Lemierre-Syndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Beim Lemierre-Syndrom handelt es sich um eine seltene Komplikation einer Tonsillitis, bei der es zu einer oropharyngeal-abszedierenden Infektion mit Thrombose der Vena jugularis interna und septischen Thromboembolien kommt.
  • Häufigkeit:Die Erkrankung ist selten.
  • Symptome:Es entwickelt sich im Anschluss an eine Tonsillitis eine schweres Krankheitsbild mit lokaler Halsschwellung, septischen Embolien und generalisierter Sepsis.
  • Befunde:Klinische Befunde sind zunächst eine akute Tonsillitis sowie im Verlauf eine Verschlechterung mit lokaler Schwellung von Rachen und Hals, Fieber, ggf. Sepsiszeichen und septischen Embolien.
  • Diagnostik:Laborchemisch erhöhte Entzündungsparameter, mikrobiologischer Erregernachweis insbesondere in der Blutkultur, Dopplersonografie der Jugulargefäße, ggf. weitere Bildgebung (Röntgen, CT, MRT).
  • Therapie:Antibiotikatherapie, ggf. lokale Abzessdrainage, ggf. Antikoagulation.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Das Lemierre-Syndrom (Postangina-Septikämie) ist ein seltene Komplikation einer bakteriellen Tonsillopharyngitis (oder noch seltener einer anderen Infektion im HNO-Bereich), bei der es zu einer sich zunächst lokal im parapharyngealem Raum ausbreitenden abszedierenden Infektion des Mund-Rachen-Raums kommt, verursacht durch das anaerobe Bakterium Fusobacterium necrophorum.1-3
  • Komplizierend kommt es zu einer septischen Thrombose der Vena jugularis interna, septischen Thromboembolien und generalisierter Sepsis.2,4
  • Die Erkrankung wurde erstmalig 1936 von André Lemierre beschrieben, als er von 20 Patient*innen mit Sepsis durch Anaerobier nach einer Infektion der oberen Atemwege berichtete.4-6

Häufigkeit

  • Die Erkrankung betrifft vor allem junge, sonst gesunde Erwachsene, aber auch Kinder und ältere Patient*innen mit eingeschränktem Immunsystem können erkranken.4,7
  • Inzidenz
    • Das Lemierre-Syndrom ist selten.4
    • In den letzten Jahren tritt es vermutlich etwas häufiger auf, wobei keine verlässlichen Daten vorliegen.4,6-8
      • Diskutierte Ursachen sind eine reduzierte Antibiotikagabe bei Halsinfektionen, die seltenere Durchführung von Tonsillektomien und die vermehrte Gabe von Makroliden, die bei Fusobacterium necrophorum nicht wirksam sind.4,7
    • Die Inzidenz wird mit 0,6–3,6 Fälle auf 1 Mio. Einw. angegeben.1,6,9
  • Die Erkrankung tritt häufiger im Herbst und Winter auf.4
  • Alter
    • Das durchschnittliche Alter liegt bei 20 Jahren. 90 % der Fälle treten bei Personen zwischen 10 und 35 Jahren auf.2,4,6-7
  • Geschlecht
    • Männer sind häufiger betroffen als Frauen.4

Ätiologie und Pathogenese

  • Erreger
    • Klassischer Erreger ist Fusobacterium necrophorum, ein gramnegatives anaerobes Bakterium, das zur normalen oropharyngealen Bakterienflora gehört.2,4,6
    • Auch mit dem Lemierre-Syndrom in Zusammenhang gebracht werden andere Fusobakterien, Streptokokken, Staphylokokken, Enterokokken, Proteus, Klebsiella pneumoniae, Pseudomonas aeroginosa, Bacteroides, Eikenella corrodens, Porphyromonas asaccharolytica und andere.2,4,6
    • Das Lemierre-Syndrom wurde auch im Anschluss an eine Infektion mit EBV beschrieben.7,9
  • Das schwere septische Krankheitsbild zeigt sich innerhalb ca. 1 Woche nach einer Tonsillopharyngitis, häufig nach einer initialen Besserung.4,10 
  • Es ist nicht eindeutig geklärt, ob es sich eine primäre oder sekundäre Infektion mit Fusobacterium necrophorum handelt. Vermutet wird, dass es auf Basis einer vorherigen Schleimhautschädigung durch einen anderen Erreger zur Ausbreitung der Infektion kommt.7
  • Es entsteht eine lokale abszedierenden Ausbreitung der Infektion im parapharyngealen Raum und anschließend eine homolaterale septische Thrombophlebitis der Vena jugularis interna mit peripheren, meist pulmonalen septischen Embolien.2,6,9
  • Durch eine lokale Ausbreitung des Thrombus nach zerebral kann es zu einer Sinusvenenthrombose und zu Hirnabszessen kommen.7
  • Atypische Formen6
    • Es werden verschiedene atypische Formen beschrieben, die auch von anderen Infektionsfoki im Bereich des Kopf-Hals-Bereichs ausgehen können, z. B. Sinusitis, Otitis, Parotitis, Mastoiditis oder Zahninfektionen.
    • Es sind auch Thrombosen anderer Gefäße, z. B. beider Venae jugulares internae, der Vena jugularis externa, der zerebralen Venen, der Femoralvenen, der Pfortader und der A. carotis interna beschrieben.

Prädisponierende Faktoren

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,6
  • Infektionen im HNO-Bereich, insbesondere Tonsillopharyngitis
  • Meist sind gesunde, junge Patient*innen betroffen. Im höheren Alter kann eine Immunsuppression ein prädisponierender Faktor sein.

ICPC-2

  • R74 Infektion der oberen Atemwege, akute

ICD-10

  • J03.8 Akute Tonsillitis durch sonstige näher bezeichnete Erreger
  • B96.8 Sonstige näher bezeichnete Bakterien als Ursache von Krankheiten, die in anderen Kapiteln klassifiziert sind

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose wird aufgrund ihrer Seltenheit und der meist betroffenen jungen und gesunden Patient*innen oft spät gestellt.4,6,9
  • Entscheidend ist der zeitnahe klinische Verdacht, um rasch therapeutische und diagnostische Maßnahmen einzuleiten.6,9
  • Es gibt keine offiziellen Diagnosekriterien. Vorgeschlagen wurden:11
    1. Anamnese oder klinischer Befund mit Tonsillitis vereinbar
    2. Septische Embolien in der Lunge oder anderen Organen
    3. Jugularvenenthrombose oder Wachstum von Fusobacterium necrophorum in Blutkultur oder anderer, sonst steriler Lokalisation.

Differenzialdiagnose

Anamnese

  • Entwicklung innerhalb einiger Tage bis 3 Wochen nach einer initialen Infektion des HNO-Bereichs, meist einer Tonsillopharyngitis.2,4,6
  • Meist kommt es nach einer initialen Besserung des Infektes im Intervall zu einer Verschlechterung mit schwerem septischem Krankheitsbild.2,4,6
  • Es entwickelt sich eine septische Thrombophlebitis der Vena jugularis interna (oder anderer Venen) mit lokaler Thrombusausbreitung, septischen Thromboembolien und generalisierter Sepsis.2,4,6
  • Mögliche Folgen können sein:6-7
    • lokale Abszedierung an Hals und Nacken
    • septische Embolien6-7
    • lokale Thrombusausbreitung7
      • Sinusvenenthrombose
      • Hirnabszess
    • generalisierte Sepsis bis zum Multiorganversagen6-7
      • Bei 7 % der Patient*innen kommt es zum septischen Schock, bei 10 % zu einem ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome).7
  • Mögliche Symptome6

Klinische Untersuchung

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.6-7
  • Bestimmung der Vitalparameter
  • Infektion im im HNO-Bereich?
  • Lokale Schwellung des Rachens (parapharyngealer Abszess) und/oder des Halses
  • Lokale Rötung im Halsbereich
  • Lymphadenopathie
  • Kommt es zu septischen Embolien, können sich entsprechende Befunde zeigen, wie z. B.:
    • auffälliger pulmonaler Auskultationsbefund
    • Vigilanzminderung, neurologische Ausfälle, Meningismus
    • auffälliger abdomineller Tastbefund
    • septische Arthritis
    • Herzgeräusch.

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Bei klinischem Verdacht auf das Lemierre-Syndrom sind weitere Untersuchungen in der Hausarztpraxis nicht sinnvoll.
  • Laborchemisch können sich zeigen:6
    • erhöhte Entzündungsparameter (CRP, BSG)
    • Leukozytose mit Linksverschiebung, Leukopenie und Thrombopenie
    • ggf. Anstieg von Leberwerten und Retentionsparametern
    • ggf. erhöhtes Laktat
    • ggf. Elektrolytverschiebungen
    • ggf. Zeichen der disseminierten intravasalen Gerinnung

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Die weiteren Untersuchungen werden in der Regel stationär durchgeführt.4,6-7
  • Mikrobiologie
    • Blutkulturen, lokaler Abstrich oder Abszesspunktat, auch Liquor, Pleurapunktat und andere.
    • Negative Befunde schließen ein Lemierre-Syndrom nicht aus.
    • Die Antibiose sollte nicht verzögert werden, um die meist erst nach 2–3 Tagen eintreffenden mikrobiologischen Befunde abzuwarten.
  • Dopplersonografie des Halses mit Darstellung der Vena jugularis
  • Röntgen Thorax (kann unauffällig sein)
  • CT oder MRT mit Gefäßdarstellung
  • Weitere Diagnostik je nach Befund und Komplikationen

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Bei Verdacht auf die Erkrankung ist eine notfallmäßige stationäre Einweisung erforderlich.

Therapie

Therapieziele

  • Therapie der Infektion
  • Vorbeugung und Therapie septischer Komplikationen

Allgemeines zur Therapie

  • Alle Therapieempfehlungen basieren auf limitierten Daten.4
  • Entscheidend ist die rasche Einleitung einer adäquaten Antibiotikatherapie.6
  • In der Regel ist eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich.7
  • Eine chirurgische Drainage von Abszessen kann erforderlich sein.6
  • Der Stellenwert einer Antikoagulation ist bisher unklar.4,6

Medikamentöse Therapie

Antibiotikatherapie

  • Erregerempfindlichkeit1,4,6
    • Fusobacterium necrophorum spricht in vitro auf Metronidazol, Betalaktam/Betalaktamase-Inhibitor-Kombinationen, Carbapeneme und Clindamycin an. Ein Therapieversagen von Clindamycin ist beschrieben.
    • Die Erreger sind meistens auch Penicillin-empfindlich, da es jedoch resistente Stämme gibt, sollte bei schweren invasiven Infektionen keine Penicillin-Monotherapie durchgeführt werden. Auch unter Penicillinen ist ein Therapieversagen beschrieben.
    • Es bestehen Resistenzen gegenüber Fluorchinolonen, Aminoglykosiden und Cotrimoxazol, häufig auch gegenüber Makroliden und Tetrazyklinen.
  • Therapieempfehlungen1,4,6,10
    • Neben Anaerobiern (insbesondere Fusobakterien) sollte die Therapie auch Staphylokokken und Streptokokken abdecken.1,4,6-7
    • Eine mögliches Therapieregime sind Betalaktam-Antibiotika mit Betalaktamase-Inhibitor (z. B. Piperazillin-Tazobactam) oder ein Cephalosporin der 3. Generation (z. B. Ceftriaxon) kombiniert mit Metronidazol.1,6
  • Häufig ist das Ansprechen auch bei adäquater Antibiotikatherapie langsam. Eine Behandlungsdauer von 3–6 Wochen wird empfohlen.1,4,6

Antikoagulation

  • Ob und wann eine Antikoagulation indiziert ist, wird kontrovers diskutiert.4,6-7,10
  • Eine Metaanalyse retrospektiver Daten von 2020 zeigte keinen Vorteil einer Antikoagulation oder Gefäßrekanalisation, allerdings war die Datenqualität zweifelhaft.6
  • Abgewogen werden müssen eine raschere Thrombusauflösung bzw. die Verhinderung einer Thrombusausbreitung unter Antikoagulation gegenüber einem erhöhten Blutungs- und Embolierisiko.1
  • Vor- und Nachteile einer Antikoagulation sollten im Einzelfall individuell diskutiert werden.6

Weitere Behandlungsmöglichkeiten

  • Ggf. chirurgische Drainage von Abszessen4,6,10
    • in ca. 50 % der Fälle erforderlich

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,4,6,9
  • Ohne Therapie ist die Erkrankung lebensbedrohlich, die Mortalität vor Verfügbarkeit von Antibiotika lag bei 90 %.
  • Die Erkrankung schreitet schnell fort und erfordert eine interdisziplinäre, in der Regel intensivmedizinische Therapie im Krankenhaus.

Komplikationen

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.6-7
  • Lokale Abszedierung an Hals und Nacken
  • Jugularvenenthrombose
  • Septische Streuung
  • Lokale Thrombusausbreitung
    • Sinusvenenthrombose
    • Hirnabszess
  • Septischer Schock bis zum Multiorganversagen (7 % der Patient*innen)7

Prognose

  • Die Mortalität wird mit 2–18 % angegeben.1,4,6-7,9,12-13

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Halsschmerzen. AWMF-Leitlinie Nr. 053-010. S3, Stand 2020. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Entzündliche Erkrankungen der Gaumenmandeln/Tonsillitis, Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 017-024. S2k, Stand 2015. www.awmf.org

Literatur

  1. Shahab C. Das Lemierre-Syndrom. Schweiz Med Forum 2012;12(19):386–388. www.medicalforum.ch
  2. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Halsschmerzen. AWMF-Leitlinie Nr. 053-010. Stand 2020. www.awmf.org
  3. Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Therapie entzündlicher Erkrankungen der Gaumenmandeln - Tonsillitis, Therapie, Stand 2015. www.awmf.org
  4. Osowicki J, Kapur S, Phuong LK, Dobson S. The long shadow of lemierre's syndrome. J Infect. 2017 Jun;74 Suppl 1:S47-S53. PMID: 28646962. www.journalofinfection.com
  5. Lemierre A. On certain septicaemias due to anaerobic organisms. Lancet 1936; 1: 701-3. PubMed
  6. Mesrar H, Mesrar J, Maillier B, Kraoua S, Chapoutot L, Delclaux B. Syndrome de Lemierre : diagnostic, exploration, traitement Lemierre's syndrome: Diagnosis, exploration, treatment. Rev Med Interne. 2018 May;39(5):339-345. French. Epub 2017 Dec 18. PMID: 29269194. www.sciencedirect.com
  7. Allen BW, Anjum F, Bentley TP. Lemierre Syndrome. 2020 Aug 15. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2020 Jan–. PMID: 29763021. www.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Karkos PD, Asrani S, Karkos CD. Lemierre's syndrome: A systematic review. Laryngoscope 2009; 119: 1552-9. PubMed
  9. Genetic and Rare Diseases Information Center, US Dep. Health, Human Services. Lemierre Syndrome, Overview. Stand 2019. (30.10.2020) rarediseases.info.nih.gov
  10. Gore MR. Lemierre Syndrome: A Meta-analysis. Int Arch Otorhinolaryngol. 2020 Jul;24(3):e379-e385. doi: 10.1055/s-0039-3402433. Epub 2020 Apr 24. PMID: 32754251 www.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Riordan T. Human infection with Fusobacterium necrophorum (Necrobacillosis), with a focus on Lemierres syndrome. Clin Microbiol Rev 2007; 20: 622-59. PubMed
  12. Kristensen LH, Jensen A, Prag J. Fusobacterium necrophorum: fra tonsillitis til Lemierres syndrom. Ugeskr Læger 2009; 171: 987-90. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  13. Centor RM. Expand the pharyngitis paradigm for adolescents and young adults. Ann Intern Med 2009; 151: 812-5. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Anneke Damberg, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Berlin
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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