Intelligenzminderung bei Erwachsenen

Allgemeine Informationen

Definition

  • Definition nach DSN-V, 20131
    • Intellectual disability (intellectual developmental disorder) ersetzt den Begriff „mental retardation" aus dem DSM-IV. Die Diagnose umfasst Beeinträchtigungen allgemeiner psychischer Fähigkeiten, die wiederum das adaptive Funktionsniveau in drei Domänen oder Bereichen behindern. Die drei Domänen sind:
      • die konzeptionelle, die Sprache, Lesen, Schreiben, Mathemathik, Urteilen, Denken, Wissen und Gedächtnis einschließt,
      • die soziale Domäne mit Empathie, sozialem Urteilsvermögen, interpersonellen Kommunikationsfähigkeiten, Fähigkeiten zur Beziehungsaufnahme und zum Halten dieser und nicht
        zuletzt
      • die praktische Domäne, die auf Selbstmanagement, Hygiene, berufliche Verantwortlichkeit, Umgehen mit Geld, Freizeitverhalten, Schulbesuch und andere Arbeitsaufgaben fokussiert.
  • Kriterien laut ICD-10:
    • signifikant unterdurchschnittliche Intelligenz, entspricht einem IQ von 70 oder weniger
    • Beginn vor dem vollendeten 18. Lebensjahr
    • signifikante Abweichungen bei adaptiven Fähigkeiten in alltäglichen Funktionen.
  • Kriterien laut deutschem Sozialrecht (SGB IX, §2 Abs. 1, Satz 1)
    • Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt.1

pfeil_7x12.png siehe Tabelle: Intelligenzminderung bei Erwachsenen – Einstufung der Intelligenzstörung

Intelligenzstörung bei Erwachsenen

  • Menschen mit mentaler Retardierung (Intelligenzstörung) leben länger und werden in die Gemeinschaft integriert.
  • Die medizinische Betreuung von mental retardierten Menschen kann anspruchsvoll sein; sie bringt in Bezug auf alltägliche Handlungen zusätzliche Anforderungen mit sich.
    • Kontinuität und routinemäßige Gesundheitschecks
    • regelmäßige Aufzeichnungen und Einblick in die besonderen medizinischen und verhaltensbezogenen Störungen
    • Patienten sollten die Möglichkeit erhalten, sich mit der Arztpraxis vertraut zu machen.
    • Angestellte der Arztpraxis müssen bereit sein, mit ungewöhnlichen Verhaltensweisen umzugehen und bei Bedarf leichte Sedativa zu verabreichen.
  • Die mentale Retardierung kann synonym auch als Intelligenzstörung oder geistige Entwicklungsstörung bezeichnet werden.

Häufigkeit

  • Abhängig von den Erfassungs- und Definitionskriterien für Intelligenzminderung liegt die Gesamtprävalenz in Deutschland bei ca. 1,0%.1
  • Verschiedene Bevölkerungsstudien ergaben bei Erwachsenen eine Häufigkeit von ca. 1–2 %.2
  • Eine nachweislich steigende Tendenz zu einer erhöhten Häufigkeit mit zunehmendem Alter kann unter anderem auf eine späte Diagnose aufgrund von erhöhten Anforderungen an Anpassung und Funktionsfähigkeit zurückzuführen sein.

Komorbidität

  • Bei Menschen mit Intelligenzstörungen besteht eine erhöhte Inzidenz einer Vielzahl von somatischen und psychiatrischen Erkrankungen.
  • Die Ursachen dafür sind biologische Risikofaktoren, wie genetische Anomalien und Hirnschäden, und psychische Risikofaktoren, wie Stigmatisierung und schlechte soziale Integration.
    • Häufig übersehene gesundheitliche Probleme betreffen die Sexualität1, sexuell übertragbare Krankheiten und Probleme am Ende des Lebens.
  • Anzahl und Umfang der zusätzlichen Probleme nehmen mit zunehmendem Grad der mentalen Retardierung zu.
    • Die häufigsten zusätzlichen Probleme sind Sprachschwierigkeiten, Epilepsie und motorische Schwierigkeiten, Sinnesstörungen wie Blindheit und Taubheit, sowie Verhaltensstörungen und autistische Züge.3

ICD-10

  • F70.- Leichte Intelligenzminderung
  • F71.- Mittelgradige Intelligenzminderung
  • F72.- Schwere Intelligenzminderung
  • F73.- Schwerste Intelligenzminderung
  • F74.- Dissoziierte Intelligenzminderung
  • F78.- Andere Intelligenzminderung
  • F79.- Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung

Vorbereitung von Arztbesuchen

  • Patienten mit mentaler Retardierung sollten von einer ihnen bekannten Person begleitet werden, die Zweck des Arztbesuches kennt.
  • Es ist für das ärztliche Personal oft nützlich, eine Vorankündigung zu bekommen, wenn bestimmte Themen besprochen werden sollen.
  • Das ärztliche Personal muss sich eventuell vor der Konsultation mit Patienten mit Intelligenzstörungen vorbereiten.
  • Bei Patienten mit schwierigem Verhalten sollten körperliche und emotionale Traumata so weit wie möglich begrenzt werden.
    • Das Ergebnis der Konsultation kann in einigen Fällen durch die vorherige Gabe eines leichten Sedativums verbessert werden.
    • Achtung! Eine Therapie mit Benzodiazepinen kann bei 10–15 % der Patienten paradoxe Reaktionen mit erhöhter Reizbarkeit und Aggressivität auslösen.4
    • Es sollten Medikamenten verabreicht werden, bei denen die günstige Wirkung auf die Patienten bekannt ist.
  • Gründliche und genaue Protokolldaten sind eine Voraussetzung für die gute Behandlung.

Gesundheitscheck bei Intelligenzstörung

  • Internationale Leitlinien empfehlen regelmäßige Gesundheitschecks.5
  • Bei Menschen mit Intelligenzstörungen ist der Allgemeinzustand oft reduziert; sie leiden häufiger an somatischen Erkrankungen als die allgemeine Bevölkerung.
  • Das Durchschnittsalter von Menschen mit Intelligenzstörung hat zugenommen, wodurch auch die Prävalenz von altersbedingten Krankheiten angestiegen ist. Darüber hinaus bleiben anhaltende Zustände wie Übergewicht, schlechte Ernährung, Bewegungsmangel und andere Zivilisationskrankheiten häufig unerkannt und unbehandelt.6
  • Eine genetische Untersuchung kann bei Verdacht auf nicht diagnostizierte Syndrome oder Erkrankungen indiziert sein.7
  • CT- und MRT-Untersuchungen, sowie möglicherweise neuropsychologische Tests können ebenfalls indiziert sein. Solche Tests können Verhaltensmuster, den Grad der Intelligenzstörung und mögliche Erkrankungen im Laufe der Entwicklung aufdecken.

Medizinische Problemstellungen

Mundhygiene

  • Die Mundhygiene wird unter Erwachsenen mit mentaler Retardierung häufig vernachlässigt8, und der Zugang zu guter Zahnpflege kann schwierig sein9.
  • Parodontale Erkrankungen sind häufig; sie können, besonders bei Menschen mit Kommunikationsproblemen, Unwohlsein, Fieber und herausforderndes Verhalten auslösen.
  • Ein Krankenhausaufenthalt kann notwendig sein, um Menschen, die ambulant nicht entsprechend behandelt werden können, eine adäquate Zahnpflege zukommen zu lassen.10
  • Ärzte sollten die Notwendigkeit regelmäßiger Zahnarztbesuche betonen. Ärzte sollten auch abwägen, ob eine leichte Sedierung bei ambulanten Zahnarztbesuchen notwendig ist.
    • Achtung! Eine Therapie mit Benzodiazepinen kann bei 10–15 % der Patienten paradoxe Reaktionen mit erhöhter Reizbarkeit und Aggressivität auslösen.4 Es sollten Medikamenten verabreicht werden, bei denen die günstige Wirkung auf die Patienten bekannt ist.

Hautpflege

  • Bei Patienten mit eingeschränkter Mobilität oder Inkontinenz besteht ein erhöhtes Risiko für Hautschäden.
  • Das ärztliche Personal sollte Ratschläge zu guter Hautpflege erteilen und Ärzte sollten regelmäßig die Haut von Patienten überprüfen.

Sehen und Gehör

  • Sehstörungen sind bei Menschen mit Intelligenzstörungen häufig: sie kommen 8- bis 200-mal häufiger vor als bei der allgemeinen Bevölkerung.11
    • Mögliche Sehstörungen sind Schielen, Sehfehler, Astigmatismus, begrenzte Augenmotorik, kortikale Sehstörungen und Katarakte.
  • Schwerhörigkeit ist ebenfalls ein häufiges Problem: Hörstörungen kommen bei 40 % der Menschen mit Intelligenzstörung vor.11
    • Viele Menschen mit Intelligenzstörung haben ein geschwächtes Immunsystem. Es besteht eine erhöhte Neigung zu Erkältungen, wiederkehrenden Ohrinfektionen und Flüssigkeit im Mittelohr; dies sind häufige Ursachen für ein herabgesetztes Hörvermögen bei dieser Gruppe.

Erkrankungen der Atemwege

  • Menschen mit mentaler Retardierung, vor allem mit Down-Syndrom, haben häufig obstruktive Schlafapnoe.12
  • Viele Menschen mit Intelligenzstörung können die CPAP-Beatmung nicht vertragen.
  • Für behandlungsbedürftige Patienten können chirurgische Eingriffe wie die Uvulopalatopharyngoplastik oder genioglossale Verschiebung hilfreich sein.13

Gastrointestinale Probleme

  • Schluckbeschwerden
    • Viele Patienten mit geistiger und körperlicher Behinderung entwickeln Schluckbeschwerden, die zu Aspiration, Unterernährung und schlechter Flüssigkeitszufuhr führen können.14
    • Aspiration ist besonders bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen häufig anzutreffen. Die Aspiration verursacht meist nur wenige Symptome15 und kann erhebliche pulmonale Pathologien (Bronchitis, Pneumonie) verursachen.16
    • Eine mit dem Füttern verbundene Hypoxämie kann mit Hilfe einer Pulsoxymetrie der betreffenden Patienten identifiziert werden.17
    • Die Verwendung einer Ernährungssonde zur Umgehung der Aspiration ist umstritten18, eine Unterernährung kann jedoch die künstliche Nahrungszufuhr erforderlich machen.19
    • Für Patienten, bei denen die Aspiration von Reflux vorkommt, kann eine Fundoplikatio oder das Legen eines Jejunostomas hilfreich sein.20
  • Gastroösophagealer Reflux
    • Eine Person mit schlechten verbalen Fähigkeiten kann Schwierigkeiten haben, Beschwerden bezüglich eines gastroösophagealen Reflux zu kommunizieren.
    • Der Zustand ist besonders häufig bei Menschen mit Down-Syndrom anzutreffen und kann Beschwerden wie Halsschmerzen, Aspirationstendenzen, Husten oder Verhaltensänderungen erklären.21
    • Eine Gastroskopie kann eine nützliche Untersuchung sein.
  • Obstipation
    • Obstipation ist bei Menschen mit mentaler Retardierung häufig22; diese kann zu unerklärlichen Verhaltensänderungen führen.
    • Der Zustand kann aufgrund einer angeborenen Disposition auftreten, medizinische Ursachen oder Nebenwirkungen von Medikamenten müssen jedoch ebenfalls in Betracht gezogen werden.
    • Proaktive Maßnahmen zur Darmregulierung sind wirksamer, als abzuwarten, bis eine Obstipation vorliegt.
  • Eine britische Studie ergab, dass Todesfälle aufgrund von gastrointestinalen Karzinomen bei mental retardierten Menschen häufiger sind als bei der allgemeinen Bevölkerung.3

Gynäkologische Fragestellungen

  • Menstruationsbeschwerden können eine Ursache für Instabilität und Aggression, sowie selbstverletzendes Verhalten sein.
  • Medikamentöse Kontrazeption setzt eine Aufklärung und Zustimmung von Mädchen und Frauen mit Intelligenzminderung voraus. 1
    • Menschen mit leichter intellektueller Behinderung sind in aller Regel in der Lage, zu entscheiden, ob und auch mit welchem Präparat sie verhüten wollen.
    • Wenn für sie ein gesetzlicher Vertreter diese Entscheidung trifft, ist er verpflichtet, sich dabei am Wohl der Frau zu orientieren.
  • Andere Indikationen, wie die Erleichterung der Menstruationshygiene und die Linderung von Menstruationsbeschwerden sind kritisch zu bewerten.1
    • Die Häufigkeit der Verordnung von Kontrazeptiva (bis zu 50%) mit der häufigsten Indikation der Verbesserung der Menstruationshygiene legt nahe, dass andere Maßnahmen (Beratung, Anleitung, nichtmedikamentöse Hilfen) für diese Indikationen nicht ausreichend ausgeschöpft werden.
    • Auch die Wahl der Applikation (Injektion statt oraler Gabe) sollte primär am Wohl der betroffenen Frau und nicht an der Reduktion des Betreuungs- bzw. Pflegeaufwandes orientiert sein.
    • Dabei müssen Medikamentennebenwirkungen und Wechselwirkungen mit dem Nutzen einer kontrazeptiven Behandlung abgewogen werden.
  • Bei Patienten mit intellektueller Beeinträchtigung besteht ein erhebliches
    Defizit hinsichtlich der Aufklärung über den Schutz vor sexuell übertragbaren Erkrankungen.1

Sexualität

  • Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass mental retardierte Personen sexuell inaktiv sind; Reproduktion und sexuell übertragbare Krankheiten sind daher zu berücksichtigen.
  • Chirurgische oder medizinische Eingriffe, welche die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen, können ethische Dilemmata mit sich bringen. Solche Maßnahmen sollten erst nach einer sorgfältigen Prüfung der Rechtsvorschriften umgesetzt werden.
    • In Deutschland ist die Sterilisation minderjähriger geistig behinderter Menschen unzulässig und nicht durch Einwilligung zu rechtfertigen! Auch Eltern können nach § 1631c BGB nicht in eine Sterilisation des Kindes einwilligen. Auch das Kind selbst kann nicht in die Sterilisation einwilligen.
    • Die Sterilisation geschäftsunfähiger geistig behinderter volljähriger Menschen bedarf für ihre Zulässigkeit der Einwilligung des Patienten, ungeachtet der Frage, ob er unter rechtlicher Betreuung steht.
      Gemäß § 1905 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB muss die Sterilisation unterbleiben, wenn sie dem Willen des Betreuten widerspricht.
    • Die Entscheidung über die Durchführung einer Sterilisation für  einwilligungsunfähige Volljährige fällen andere Personen (Betreuer, Sachverständiger) und Institutionen (Betreuungsbehörde,
      Vormundschaftsgericht). Diese ist bindend für den behandelnden Arzt. Für die Entscheidungsfindung muss ein besonderer Betreuer bestellt werden, dessen Aufgabenbereich auf die Sterilisation beschränkt ist (§ 1899 Abs. 2 BGB). Die Einwilligung des Betreuers ist im Übrigen nur wirksam, wenn alle drei folgenden Erfordernisse zusammentreffen, nämlich wenn
      • anzunehmen ist, dass es ohne die Sterilisation zu einer Schwangerschaft kommen würde (§ 1905 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB),
      • infolge dieser Schwangerschaft der Eintritt einer der im Gesetz näher umschriebenen Notlagen zu erwarten wäre, die nicht auf andere zumutbare Weise abgewendet werden könnte (§ 1905 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BGB) und
      • die Schwangerschaft nicht durch zumutbare andere Mittel verhindert werden kann (§ 1905 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 BGB).1

Alterungsprozess

  • Die verbesserte Qualität der medizinischen Versorgung und der Lebensbedingungen haben dazu beigetragen, die Lebenserwartung für Menschen mit Intelligenzstörungen ständig zu erhöhen.
    • Im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung scheinen Menschen mit Intelligenzstörungen häufiger atypisch zu altern.23

Neurologische Störungen

  • Krämpfe können bei mental retardierten Menschen schwerwiegend sein, häufig auftreten und schwer kontrollierbar sein.24 Die Krämpfe können auch mit dem Grad der psychomotorischen Retardierung zunehmen25 und die Lebenserwartung um bis zu 20 Jahre reduzieren.26
    • Menschen mit Intelligenzstörung haben 20- bis 50-mal häufiger Epilepsie als die allgemeine Bevölkerung.
  • Patienten, die Neuroleptika einnehmen, können extrapyramidale Zeichen und tardive Dyskinesien entwickeln, die leicht falsch interpretiert werden können.
  • Viele mental retardierte Menschen, insbesondere diejenigen mit Down-Syndrom, reagieren unvorhersehbar auf Schmerzen und sind nicht einfach zu verstehen.27
    • Neu entstandene Schmerzen sollten sorgfältig untersucht werden. Die Patienten können nicht immer korrekt vermitteln, wie stark der Schmerz ist, wo der Schmerz lokalisiert ist und seit wann er besteht.
    • Dies kann zu einer verzögerten Diagnose und Intervention, und somit zu einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko führen.28

Zerebralparese

  • Ein Teil (17–60 %) der Menschen mit Zerebralparese hat auch eine Intelligenzstörung.29
  • Die Zerebralparese wird in die spastische, ataktische und dyskinetische Zerebralparese unterteilt. Die spastische Zerebralparese kommt am häufigsten vor; sie kann in folgende Unterarten unterteilt werden:
    • Spastische Hemiplegie: Spastizität in der rechten oder linken Körperhälfte, wobei die Arme meist stärker betroffen sind als die Beine.
    • Spastische Diplegie: Beide Arme und Beine sind betroffen, die Beine jedoch deutlich stärker als die Arme. In dieser Gruppe sind Intelligenzstörungen am seltensten.
    • Spastische Quadriplegie/Tetraplegie: Alle Gliedmaßen sind spastisch; die Person ist häufig invalidisiert und auf den Rollstuhl angewiesen. Die Gesichts- und Mundmotorik ist häufig betroffen, was in vielen Fällen zu Schwierigkeiten beim Sprechen und Essen führt. Bei der spastischen Quadriplegie liegt eine stärkere Intelligenzstörung vor als bei der spastischen Hemiplegie.30
  • Die Prävalenz von Epilepsie ist bei Menschen mit Zerebralparese hoch.31
    • Der Schweregrad der Epilepsie steigt mit dem Grad der Hirnschäden.

Muskel- und Skeletterkrankungen

  • Neuromuskuläre Skoliose
    • Ist bei mental retardierten Personen häufig, vor allem bei Personen mit Zerebralparese.
    • Ein Korsett ist selten sinnvoll, um diese Art Skoliose zu stabilisieren.
    • Orthopäden mit entsprechendem Fachwissen sollten konsultiert werden, um die Notwendigkeit eines chirurgischen Eingriffs (dieser kann die Progression der Erkrankung begrenzen), respiratorische Komplikationen und Schmerzen zu klären.
  • Kontrakturen
    • Können bei Menschen auftreten, die die unteren Gliedmaßen nicht verwenden.
    • Zur symptomatischen Behandlung können chirurgische Eingriffe wie eine Sehnenverlängerung, Sehnenfreisetzung oder Osteotomie erfolgen.
  • Spastizität
    • Ist eine häufige Ursache für Beschwerden.32
    • Peroral verabreichte Muskelrelaxantien können etwas Erleichterung verschaffen33, sind jedoch häufig mit einer Sedierung verbunden.34
    • Physikalische Therapie, lang anhaltende Dehnungen, Entlastung und Immobilisierung können effektiv sein, einige Patienten benötigen jedoch invasivere Eingriffe, wie lokale Injektionen mit Botulinumtoxin oder die Verwendung einer Baclofen-Pumpe.
  • Osteoporose
    • Ist weit verbreitet, vor allem bei bettlägerigen Patienten.35
    • Ca. 50 % aller Erwachsenen mit mentaler Retardierung haben Osteoporose oder Osteopenie.36
    • Ein erhöhtes Risiko für Osteoporose besteht bei Zerebralparese, Down-Syndrom, der Einnahme von Antiepileptika, speziellen Diäten (z. B. ketogener Diät zur Kontrolle von Krämpfen) und Hypogonadismus.37

Verhaltensprobleme und Psychiatrie

  • Verhaltensänderungen können bei Menschen, die nicht adäquat kommunizieren, das erste Anzeichen für ein Problem sein.
  • Eine nicht erkannte medizinische Störung oder Veränderungen im Umfeld sollten in Betracht gezogen werden, bevor auf eine zugrunde liegende psychische Erkrankung geschlossen wird.38
  • Neuropsychiatrische Erkrankungen wie Zwangsstörungen, ADHS und Stimmungsschwankungen können bei Menschen mit mentaler Retardierung auftreten. Unbehandelt führen diese häufig zu belastenderem Verhalten.
  • Die belastendsten Verhaltensstörungen werden durch die gleichen neuropsychiatrischen Störungen wie bei der übrigen Bevölkerung verursacht39; sie reagieren auf die gleichen Behandlungsmethoden.
    • Eine Ausnahme ist die Therapie mit Benzodiazepinen, die bei 10–15 % der Patienten mit mentaler Retardierung paradoxe Reaktionen mit erhöhter Reizbarkeit und Aggressivität auslösen kann.4
  • Wenn sich die pharmakologische Therapie oder Verhaltenstherapie als geeignet erweist, ist das Ziel der Therapie die Begrenzung der physischen und emotionalen Traumata sowohl für die Patienten als auch für die pflegenden Personen, während gleichzeitig die Integration in die Gesellschaft gestärkt werden soll.
  • Menschen mit mentaler Retardierung erhalten häufiger psychotrope Medikamente.
    • Etwa 22–45 % der Patienten in dieser Bevölkerungsgruppe nehmen psychotrope Medikamente ein. Bei ca. 36 % liegt Polypharmazie vor, es werden also 3 oder mehr psychoaktive Medikamente eingenommen.40
    • Die „Diagnostische Überschattung‟ beinhaltet, dass das Verhalten der mentalen Retardierung und nicht der Psychiatrie zugeschrieben wird, sodass die richtige Behandlung unterlassen wird.
    • Ein weiteres Dilemma besteht darin, dass psychotrope Medikamente in einigen Fällen zur Verhaltenskontrolle verwendet werden, statt etablierte Verhaltensinterventionen zu nutzen.
  • Beratung und Psychotherapie sollten bei Patienten mit leichter bis mäßiger mentaler Retardierung in Betracht gezogen werden.41
  • Mit Ausnahme von kurzen Interventionen bei Patienten, die sich selbst und anderen Schaden zufügen könnten, sollten Medikamente nicht zur Verhaltenskontrolle verwendet werden. Die Behandlung sollte sich gegen die zugrunde liegende Erkrankung, Umweltveränderungen oder psychischen Störungen richten.
  • Da viele mental retardierte Menschen relativ freien Zugang zur Gesellschaft haben, sollten sie über den übermäßigen Genuss von Alkohol und evtl. Narkotika aufgeklärt werden.42
  • Es ist auch wichtig, Patienten und pflegenden Personen über die Entwicklung von Beziehungen, Sexualität, sexuellen Missbrauch, Verhütung und die Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten zu informieren.
  • Sexuell anstößiges Verhalten ist beunruhigend, es gibt jedoch einige Interventionsmöglichkeiten.38

Rechtliche Fragen

Einwilligungsfähigkeit

  • Die Beurteilung der Fähigkeit, bewusst einzuwilligen oder sich an medizinischen Entscheidungen zu beteiligen kann schwierig sein. Es darf nicht angenommen werden, dass alle Erwachsenen mit mentaler Retardierung außer Stande sind, medizinische Entscheidungen zu treffen. Bei Unklarheiten hierzu sollte eine formale Beurteilung der Kompetenzen des Patienten erwogen werden.1

Beurteilung der Fahreignung

Quellen

Leitlinie

  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Intelligenzminderung. AWMF-Leitlinie Nr. 028-042, Stand 2015. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Intelligenzminderung. AWMF-Leitlinie Nr. 028-042, Stand 2015. www.awmf.org
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Autoren

  • Günter Ollenschläger, Prof. Dr. Dr. med., Professor für Innere Medizin, Uniklinikum Köln
  • Eirin Lorentzen, psykologspesialist i nevropsykologi, avdeling for nevrohabilitering, Oslo universitetssykehus, Ullevål, Oslo
  • Ingard Løge, spesialist allmennmedisin, universitetslektor, institutt for sammfunsmedisinske fag, NTNU, redaktør NEL

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