Zusammenfassung
- Definition:Beidseitiger Halte- und Aktionstremor vorwiegend der Hände/Unterarme, seltener des Kopfes oder anderer Körperregionen.
- Häufigkeit:Prävalenz ca. 1 % über alle Altersgruppen, ca. 5 % bei den über 65-Jährigen.
- Symptome:Am häufigsten Tremor der Hände, situative Verstärkung z. B. durch emotionale Belastung oder Müdigkeit, oft mit sozialer/beruflicher Beeinträchtigung.
- Befunde:Einschätzung des Tremors im Armvorhalteversuch, Frequenz meist 6–8 Hz, Amplitude kann stark variieren. Sonstiger neurologischer Status im Allgemeinen unauffällig.
- Diagnostik:Die Diagnosestellung erfolgt durch Anamnese und klinischen Befund.
- Therapie:Eine Heilung ist nicht möglich. Symptomatische Verbesserung vor allem durch Medikamente (Propanolol und Primidon sind 1. Wahl), bei Therapieversagen evtl. interventionelle oder operative Verfahren.
Allgemeine Informationen
Definition
- Der essenzielle Tremor ist charakterisiert durch:1-2
- Halte- und Aktionstremor
- beidseitig, überwiegend symmetrisch
- vor allem Hände und Unterarme betroffen (seltener Kopf, Stimme, Gesicht, Beine, Rumpf).
Häufigkeit
- Ein essenzieller Tremor ist die häufigste Bewegungsstörung.3
- gefolgt von Restless-Legs-Syndrom und Parkinson-Syndrom
- Prävalenz4
- ca. 1 % über alle Altersgruppen
- ca. 5 % bei den über 65-Jährigen
- Manifestationsalter
- Geschlechtsverteilung
- Frauen zu Männern ca. 1:16
- Vererbung
- bei ca. 60 % der Fälle positive Familienanamnese7
Ätiologie und Pathogenese
- Die Ätiologie ist nicht genau bekannt.
- Es besteht eine erbliche Komponente, mehrere beteiligte Gene konnten identifiziert werden.8
- autosomal-dominanter Erbgang9
- Pathogenetisch besteht vermutlich eine Störung des olivo-zerebellären Systems.9
Prädisponierende Faktoren
ICPC-2
- N08 Abnorme unwillkürliche Bewegungen
ICD-10
- G25 Sonstige extrapyramidale Krankheiten und Bewegungsstörungen
- G25.0 Essenzieller Tremor
Diagnostik
- Ein essenzieller Tremor ist eine klinische Diagnose.11
Diagnostische Kriterien
- Notwendige Kriterien für die Diagnose1
- bilateraler, meist symmetrischer Tremor unter Halte- und Aktionsbedingungen
- übriger neurologischer Befund regelrecht
- zusätzlicher oder isolierter Kopftremor möglich (jedoch ohne Hinweise auf kraniozervikale Dystonie)
- Unterstützende Kriterien für die Diagnose1
- langer Verlauf
- positive Familienanamnese
- Besserung der Tremorstärke nach Alkoholgenuss
Differenzialdiagnosen
- Die wichtigsten Differenzialdiagnosen sind:1,9
- verstärkter physiologischer Tremor
- Parkinson-Syndrom
- dystoner Tremor
- psychogener Tremor
- medikamentös induzierter Tremor
- Hyperthyreose
Anamnese
- Tremor
- Tremorfolgen (Behinderung im Alltag)
- Familienanamnese
- Medikamentenanamnese9
- z. B. Theophyllin, Betamimetika, Thyroxin, Lithium, Kortikosteroide, Valproat, trizyklische Antidepressiva, SSRI
- Mögliche Begleitsymptome
- kognitive Störungen5,7
- psychiatrische Symptome (Angststörung, Depression)7
- Hörminderung5
Klinische Untersuchung
- Tremor
- Einschätzung der Amplitude im Armvorhalteversuch: Variiert zwischen wenigen Millimetern und 10–15 cm.12
- Die Amplitude kann in Abhängigkeit von der emotionalen Belastung stark variieren.6
- Tremorfrequenz meist 6–8 Hz9
- falls Kopf betroffen: „Nein-sage"- oder „Ja-sage"-Tremor9
- Funktionelle Tests, z. B:9
- Spirale malen.
- Schreiben.
- Becher zum Mund führen.
- Evtl. vorlesen lassen (Stimmtremor?).
- Einschätzung der Amplitude im Armvorhalteversuch: Variiert zwischen wenigen Millimetern und 10–15 cm.12
- Sonstiger neurologischer Status
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
Labor
- TSH1
- Ausschluss Hyperthyreose
- Leberwerte, Nierenwerte1
Untersuchungen bei Spezialist*innen
- Im Einzelfall können folgende Untersuchungen ergänzend erforderlich sein:1
Elektrophysiologie
- Quantitative Tremoranalyse
Bildgebung
- CT, MRT zum Ausschluss struktureller Erkrankungen
Genetische Untersuchung
- Ausschluss anderer Erkrankungen
Therapie
Therapieziele
- Den Tremor vermindern.
- Funktionseinschränkungen verbessern.
- Die Lebensqualität verbessern.
Allgemeines zur Therapie
- Eine Heilung ist bislang nicht möglich.
- Therapeutische Optionen sind:
- medikamentöse Therapie
- interventionelle Verfahren
- chirurgische Verfahren.
Medikamentöse Therapie
- Eine Vielzahl von Medikamenten steht für die Behandlung zur Verfügung.
- Medikamente der 1. Wahl sind (Besserung bei 50–70 % der Patient*innen):1,6,13
- Propranolol
- Primidon
- Kombination aus Propanolol und Primidon.
Substanzen und Dosierung
1. Wahl
- Propranolol
- 30–320 mg/d1
- Primidon
- 30–500 mg/d1
- Anwendung off label!
- Kombination Propanolol + Primidon
- variable Dosierungen zur Vermeidung von NW bei zu hohen Einzeldosen9
2. Wahl
- Gabapentin
- 1.200–2.400 mg/d1
- Topiramat14
- 50–400 mg/d1
- Atenolol
- 50–100 mg/d1
- Sotalol
- 80–240 mg/d1
- Alprazolam
- 0,75–1,5 mg/d1
3. Wahl
Interventionelle Verfahren
Botulinumtoxin A
Fokussierter Ultraschall
- Stereotaktische Ausschaltung des dysfunktionalen Hirngewebes durch MRT-gesteuerten hochintensiven fokussierten Ultraschall (MRTgFUS)16-17
- Option nach Ausschöpfen der medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten16
Perkutane Elektrostimulation
- Ein neues Verfahren ist die nichtinvasive Elektrostimulation über Klebeelektroden auf der Kopfhaut.18
Chirurgische Verfahren
Tiefe Hirnstimulation
- Chirurgische Implantation von Stimulationselektroden im Bereich des Nucleus ventralis intermedius1
- Wirksame Therapie mit Langzeiteffekt19-22
Thalamotomie
- Chirurgische Läsionierung im Bereich des Thalamus, heute nur noch selten angewandt12
Behandlung von Kopftremor/Stimmtremor
- Schlechteres Ansprechen im Vergleich zum Händetremor auf medikamentöse Therapie1
- Propranolol ist besser wirksam als Primidon.1
- Injektionen mit Botulinustoxin als interventionelle Option1
- Tiefe Hirnstimulation mit guter Wirksamkeit (60–85 %)1
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Nebenwirkungen durch die medikamentöse Therapie
- Komplikationen im Rahmen interventioneller oder chirurgischer Verfahren
- Alkoholmissbrauch als „Selbsttherapie" von Patient*innen, da Alkoholkonsum zur Symptombesserung führen kann.12
Verlauf und Prognose
- Lebenslange Erkrankung, sie ist bislang nicht heilbar.
- Zunahme des Tremors über Jahre und Jahrzehnte möglich9
- Manchmal Ausbreitung auf andere Körperregionen, z. B. erst Hände-, dann Kopftremor9
- Manche Patient*innen mit milder Symptomatik verzichten auf eine Therapie oder verschieben diese zunächst.5
- Im Verlauf ist eine Einschränkung der Lebensqualität häufig, Berufsaufgabe/-wechsel bei bis zu 25 %.7
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
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Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).