Zusammenfassung
- Definition:Presbyakusis ist eine neurogene, symmetrische Schwerhörigkeit mit gleichmäßiger Progression über viele Jahre, bei der der Hochtonbereich zuerst betroffen ist.
- Häufigkeit:Insgesamt sind 20–30 Mio. Erwachsene in Deutschland schwerhörend. Eine Studie aus dem Jahr 2017 gibt für bestimmte Regionen Deutschlands an, dass insgesamt 16,2 % aller Erwachsenen schwerhörend sind und 6,5 % aller Erwachsenen Hörgeräte benutzen. Es gibt Hinweise für eine unzureichende Diagnostik und Therapie bei der Presbyakusis in Deutschland.
- Symptome:Die Erkrankung ist gekennzeichnet durch ein eingeschränktes Hörvermögen und Sprachverständnis in lauter Umgebung, eine langsamere zentrale Verarbeitung der akustischen Information und eine eingeschränkte Fähigkeit, Geräuschquellen zu lokalisieren.
- Befunde:Normalbefund bei der klinischen Untersuchung.
- Diagnostik:Mini-Audio-Test (MAT), Audiometrie.
- Therapie:Die Behandlung erfolgt durch ein Hörgerät oder eine andere Verstärkung des Schalls über Hilfsmittel. Operative Verfahren kommen sehr selten zum Einsatz. Mittelohr-Implantate als therapeutische Option für ausgewählte Patient*innen. Cochlea-Implantate als therapeutische Möglichkeit bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit.
Allgemeine Informationen
Definition
- Presbyakusis
- neurogene, symmetrische Schwerhörigkeit
- gleichmäßige Progression über viele Jahre
- Hochtonbereich ist zuerst betroffen.
- Die Erkrankung ist gekennzeichnet durch:
- eingeschränktes Hörvermögen und Sprachverständnis in lauter Umgebung
- langsamere zentrale Verarbeitung der akustischen Information
- eingeschränkte Fähigkeit, Geräuschquellen zu lokalisieren.
- Kommunikationsstörung durch eine beiderseitige Hörminderung.1
- Eine unbehandelte Schwerhörigkeit kann im Alter weitreichende geistige, körperliche und soziale Folgen für die Betroffenen haben.1
Häufigkeit
- Prävalenz
- Schwerhörigkeit ist ein weit verbreitetes Symptom und gehört nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den wesentlichen Gesundheitsproblemen der Menschheit.2
- Weltweit sind etwa 466 Mio. Menschen betroffen.2
- Etwa 1/3 aller betroffenen Personen ist mindestens 65 Jahre alt.
- Insgesamt sind 20–30 Mio. Erwachsene in Deutschland schwerhörend.1
- Angaben zur Prävalenz von Schwerhörigkeit und dem Gebrauch von Hörgeräten in Deutschland und Europa sind insgesamt unvollständig, da unterschiedliche Definitionen das Sammeln von Daten erschweren.
- Umwelt
- In industrialisierten Gesellschaften ist das Hörvermögen schlechter als in isolierten oder ländlichen Gebieten.4
- Zeitliche Tendenz
- Die Prävalenz von Schwerhörigkeit bei Älteren nimmt infolge des gestiegenen Anteils älterer Menschen in der Gesellschaft zu.
- Hilfsmittel
- Derzeit sind nur etwa 16 % aller Patient*innen mit einer Schwerhörigkeit mit Hörgeräten versorgt.1
- Unbehandelt beeinträchtigt eine Schwerhörigkeit den Alltag und die Lebensqualität und beeinflusst auch die Genese und den Verlauf geriatrisch relevanter Erkrankungen.
Ätiologie und Pathogenese
- Hauptfaktoren
- Alterung
- Lärmschäden
- genetische Disposition
- ontologische Erkrankungen
- Exposition mit ototoxischen Stoffen
Pathophysiologie
- Es kommt zu einer langsam fortschreitenden Innenohrschwerhörigkeit durch morphologische und funktionelle Veränderungen.
- Innenohr (Cochlea)
- Hörnerv
- zentrale Regionen
- Sowohl die zentralen als auch die peripheren Hörorgane sind betroffen.5
- Verlust von Haarzellen und Ganglionzellen in der Cochlea
- Veränderungen im Hörverständnis
- Die Schwerhörigkeit beginnt in den obersten Frequenzbereichen.
- Der gesamte Hörbereich des Menschen liegt bei einem gesunden Gehör zwischen 0 und maximal 20 kHz.
- Die Schwerhörigkeit betrifft zuerst die höheren, später auch mittlere und tiefere Frequenzen des Hörspektrums.
- Sie stört vor allem die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Sprache in lauter Umgebung.
- Die von Presbykusis am stärksten betroffenen Frequenzen liegen über 2 kHz.
- Nimmt die Schwerhörigkeit im Frequenzbereich 2‒4 kHz weiter zu, ist die Sprachwahrnehmung in jeder Umgebung gestört.
- Es gibt 3 klassische Unterarten:5
- sensorisch (Verlust der äußeren Haarzellen)
- metabolisch (Atrophie der Stria vascularis)
- neural (Verlust der Ganglionzellen).
- Die 3 Unterarten können alleine oder kombiniert auftreten.
Prädisponierende Faktoren
- Eine sensoneurale Schwerhörigkeit in der Kindheit kann zu einer schnelleren altersbedingten Schwächung des Gehörs führen.6
- Lärmbelastung
- Personen, die am Arbeitsplatz oder in der Freizeit einer starken Lärmbelastung ausgesetzt waren, weisen ein höheres Risiko für eine Hochton-Schwerhörigkeit auf.7
- Rauchen
- Nikotinkonsum wird ebenfalls mit einer Hochton-Schwerhörigkeit in Zusammenhang gebracht.8
- Medikamente, die zu einer Schwerhörigkeit beitragen können, sind:9
- Aminoglykosid-Antibiotika
- Cisplatine
- Schleifendiuretika
- NSAR
- Chemotherapeutika
- Anti-Malaria-Mittel.
- Sonstige Toxine, die zu einer Schwerhörigkeit beitragen können, sind:9
- Blei
- Kohlenmonoxid
- Quecksilber.
- Hypertonie
- Positive Familienanamnese
ICPC-2
- H84 Altersschwerhörigkeit
ICD-10
- H91 Sonstiger Hörverlust
- H91.1 Presbyakusis
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Anamnese
- Klinische Untersuchung
- Mini-Audio-Test (MAT)
- Audiometrie
Differenzialdiagnosen
- Ohrenschmalz
- Lärmschaden
- Akustikusneurinom
- Morbus Menière
- Otosklerose
Anamnese
- Einschränkungen beim Hören werden im geriatrischen Assessment mit der folgenden Frage erfasst: Fällt es Ihnen schwer, Gespräche zu verstehen (ggf. auch mit Hörgerät)?10
- Die Frage hat einen hohen negativen prädiktiver Wert.
- Bei unauffälligen Antworten muss dem nicht weiter nachgegangen werden.10
- Das Hörvermögen reduziert sich mit der Zeit.
- Familienangehörigen und Freunden ist das Problem früher bewusst als den Betroffenen.
- Der Fremdanamnese fällt eine zusätzliche Bedeutung zu.
- Gespräche zu zweit sind einfacher als Versammlungen mit vielen sprechenden Personen.
- Der Verlust der Hörfähigkeit ist häufig begleitet von:
- Tinnitus
- Wahrnehmung von klingenden Geräuschen in den Ohren oder im Kopf.
- Folgen der Schwerhörigkeit
- Hochfrequente Warntöne werden nicht wahrgenommen oder können nicht lokalisiert werden.
- Risiko für Stürze und eine spätere Demenzentwicklung nimmt zu.1
- Das Hospitalisationsrisiko nimmt zu.1
- Verschlechterung der Arzt-Patienten-Kommunikation1
- Aus einer unbehandelten Schwerhörigkeit kann folgen:
- soziale Isolation
- Depressionen
- Verlust des Selbstwertgefühls.
Klinische Untersuchung
- Otoskopie, um andere Ursachen als Alterung auszuschließen.
- Der Weber-Versuch ist indifferent.
- Rinne-Versuch positiv
- Luftleitung funktioniert besser als die Knochenleitung.
- Orientierende Untersuchung der Hörfähigkeit
- Flüsterprobe
Mini-Audio-Test (MAT)
- Für den Einsatz durch Ärzt*innen, die nicht auf HNO spezialisiert sind.
- Ohne weitere Hilfsmittel kann damit ein Teil relevant schwerhörender Patient*innen identifiziert werden.
- Bei diesem Test zum subjektiven Hörverlust kreuzen die Patient*innen an (stimmt, stimmt teilweise, stimmt nicht), ob folgende Aussagen zutreffen:1
- Andere sagen mir, dass ich meinen Fernseher zu laut einstellen würde.
- Das Zwitschern von Vögeln oder das Zirpen von Grillen höre ich schlecht.
- Eine Unterhaltung mit einer anderen Person in einem fahrenden Bus verstehe ich schlecht.
- Wenn jemand flüstert, habe ich Probleme ihn zu verstehen.
- Meine Hörprobleme führen zu Missverständnissen mit meinen Gesprächspartnern.
- Andere sagen mir, dass ich Hörprobleme haben würde.
- Auswertung
- stimmt: 2 Punkte
- stimmt teilweise: 1 Punkt
- stimmt nicht: 0 Punkte.
- Die Summe aller Punkte bilden.
- Weitere fachspezifische Diagnostik in einer HNO-Praxis bei einer Gesamtpunktzahl von 2 Punkten ab dem 50. Lebensjahr
- Wenn die Patient*innen bereits ein Hörgerät besitzen:
- Bestehen Handhabungsprobleme?
- Ist ein anderes Gerät notwendig?
- Überprüfung des Hörens durch Frequenztest
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Komorbidität ausschließen.5
- Diabetes
- Niereninsuffizienz
- Hypertonie
- Hyperlipidämie
Diagnostik bei Spezialist*innen (HNO)
Audiometrie
- Tonschwellenaudiometrie (Hörtest)
- Dies ist ein subjektives Verfahren zur Messung der frequenzabhängigen Hörempfindlichkeit.
Tympanometrie
- Bei der Tympanometrie wird vom Trommelfell reflektierter Schall bei unterschiedlichen Druckverhältnissen im äußeren Gehörgang gemessen.
- Die Beweglichkeit des Trommelfells, Belüftungssituation im Mittelohr und Hinweise auf eine Tubenfunktionsstörung können untersucht werden.
Hörtest mit otoakustischen Emissionen
- Ein gesundes Innenohr reagiert auf Tonsignale, indem es Töne zurücksendet, die mit einem kleinen Mikrofon im Gehörgang aufgezeichnet werden können, sog. otoakustische Emissionen (OAE).
- Der OAE-Hörtest reagiert bereits auf kleine Veränderungen im Gehör empfindlich und ist ideal zur Überwachung und für Screening-Untersuchungen bei Neugeborenen.
- Der Hörtest eignet sich zum Nachweis von Lärmschäden bei jüngeren Patient*innen, aber weniger bei älteren Personen mit schlechtem Gehör.
Indikationen zur Überweisung
- Wenn die Patient*innen und/oder Angehörige das Bedürfnis nach einem Hörgerät und/anderen technischen Hilfsmitteln haben.
- Patient*innen mit einem Verdacht auf Schwerhörigkeit, z. B. einem auffälligen Mini-Audio-Test, sollten frühzeitig einer weiteren HNO-ärztlichen Diagnostik zugeführt werden.
Checkliste zur Überweisung
Schwerhörigkeit bei Älteren, Presbyakusis
- Zweck der Überweisung
- Diagnostik? Therapie? Sonstiges?
- Anamnese
- Seit wann besteht die Erkrankung? Entwicklung? Zugrunde liegende Ursachen? Lärmexposition?
- Beide Ohren? Begleitsymptome: Tinnitus, Schwindel, Ohrenschmerzen, Sonstiges? Wünschen Patient*innen ein Hörgerät?
- Andere relevante Krankheiten? Familiäre Disposition?
- Regelmäßig einzunehmende Medikamente?
- Konsequenzen: Arbeit, soziales Umfeld, Isolation?
- Klinische Untersuchung
- Otoskopie, Hörtest, Weber-Versuch, Rinne-Versuch
- Ergänzende Untersuchungen
- Mini-Audio-Test, Audiometrie, Tympanometrie
Therapie
Therapieziel
- Verbesserung des Gehörs
Allgemeines zur Therapie
- Irreversible medizinische Erkrankung
- Es gibt keine Therapie, die eine Schwerhörigkeit rückgängig machen kann, auch wenn in diesem Bereich immer mehr geforscht wird.5
- Therapie anderer Krankheiten
- Kardiovaskuläre Erkrankungen und deren Risikofaktoren beeinträchtigen das Hörvermögen bis zu einem gewissen Grad.
- Schlaganfall, Herzinfarkt, Claudicatio, Hypertonie, Hyperlipidämie und Diabetes stehen im Zusammenhang mit zunehmender Schwerhörigkeit.5
Hörgeräte
- Werden empfohlen bei durchschnittlicher Hörschwelle von ca. 40 dB.
- Sind auch bei Personen mit leichterer Schwerhörigkeit ggf. sinnvoll.
- Hörgeräte verbessern die Lebensqualität.
- Sie können dazu beitragen, einer kognitiven Beeinträchtigung vorzubeugen.11
- Hörgeräte wirken präventiv hinsichtlich der Entwicklung einer Depression.1
- Sie führen zu einer Verbesserung des Gleichgewichts.1
- Hörgeräteträger*innen müssen regelmäßig durch HNO-Ärzt*innen und Hörgeräteakustiker*innen betreut werden zur Erkennung von:
- Komplikationen
- potenziell gefährlichen Zweiterkrankungen
- technischen Problemen.
- Außerdem müssen Hörgeräte in regelmäßigen Abständen angepasst werden.
- Es gibt eine breite Palette von Hörgeräten, die sich u. a. digitale Technologien zunutze machen.12-13
- Die Verwendung von Hörgeräten hat auch Nachteile:
- Sie stellen ein normales Gehör nicht wieder her.
- Sie erfordern eine lange Lern- und Eingewöhnungsphase, in der das Gehirn an den neuen Klang bestimmter Dinge gewöhnt werden muss.
- Sie sind unbequem, sichtbar und teuer.
Operative Therapie
- Operative Verfahren
- Kommen sehr selten zum Einsatz.
- eine mögliche Option bei zusätzlichen Erkrankungen (z. B. chronische Gehörgangsentzündungen)1
- Aktive Mittelohr-Implantate
- therapeutische Option für ausgewählte Personen
- Es erfolgt die mechanische Stimulation entlang der Gehörknöchelchenkette oder am runden Fenster.1
- Cochlea-Implantate
- Der Hörnerv wird durch Cochlea-Implantate direkt elektrisch stimuliert.
- Cochlea-Implantate sind eine therapeutische Möglichkeit bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit oder Taubheit.
- Eine mögliche Option bei älteren Patient*innen, wenn eine Hörgeräteversorgung erfolglos war.1
Weitere Therapien
- Zuhause können Lichtsignale zur Verfügung gestellt werden, wenn das Telefon oder die Türglocke klingen.
- Induktive Höranlage oder andere Techniken, um den Fernseher oder das Radio besser hören zu können.
Prävention
- Die Verwendung eines Gehörschutzes und eine Lärmreduzierung kann die Progression von Lärmschäden dämpfen.
- Nur wenige ältere Erwachsene mit Hörverlust verwenden derzeit Hörgeräte.
- Verbesserte Screening- und Interventionsprogramme zur Identifizierung älterer Erwachsener sind erforderlich, um die hörbezogene Lebensqualität für diesen großen Teil der Bevölkerung zu verbessern.14
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Eine nicht behandelte Schwerhörigkeit geht mit einem erhöhten Sturzrisiko einher.1
- Eine nicht behandelte Schwerhörigkeit erhöht auch das Risiko für Isolation und Depression.15
- Demenz
Prognose
- Ist abhängig von der Grunderkrankung.
Verlaufskontrolle
- Alle Patient*innen mit angepassten Hörgeräten sollten regelmäßig untersucht werden.
- lokale Helfer*innen bei Pflegebedürftigen
- Nachsorge durch HNO-Ärzt*in/ Hörgeräteakustiker*in/ Audiopädagog*in
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Löhler J, Cebulla M et al. Schwerhörigkeit im Alter – Erkennung, Behandlung und assoziierte Risiken. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 301-10. www.aerzteblatt.de
- WHO: Deafness and Hearingloss, März 2020. www.who.int
- Robert-Koch-Insitut: Gesundheitsberichtserstattung des Bundes. Hörstörungen und Tinnitus.Berlin, 2006. www.rki.de
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Autor*innen
- Mana Schmidt-Haghiri, Dr. med., Ärztin, München
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).