnahmen indiziert sein.
  • Häufig besteht die Therapie in Ruhigstellung und Schonung des betroffenen Bereichs.
  • In manchen Fällen ist eine Operation indiziert.

Weitere Therapien

  • Physiotherapie kann den Heilungsprozess positiv beeinflussen.
  • Physiotherapeut*innen können Patient*innen dabei unterstützen, funktionierende Muskelfasern zu nutzen und dadurch die Funktion zu verbessern.
  • Eine Kräftigung der Muskulatur in der Heilungsphase kann dazu beitragen, dass die Muskelkraft vollständig wiederhergestellt werden kann.
  • Bei stark ausgeprägten Lähmungen (z. B. Fallhand oder -fuß) kann eine Schiene hilfreich sein.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Bei einer Neurapraxie stellt sich die Funktionalität meist nach einigen Tagen (bei Wiederherstellung der intraneuralen Zirkulation) oder innerhalb von etwa 8 Wochen (Remyelinisierung) wieder ein.
  • Bei einer Axonotmesis kann der Nerv häufig langsam wieder zusammenwachsen, jedoch dauert dies mehrere Wochen bis Monate.
  • Bei einer Neurotmesis kann der Nerv dagegen nicht zusammenwachsen, weil die Myelinscheide nicht mehr intakt ist.
    • Die Wiederherstellung vollständig durchtrennter Nerven ist nur durch eine chirurgische Rekonstruktion möglich.

Anerkennung als Berufskrankheit

  • Treten Nervenkompressionssyndrome im Zusammenhang mit beruflichen Belastungen auf, können diese als Berufskrankheit anerkannt werden.10
  • Zuständig hierfür sind die gesetzlichen Unfallversicherungsträger.
  • Der Verdacht auf eine Berufskrankheit muss dort gemeldet werden (Meldebogen11).
  • Es wird eine ausführliche Arbeits- und Gefährdungsanamnese erhoben, und ein Gutachten entscheidet über die Anerkennung als Berufskrankheit.
  • Dann können bestimmte Maßnahmen auf Kosten der GUV durchgeführt werden:
    • geeignete Schutzvorrichtungen
    • spezielle therapeutische Maßnahmen
    • Einstellung der gefährdenden Tätigkeit
    • Minderung der Erwerbsfähigkeit bis zur Zahlung einer Rente.12
  • Manchmal muss die Tätigkeit erst vollständig aufgegeben werden, damit die Anerkennung als Berufskrankheit erfolgen kann.

Prognose

  • Hängt vom Grad der Nervenschädigung ab.
  • Welche funktionellen Beeinträchtigungen eine Nervenschädigung nach sich zieht, hängt davon ab, welcher Nerv betroffen ist.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Innervation hand .jpg
Sensible Innervation der rechten Hand (Quelle: Wikimedia Commons)
Karpaltunnelsyndrom, Anatomie und Symptome
Karpaltunnelsyndrom, Anatomie und Symptome
Karpaltunnelsyndrom, Tinel-Zeichen
Karpaltunnelsyndrom, Tinel-Zeichen

Quellen

Literatur

  1. Assmus H, Antoniadis G, Bischoff C. Karpaltunnel-, Kubitaltunnel- und seltene Nerven­kompressions­syndrome. Dtsch Arztebl Int 2015; 112(1-2): 14-26; DOI: 10.3238/arztebl.2015.0014. www.aerzteblatt.de
  2. Atroshi I, Gummesson C, Johnsson R, Ornstein E, Ranstam J, Rosén I. Prevalence of carpal tunnel syndrome in a general population. JAMA 1999; 282: 153-8. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Santosa KB, Chung KC, Waljee JF. . Complications of compressive neuropathy: prevention and management strategies.. Hand Clin 2015; May;31(2): 139-49. pmid:24322638 PubMed
  4. Gupta R, Rummler L, Steward O. Understanding the biology of compressive neuropathies. Clin Orthop Relat Res 2005; (436): 251-60. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Neal SL, Fields KB. Peripheral nerve entrapment and injury in the upper extremity. Am Fam Physician 2010; 81: 147-55. American Family Physician
  6. Bendszus M, Wessig C, Schötz A, et al. Assessment of nerve degeneration by gadofluorine Menhanced magnetic resonance imaging. Ann Neurol 2005; 57: 388-95. PubMed
  7. Martinoli C, Tagliafico A, Bianchi S, et al. Peripheral nerve abnormalities, ultrasound clinics. Musculoskeletal Ultrasound 2007; 2: 655-67. www.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Longstaff L, Milner RH, O'Sullivan S, Fawcett P. Carpal tunnel syndrome: the correlation between outcome, symptoms and nerve conduction study findings. J Hand Surg Br 2001; 26: 475-80. PubMed
  9. Aminoff MJ. Electrophysiologic testing for the diagnosis of peripheral nerve injuries. Anesthesiology 2004; 100: 1298-1303. PubMed
  10. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Dortmund. Merkblätter und wissenschaftliche Begründungen zu den Berufskrankheiten der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), zuletzt aktualisiert durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung vom 22. Dezember 2014. Zugriff 24.1.2017. www.baua.de
  11. DGVU Formtexte für Ärzte: Ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Berufskrankheit. www.dguv.de
  12. Mehrtens, G. Valentin, H. Schönberger, A. Arbeitsunfall und Berufskrankheit : rechtliche und medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung S.878ff. Berlin: Erich Schmidt Verlag 9: Auflage, 2017.

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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