Zervikogener Kopfschmerz

Zusammenfassung

  • Definition:Sekundäres Kopfschmerzsyndrom, das auf einer Störung im Bereich der oberen HWS beruht. Schmerz, der von seinem Ursprung am Hinterkopf durch trigeminozerikale Interaktion nach frontal projiziert wird.
  • Häufigkeit:Prävalenz von geschätzt 0,4–4 % der Allgemeinbevölkerung.
  • Symptome:Einseitiger Kopfschmerz mit Beginn am Hinterkopf und Ausstrahlung von hinten nach vorne, häufig aber nicht zwangsläufig mit Nackenschmerzen. Verstärkung oder Provokation durch Palpation oder Kopfbewegung.
  • Befunde:Schmerzprovokation durch Manöver oder Palpation. Unauffälliger neurologischer Untersuchungsbefund.
  • Diagnostik:Klinischer und evtl. bildgebender Nachweis einer potenziell ursächlichen Störung. Besserung der Schmerzen auf diagnostische (Nerven-)Blockade.
  • Therapie:Therapie der Ursache und Physiotherapie bzw. manuelle Therapie. Kaum spezifische, evidenzbasierte medikamentöse oder interventionelle Therapien verfügbar.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Sekundäre (symptomatische) Kopfschmerzen durch vielseitige Störungen im Bereich der Halswirbelsäule1-2
  • Definition entsprechend der ICHD-3-Klassifikation von Kopfschmerzen
    • in der Vergangenheit z. T. umstrittenes Krankheitsbild2,4-5
    • Die aktuellen ICHD-3-Kriterien sind strenger hinsichtlich Kausalität als in früheren Fassungen.2
  • Abzugrenzen sind Kopfschmerzen im Rahmen eines zervikomyofaszialen Schmerzsyndroms, also Kopfschmerz durch „Nackenverspannungen“.1

Häufigkeit

  • Prävalenz etwa 0,4–4 % der Allgemeinbevölkerung5-6
  • Mittleres Erkrankungsalter 33 Jahre5
  • Frauen sind häufiger betroffen als Männer.5

Ätiologie und Pathogenese

Ursachen im HWS-Bereich

Pathogenese

  • Schmerzentstehung
    • Reizung der sensiblen Nervenwurzel C2 (N. occipitalis major, N. occipitalis minor), seltener C3 (N. occipitalis tertius)1-2,9
    • Hinterkopf und Nacken als sensibles Versorgungsgebiet der sensiblen Anteile der Spinalnerven C2 und C3
      • Der Spinalnerv C1 ist rein motorisch.
  • Schmerzausstrahlung (nach frontal)
    • Interaktion zwischen der oberen zervikalen und der trigeminalen Schmerzwahrnehmung (trigeminozervikaler Komplex)1-2,7,9
    • Die Folge ist eine Projektion des Schmerzes in Versorgungsgebiete des N. trigeminus (V).

Prädisponierende Faktoren

  • Entwicklungsstörungen des kraniovertebralen Überganges
  • Vorangegangene Verletzungen bzw. Traumata10
  • Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule

ICPC-2

  • N01 Kopfschmerz
  • L83 Halswirbelsäulensyndrom

ICD-10

  • G44 Sonstige Kopfschmerzsyndrome
    • G44.3 Chronischer posttraumatischer Kopfschmerz
    • G44.8 Sonstige näher bezeichnete Kopfschmerzsyndrome
  • R51 Kopfschmerz

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

Diagnosekriterien nach ICHD-31

  • A: Kopfschmerz, der das Kriterium C erfüllt.
  • B: Klinischer und/oder bildgebender Nachweis einer Erkrankung oder Läsion innerhalb der HWS oder des Weichteilgewebes im Halsbereich, die als valide
    Ursache von Kopfschmerzen bekannt ist.
  • C: Erfüllung von mindestens zwei der folgenden Kriterien:
    1. Kopfschmerzen in zeitlichem Zusammenhang mit der zervikalen Erkrankung oder der Läsion
    2. Besserung der Kopfschmerzen bei Besserung der zervikalen Erkrankung
    3. eingeschränkte HWS-Beweglichkeit mit Verschlechterung des Kopfschmerzes durch entsprechende kopfschmerzprovozierende Manöver
    4. Beseitigung des Kopfschmerzes nach diagnostischer Blockade einer zervikalen Struktur bzw. des versorgenden Nervs
  • D: Nicht besser durch eine andere ICHD-3-Diagnose erklärt

Differenzialdiagnosen

Anamnese

Kopfschmerzanamnese

  • Schmerzcharakter
    • meist dumpf-ziehender Schmerz2
  • Intensität
    • meist moderate Schmerzen5,7
  • Dauer
    • Dauerschmerz über Stunden bis Tage2
    • oft attackenartige Verstärkung
  • Lokalisation
    • einseitige Kopfschmerzen vom Hinterkopf1,5,7
    • Schmerzausstrahlung von hinten nach vorne
  • Mögliche Auslöser
    • Palpation der Nackenmuskulatur2,7
    • Kopfbewegung (u. a. längeres Beugen oder Strecken des Kopfes)2

Begleitsymptome

Klinische Untersuchung

  • Allgemeine körperliche Untersuchung
    • Augenmerk auf Kopf, Hals, Wirbelsäule und Schulterregion
    • Anzeichen einer möglichen Grunderkrankung (z. B. Tumoren)
  • Unauffällige orientierende neurologische Untersuchung
  • Fakultative klinische Zeichen2
    • Schonhaltung
    • reduzierte HWS-Beweglichkeit
    • Muskelhartspann
    • Druckempfindlichkeit Höhe HWK 2 mit Schmerzprovokation

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Keine erforderlich

Diagnostik bei Spezialist*innen

Bildgebende Diagnostik

  • Bildgebung der oberen HWS und benachbarter Strukturen zum Nachweis möglicher Ursachen
    • z. B. Steilstellung, Knickbildung, Spondylose, kongenitale, posttraumatische, entzündliche oder neoplastische Veränderungen2
    • Modalität abhängig von der Verdachtsdiagnose (Röntgen/CT/MRT)2
  • Ggf. Funktionsaufnahmen zum Nachweis beeinträchtigter Beweglichkeit

Diagnostische Nervenblockade bzw. der Facettengelenke

  • Blockade mittels Injektion von Lokalanästhetika und/oder Kortikosteroiden
  • Zielstrukturen2,9
    • Nervenblockade N. occipitales major und minor (C2 und C3)
    • Facettengelenke C2/C3
  • Diagnostisch wegweisend nach zweimaliger Schmerzreduktion auch in nicht anästhesierten Regionen (unter Placebokontrolle)2,7
  • Ein Sistieren des Kopfschmerzes nach diagnostischer Blockade ist ein Diagnosekriterium der ICHD-3-Klassifikation.1

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf zervikogenen Kopfschmerz abhängig von der vermuteten Ursache Überweisung an Neurolog*innen, Orthopäd*innen oder Schmerzspezialist*innen
  • Bei Verdacht auf andere sekundäre Kopfschmerzen oder eine Radikulopathie der oberen HWS Überweisung an Neurologie bzw. Orthopädie

Therapie

Therapieziele

  • Symptome lindern.
  • Ursache behandeln.

Allgemeines zur Therapie

  • Behandlung der Grunderkrankung anstreben, falls möglich.2
  • Bisher sind keine wirksamen, evidenzbasierten Therapien für zervikogenen Kopfschmerz verfügbar.2,7,9
  • Bei wahrscheinlichem zervikogenem Kopfschmerz bietet sich ein pragmatischer Therapieansatz mit Physiotherapie, ggf. mit manueller Therapie an.7

Medikamentöse Therapie

  • Bisher keine nachgewiesene Wirksamkeit medikamentöser Therapien zur spezifischen Behandlung des zervikogenen Kopfschmerzes2,7
  • Eingesetzte Substanzen (Off-Label-Therapien)2,11
    • Analgetika bzw. NSAR
      • z. B. Ibuprofen 400 mg 3 x/d über einige Tage
    • Muskelrelaxanzien
    • trizyklische Antidepressiva
    • Antikonvulsiva
  • Nachgewiesen unwirksame Substanzen
    • Botulinumtoxin12
    • Opiate5

Weitere Therapien

  • Manuelle Therapien und Physiotherapie
    • bislang uneindeutige Daten zur Wirksamkeit2,7,13
    • in einer Studie Besserung des zervikogenen Kopfschmerzes durch manuelle Therapie und/oder Physiotherapie mit Wirksamkeit über 12 Monate14
  • Entspannungstechniken
    • z. B. progressive Muskelentspannung nach Jacobson2
  • Bewegung und körperliche Aktivität abhängig von der Grunderkrankung/Ursache3

Blockade

  • Blockade von N. occipitalis major oder Facettengelenk mit Lokalanästhetika und/oder Kortikosteroiden
  • Bedeutung in der differenzialdiagnostischen Abgrenzung1
  • Therapeutisch selten anhaltende Wirksamkeit2,7
    • Beschwerdelinderung in 94 % der Fälle, jedoch nur durchschnittlich 23,5 Tage anhaltend

Elektrotherapie

  • TENS (Transkutane elektrische Nervenstimulation), Iontophorese, Magnetfeld3
    • Einsatz nicht empfohlen, keine kontrollierten Studien zur Wirksamkeit3,7

Operative Therapie

  • Operative Eingriffe zur Behandlung der Grunderkrankung, falls indiziert2
  • Operative, neuroablative Verfahren2
    • z. B. „Befreiung“ oder Resektion des N. occipitalis major
      • Konnte in Studien eine vorübergehende Besserung bewirken.7
    • keine kontrollierten Studien zur Wirksamkeit einer Operation

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

Prognose

  • Die Prognose ist abhängig von der Ursache des zervikogenen Kopfschmerzes.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft

Illustrationen

Seitaufnahme der Halswirbelsäule: 1 = Prosessus spinosus axis 2 = Atlas 3 = Schädelbasis 4 = Dens axis 5 = Facettengelenk 6 = Wirbelkörper C6
Seitaufnahme der Halswirbelsäule: 1 = Prosessus spinosus axis 2 = Atlas 3 = Schädelbasis 4 = Dens axis 5 = Facettengelenk 6 = Wirbelkörper C6

Quellen

Leitlinien

  • International Headache Society (IHS). The International Classification of Headache Disorders 3rd edition (ICHD-3). Stand 2018. www.ichd-3.org

Literatur

  1. Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS) The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia. 2018;38(1):1-211. doi:10.1177/0333102417738202 ichd-3.org
  2. Gaul C, Bär M, Kaube H. Zervikogener Kopfschmerz (auf Erkrankungen der Halswirbelsäule zurückzuführender Kopfschmerz). In: Hufschmidt A, Lücking C, Rauer S, Glocker F, ed. Neurologie compact. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017. eref.thieme.de
  3. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Nackenschmerzen. AWMF-Leitlinie Nr. 053-007. S1. Stand 2016. www.awmf.org
  4. Frese A, Evers S. Biological markers of cervicogenic headache. Cephalalgia 2008; 28 (Suppl 1): 21. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Antonaci F, Sjaastad, O. Cervicogenic Headache: A Real Headache. Curr Neurol Neurosci Rep (2011) 11: 149. doi:10.1007/s11910-010-0164-9 link.springer.com
  6. Sjaastad O. Cervicogenic headache: comparison with migraine without aura; Vaga study. Cephalalgia 2008; 28 (Suppl 1): 18. www.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Bogduk N, Govind J. Cervicogenic headache: an assessment of the evidence on clinical diaganosis, invasive tests, and treatment. Lancet Neurol 2009; 8: 959. PubMed
  8. Cooper G, Bailey B, Bogduk N. Cervical zygapophyseal joint pain maps. Pain Med 2007; 8: 344. PubMed
  9. Biondi DM. Cervicogenic headache: a review of diagnostic and treatment strategies. J Am Osteopath Assoc. 2005 Apr;105(4 Suppl 2):16S-22S. www.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Obelieniene D, Bovim G, Schrader H, Surkiene D, Mickeviaiene D, Miseviaiene I et al. Headache after whiplash: a historical cohort study outside the medico-legal context. Cephalalgia 1998; 18: 559 - 64. PubMed
  11. Boudreau GP, Marchand L. Pregabalin for the management of cervicogenic headache: a double blind study. Can J Neurol Sci. 2014; 41: 603-10: pmid: 25373811 PubMed
  12. Linde M, Hagen K, Salvesen Ø, Gravdahl GB, Helde G, Stovner LJ. Onabotulinum toxin A treatment of cervicogenic headache: a randomised, double-blind, placebo-controlled crossover study. Cephalalgia. 2011; 31: 797-807. PMID: 21300635 PubMed
  13. Posadzki P, Ernst E. Spinal manipulations for cervicogenic headaches: a systematic review of randomized clinical trials. Headache 2011; 51(7): 1132-9 PubMed
  14. Jull G, Trott P, Potter H, et al. A randomized controlled trial of exercise and manipulative therapy for cervicogenic headache. Spine 2002; 27: 1835. PubMed

Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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