Reye-Syndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Das Reye-Syndrom ist eine akute Enzephalopathie mit Hepatopathie unklarer Genese bei Kindern bis zum 15. Lebensjahr, meist im Anschluss an einen viralen Infekt und Einnahme von Acetylsalicylsäure.
  • Häufigkeit:Es handelt sich um eine äußerst seltene Erkrankung.
  • Symptome:Das Reye-Syndrom äußert sich in Form von Erbrechen, Bauchschmerzen, Bewusststeinsstörungen und weiteren neurologischen Symptomen nach einer symptomfreien Phase von einigen Tagen im Anschluss an eine Virusinfektion.
  • Befunde:Hepatische Enzephalopathie.
  • Diagnostik:Es gibt keine spezifische Diagnostik.
  • Therapie:Symptomatische Behandlung und intensivmedizinische Überwachung.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Seltene akute nichtinflammatorische Enzephalopathie mit akutem Leberversagen bei Kindern in der Regel vor dem 15. Lebensjahr
  • Das Syndrom tritt typischerweise einige Tage nach einem viralen Infekt auf, der mit Acetylsalicylsäure behandelt wurde.
  • Die häufig tödliche Erkrankung beginnt mit Erbrechen und einer rasch fortschreitenden Bewusstseinsstörung.
  • Aufgrund des Zusammenhangs mit der Einnahme von Acetylsalicylsäure wird im Allgemeinen empfohlen, fiebrige Virusinfektionen bei Kindern (unter 16–18 Jahren) nicht mit Acetylsalicylsäure zu behandeln.1

Häufigkeit

  • Das Syndrom wurde erstmals 1963 in Australien beschrieben.
  • Es handelt sich um eine äußerst seltene Erkrankung.
  • Seit in den 1980er Jahren vor der Anwendung von Acetylsalicylsäure bei Kindern gewarnt wurde, ist die Inzidenz der Erkrankung deutlich abgefallen.
  • In den USA wurden seit 1994 weniger als 2 Fälle jährlich gemeldet.
  • Die höchsten Inzidenzen wurden in der Altersgruppe zwischen 5 und 14 Jahren beobachtet, nur einzelne Fälle traten im 1. Lebensjahr auf.1-3

Ätiologie und Pathogenese

  • Die genauen pathogenetischen Mechanismen konnten bislang nicht geklärt werden, aber die Haupthypothese stützt sich auf den Zusammenhang zwischen einer allgemeinen Virusinfektion und der Exposition gegenüber einem externen Zusatzfaktor (z. B. Salicylat).
  • Es scheint dabei zu einer Schädigung der Mitochondrien zu kommen, die wiederum zur Hemmung des Fettsäurestoffwechsels führt. Erhöhte Ammoniakspiegel sind vermutlich hauptsächlich für die neurologische Symptomatik verantwortlich und können zum Hirnödem mit zerebraler Einklemmung führen.
  • Das Syndrom wurde vor allem in Verbindung mit Varizellen- und Influenza-B-Infektionen sowie viralen Gastroenteritiden beobachtet, aber auch bei einer Reihe anderer Viren (Parainfluenza-Viren, Adenoviren, Coxsackieviren, Masern, CMV, EBV, Hepatitisviren und andere).
  • Auch bakterielle Erreger wie Chlamydien, Bordetella pertussis, Mykoplasma und Shigellen wurden im Zusammenhang mit dem Reye-Syndrom beschrieben.
  • Das Fortschreiten der Erkrankung kann auf bestimmte Immunmechanismen zurückzuführen sein, möglicherweise ist aber auch eine direkte infektiöse Wirkung verantwortlich.
  • 80 % der Kinder mit Reye-Syndrom haben in den letzten 3 Wochen Acetylsalicylsäure erhalten, wobei das Reye-Syndrom nur bei 0,1 % aller Kinder, die Acetylsalicylsäure erhalten, auftritt.
  • Andere Toxine und Medikamentenreaktionen können ebenfalls ein Reye-Syndrom auslösen.
  • Angeborene Stoffwechselerkrankungen (insbesondere des Fettsäuremetabolismus) werden ebenfalls als prädisponierende Faktoren vermutet.1,3-5

Prädisponierende Faktoren

  • Anwendung von Salicylaten im Zusammenhang mit fieberhaften Virusinfektionen bei Kindern
  • Auch andere Substanzen stehen in Verdacht ein Reye-Syndrom auszulösen, z. B.:
    • Antiepileptika wie Valproinsäure, Phenothiazine
    • natürliche Substanzen wie Hypoglycin, Pentanoate und verschiedene Pflanzengifte
  • Angeborene Stoffwechselerkrankungen (insbesondere des Fettsäuremetabolismus)1,5

ICPC-2

  • N99 Neurologische Erkrankung NNB, andere

ICD-10

  • G93.7 Reye-Syndrom

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Ausschlussdiagnose4
  • Akute Enzephalopathie und fettige Degeneration der Leber mit Leberversagen im Zusammenhang mit einer Virusinfektion und häufig der Einnahme von Acetylsalicylsäure
  • Das amerikanische Center for Disease Control (CDC) hat folgende diagnostische Kriterien für ein Reye-Syndrom festgelegt:
    • akute, nichtentzündliche Enzephalopathie mit Bewusstseinsstörung und, wenn verfügbar:
      • im Liquor Leukozytenzahl < 8 Zellen/µl oder 
      • Hirnbiopsie mit Zeichen eines Hirnödems ohne perivaskuläre oder meningeale Entzündung
    • hepatische Dysfunktion
      • mit histologisch nachgewiesenem Bild passend zu einem Reye-Syndrom
      • mindestens 3-fache Erhöhung der Transaminasen (GOT, GPT) oder Ammoniak
    • Abwesenheit anderer Ursachen für das Hirnödem oder die Leberfunktionsstörung1

Differenzialdiagnosen

  • Angeborene Stoffwechselstörungen, insbesondere:
    • bei Kindern unter 1 Jahr
    • wenn ein Virusinfekt in der Anamnese fehlt.
    • wenn bereits vorher neurologische Symptome bestanden.
    • bei positiver Familienanamnese.
  • Lebererkrankungen
  • Neuromuskuläre Erkrankungen
  • Medikamentennebenwirkungen, Vergiftungen (z. B. Schwermetalle, Pilze)
  • Meningoenzephalitis
  • Hypoglykämie
  • Hirnblutung1

Anamnese

  • Bauchschmerzen, anhaltendes Erbrechen, Somnolenz und Verwirrung
  • Beginn 12 Stunden bis 3 Wochen nach einer Virusinfektion, wobei das Zeitfenster bis zum Auftreten des Reye-Syndroms am häufigsten 3–6 Tage andauert.
  • Rasch fortschreitende neurologische Verschlechterung innerhalb von wenigen Tagen mit Delir, Desorientierung, KrampfanfällenKoma und evtl. Atemstillstand und Tod.
  • Die meisten Patienten (> 80 %) haben Acetylsalicylsäure in Verbindung mit einem viralen Infekt eingenommen.1,5-6

Klinische Untersuchung

Ergänzende Diagnostik in der Hausarztpraxis

  • In der Regel sofortige Einweisung in ein Krankenhaus ohne weitere Diagnostik

Diagnostik im Krankenhaus

  • Laboruntersuchungen
    • erhöhte Leberwerte (Transaminasen, Bilirubin)
    • erhöhte Ammoniakwerte 1–2 Tage nach Beginn der Bewusstseinsveränderungen
    • erhöhte Amylase und Lipase
    • auffällige Gerinnungsparameter
    • erniedrigtes Bicarbonat
    • Elektrolytverschiebungen passend zu Dehydratation
  • Lumbalpunktion
  • Ggf. Bildgebung
    • im MRT symmetrische Läsionen in Thalamus, weißer Substanz und Basalganglien
  • Ggf. weitere Diagnostik (z. B. Leber - oder Hirnbiopsie)
  • Ggf. Diagnostik in Bezug auf angeborene Stoffwechselstörungen1,7

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Alle Patienten bei entsprechendem Verdacht. Eine intensivmedizinische Behandlung im Krankenhaus ist notwendig.1

Therapie

Allgemeines zur Therapie

  • Die Therapie ist in der Regel intensivmedizinisch, eine kausale Therapie ist nicht bekannt.
  • Engmaschige Überwachung
  • Hämodynamische Stabilisierung und ggf. Beatmung
  • Korrektur u. a. von Hypoglykämie, Azidose, erhöhten Ammoniakspiegeln und Gerinnungsstörungen
  • Senkung des Hirndrucks, Therapie und Prävention von Krampfanfällen
  • Weitere Therapie nach Möglichkeit in einem Zentrum für pädiatrische Hepatologie.1,8

Prävention

  • Fieber und Schmerzen bei Kindern mit Virusinfektionen sollten mit Paracetamol oder Ibuprofen behandelt werden, nicht mit Acetylsalicylsäure.
  • Acetylsalicylsäure ist ein wichtiger Bestandteil der Therapie des Kawasaki-Syndroms. Bei Kindern, die langfristig Aspirin einnehmen, sollte bei entsprechenden Symptomen an das Reye-Syndrom gedacht werden.1,9

Komplikationen und Prognose

Komplikationen

Prognose

  • Die Mortalität ist über die letzten Jahrzehnte dank intensivmedizinischer Behandlungsmöglichkeiten von 60 % auf 20 % gesunken.
  • Neurologische Folgeschäden sind möglich.
  • Von den überlebenden Patienten erholen sich 2/3 vollständig.1,4

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Gesellschaft für Neuropädiatrie. Akute Bewusstseinsstörung jeneits der Neugeborenenperiode. AWMF-Leitlinie Nr. 022-016. 2013. S1, Stand 2013 (in Überarbeitung). www.awmf.org 

Literatur

  1. Chapman J, Arnold JK. Reye Syndrome. In: StatPearls. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2020. PMID: 30252357 www.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Casteels-Van Daele M, Van Gett C, Wouters C, Eggermont E. Reye syndrome revisited: a descriptive term covering a group of heterogeneous disorders. Eur J Pediatr 2000; 159: 641-8. PMID: 11014461 link.springer.com
  3. Bennett CL, Starko KM, Thomsen HS, et al. Linking drugs to obscure illnesses: lessons from pure red cell aplasia, nephrogenic systemic fibrosis, and Reye's syndrome. a report from the Southern Network on Adverse Reactions (SONAR). J Gen Intern Med. 2012;27(12):1697‐1703. PMID: 22692632 www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Glasgow JF, Middleton B. Reye syndrome--insights on causation and prognosis. Arch Dis Child. 2001;85(5):351‐353. PMID: 11668090 www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Dinakaran D, Sergi CM. Co-ingestion of aspirin and acetaminophen promoting fulminant liver failure: A critical review of Reye syndrome in the current perspective at the dawn of the 21st century. Clin Exp Pharmacol Physiol. 2018;45(2):117‐121. PMID: 28945927 onlinelibrary.wiley.com
  6. Belay ED, Bresee JS, Holman RC, et al. Reye's syndrome in the United States from 1981 through 1997. N Engl J Med 1999 May 6; 340(18): 1377-82. PMID: 10228187 www.nejm.org
  7. Gallucci M, Smith JD, Limbucci N, et al. Pediatric Inflammatory Diseases. Part IV: Miscellaneous, Reye, PRES, Sarcoidosis. Neuroradiol J. 2012;25(6):725‐738. PMID: 24029186 journals.sagepub.com
  8. Gesellschaft für Neuropädiatrie. Akute Bewusstseinsstörung jeneits der Neugeborenenperiode. AWMF-Leitlinie Nr. 022/016. 2013. www.awmf.org
  9. Goldman RD, Ko K, et al. Antipyretic efficacy and safety of ibuprofen and acetaminophen in children. Ann Pharmacother 2004; 38: 146-50. PMID: 14742809 journals.sagepub.com

Autoren

  • Anneke Damberg, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Berlin
  • Birgit Wengemayer, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Freiburg

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit