Verhaltensauffälligkeiten und psychische Symptome der Demenz (BPSD)

Zusammenfassung

  • Definition:Neben kognitiven Defiziten gehören Verhaltensauffälligkeiten und psychische Symptome bei Demenz (Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia, BPSD) zu den charakteristischen Symptomen der Erkrankung. Andere Bezeichnungen sind nichtkognitive Symptome, psychiatrische Symptome, psychopathologische Symptome oder herausforderndes Verhalten bei Demenz.
  • Häufigkeit:BPSD treten bei jedem Demenzkranken zu irgendeinem Zeitpunkt im Krankheitsverlauf auf. Rund 70 % der Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen sind davon betroffen.
  • Symptome:Apathie, Agitiertheit, Angst, Depressivität, Halluzinationen (in der Regel visuell) und Wahnvorstellungen sowie Verhaltensstörungen in Form von motorischer Unruhe, unangemessenes Verhalten, Enthemmung und verbale oder körperliche Aggression.
  • Befunde:Neben den typischen kognitiven Symptomen einer Demenz treten auch BPSD in unterschiedlicher Kombination und Ausprägung auf.
  • Diagnostik:Abgrenzung von anderen organischen und psychischen Grunderkrankungen sowie von Medikamenteneffekten. Stufendiagnostik der Demenz mit primärem Schwerpunkt auf Eigen- und Fremdanamnese sowie psychopathologischer Untersuchung, ggf. flankiert von BPSD-spezifischen Testverfahren. Bei Hinweis auf sekundäre Demenz oder hirnorganisches Psychosyndrom: weitere organmedizinische Abklärung mit ggf. kranieller Bildgebung, erweiterter Blut- und Liquordiagnostik. Bei bestätigten BPSD: Suche nach ursächlichen oder auslösenden Stressoren, z. B. Schmerzen, Infektionen, Unbehagen oder Überforderung durch fehlgeleitete Kommunikation, ungünstige Umweltfaktoren.
  • Therapie:An erster Stelle steht die Behandlung oder Beseitigung möglicher Ursachen und Auslöser. Psychosoziale und stimulierende Maßnahmen stehen an erster Stelle der Therapie und Prävention von BPSD. Nur wenn die durchführbaren nichtmedikamentösen Maßnahmen ausgeschöpft sind, kommt eine möglichst kurzfristige Behandlung mit Psychopharmaka infrage. Deren begrenzter therapeutischer Nutzen ist mit dem bei manchen Substanzen erheblichen Nebenwirkungsrisiko abzuwägen.

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-2

Definition

  • Verhaltensauffälligkeiten und psychische Symptome bei Demenz (Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia, BPSD) gehören zu den charakteristischen Symptomen der Erkrankung.
    • Sie treten bei jedem Demenzkranken zu irgendeinem Zeitpunkt im Krankheitsverlauf auf.
  • Zu den BPSD zählen:
  • Das Auftreten von BPSD variiert in Häufigkeit, Dauer und Intensität über die verschiedenen Krankheitsstadien.

Häufigkeit

  • Prävalenz BPSD
    • Rund 70 % aller in Pflegeeinrichtungen wohnenden Demenzkranken
    • psychotische Symptome bei 15‒75 % aller an Alzheimer erkrankten Menschen
  • Abhängig vom Stadium
    • BPSD können in allen Stadien der Demenzerkrankung auftreten, aber die Häufigkeit nimmt zu, wenn die Krankheit fortschreitet.
    • Bei weit fortgeschrittener, schwerer Demenz nimmt die Häufigkeit wieder ab, was damit zusammenhängen kann, dass die Betroffenen meist so umfassende kognitive und körperliche Beeinträchtigungen erleiden, dass die BPSD nicht in gleichem Maße in Erscheinung treten wie vorher.
    • BPSD können starke Fluktuationen zeigen oder über Jahre anhalten.
  • Folgen
    • BPSD sind für die Angehörigen und Pflegenden oft außergewöhnlich belastend und erhöhen bei ihnen das Risiko für psychische und somatische Folgeerkrankungen.

Zusammenhang mit verschiedenen Demenzarten

  • BPSD kommt bei allen Demenzarten vor, doch die Verteilung der einzelnen Symptome kann variieren.
  • Lewy-Körperchen-Demenz
    • besonders häufig visuelle Halluzinationen
    • Die Betroffenen reagieren auf Neuroleptika häufig mit einer starken Verschlechterung der motorischen und kognitiven Funktionen.
  • Frontotemporale Demenz (M. Pick)
    • In frühen Stadien dominieren häufig Verhaltensauffälligkeiten das Symptombild, z. B. Enthemmung, unangemessenes Sozialverhalten, Apathie, Aggressivität.

Ätiologie und Pathogenese

  • Biologische und psychische Faktoren sowie Umweltfaktoren tragen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von BPSD bei.
  • Neurobiologische Veränderungen
    • Konzentrationsänderungen zerebraler Neurotransmitter sind mit unterschiedlichen BPSD assoziiert.
    • Regionaler Zellverlust und das Vorkommen bestimmter neuropathologischer Marker, wie z. B. neurofibrilläre Bündel, gehen mit Apathie und psychotischen Symptomen einher.
    • Genetische Varianten von Dopamin- und Serotoninrezeptoren gehen gehäuft mit Aggressivität, Agitiertheit und psychotischen Symptomen einher.
  • Umweltfaktoren – können BPSD auslösen und verstärken, z. B.:
    • ein Umzug (z. B. von zu Hause in eine Pflegeeinrichtung)
    • scheinbar triviale Details in der Umgebung, wie im Heim neu aufgenommene Personen oder das Umstellen von Mobiliar
    • Überforderung oder Überreizung durch ungünstige Interaktion mit Verwandten und anderen Betreuungspersonen.
  • Somatische Erkrankungen und Medikamenteneinnahme – können BPSD auslösen oder verstärken.
    • auch banale Erkrankungen wie eine leichte Infektion, Obstipation oder Urinretention
  • Schmerzen – können BPSD auslösen.
    • Werden, besonders bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz, häufig als BPSD fehlgedeutet und -behandelt.

ICPC-2

  • P70 Demenz

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 20213
    • F00 Demenz bei Alzheimer-Krankheit (G30.-)
    • F01 Vaskuläre Demenz
    • F02 Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
    • F03 Nicht näher bezeichnete Demenz
  • Subklassifikationen siehe Artikel Demenzsymptome.

Diagnostik

  • Die Erfassung von BPSD ist ein unverzichtbarer Bestandteil sowohl der Eingangs- als auch Verlaufsdiagnostik bei Demenz.
  • Näheres zum diagnostischen Vorgehen bei Demenz und ein diagnostisches Stufenschema siehe die Artikel Demenzsymptome und Demenzassessment.

Differenzialdiagnosen

  • Näheres zur Differenzialdiagnose von Demenzerkrankungen siehe Artikel Demenzsymptome.
  • Organische Erkrankung
    • Schmerzen?
    • Eingeschränktes Hör- oder Sehvermögen?
  • Besonders bei Agitiertheit
    • Somatische Grunderkrankung, z. B. Infektion?
    • Schmerzen?
    • Hunger?
    • Durst?
    • Abstinenz/Entzug?
  • Medikamenteninduzierte Demenzsymptome einschließlich BPSD sind bei Älteren häufig und können z. B. unter folgenden Medikamenten auftreten:
    • Anticholinergika (Spasmolytika)
    • trizyklische Antidepressiva
    • Parkinson-Medikamente
    • Hypnotika
    • Neuroleptika
    • Opioide
    • Betablocker
    • Antikonvulsiva
    • Antihistaminika (einschließlich H2-Antagonisten)
    • Kortikosteroide.
  • Bei Menschen in Pflegeeinrichtungen, die meist mehrere somatische Erkrankungen aufweisen und eine feste Medikation mit mehreren Arzneimitteln erhalten, kommt ein hirnorganisches Psychosyndrom häufig vor und lässt sich oft schwer von BPSD unterscheiden.

Anamnese

  • Neben der Eigenanamnese ist die Fremdanamnese von Angehörigen und Pflegenden unverzichtbar.
  • Depressive und psychotische Symptome äußern sich bei Demenzkranken oft anders als bei älteren Menschen ohne Demenz.

Depressive Symptome

  • Evtl. schwierige Abgrenzung Depression vs. beginnende Demenz
    • Eine Depression kann mit kognitiven Defiziten einhergehen und als Demenz fehlgedeutet werden.
    • bei Demenz meist:
      • keine schwere Depressivität
      • Stimmungsschwankungen
      • Rückzug
      • Aggressivität.

Psychotische Symptome

  • Wahrnehmungsstörungen aufgrund kognitiver Defizite, wie zeitliche oder örtliche Desorientierung, sind manchmal schwer von psychotischen Symptomen zu unterscheiden.
  • Visuelle Halluzinationen
  • Wahnvorstellungen bei Demenz
    • meist einfach und selten bizarr
    • typische Beispiele
      • Die betroffene Person wähnt sich als bestohlen.
      • Eifersuchtswahn

Aggressivität

  • Wird von Angehörigen häufig als das schwerwiegendste Problem erlebt.
  • Kann mit psychotischer Wahrnehmung verbunden oder Ausdruck einer Depression sein.
  • Kommt häufig als Angstreaktion bei der Körperpflege oder bei anderen Prozeduren auf, gegen die die betroffene Person sich wehrt, weil sie nicht versteht, was passiert.
  • Bei zielgerichtetem und manchmal unberechenbarem aggressivem Verhalten liegen meist neurodegenerative Veränderungen im Frontallappen vor. Siehe auch den Artikel Frontotemporale Demenz.

Apathie

  • Häufig übersehenes Symptom, ebenso:
    • emotionale Gleichgültigkeit
    • eingeschränktes Interesse
    • fehlende Motivation.
  • Diese Symptome können Anzeichen einer schweren Begleiterkrankung sein.
  • Evtl. schwierige Abgrenzung zur Depression
    • Häufig fehlt die anhaltend gedrückte Stimmung – ein Hauptsymptom der Depression.

Agitiertheit

  • Ziellose verbale, vokale oder motorische Aktivität, wie:
    • Umherwandern
    • Zupfen an der Kleidung
    • Rufen.
  • Hält meist lange an.
  • Oft therapieresistent
  • Meist ein Ausdruck von Unbehagen, z. B. Schmerz (Ursachensuche!)

Klinische Untersuchung

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Labordiagnostische Basis- und Zusatzuntersuchungen bei Demenz siehe Artikel Demenzsymptome.
  • EKG – besonders vor Beginn einer Behandlung mit Psychopharmaka

Tests

Diagnostik bei Spezialist*innen

Indikationen zur Überweisung

  • Personen mit Verhaltensauffälligkeiten und schweren psychiatrischen Symptomen: Überweisung an Psychiater*in, ggf. mit gerontopsychiatrischem Schwerpunkt
  • Weitere Indikationen siehe Artikel Demenzsymptome.

Therapie

Allgemeines

  • Gründliche psychopathologische Diagnostik
  • Zielsymptome eingrenzen.
  • Realistische Ziele definieren.
  • Fortlaufende Verlaufskontrollen
  • Enge Zusammenarbeit zwischen ärztlichem und pflegerischem Personal
  • Validierte Dokumentationssysteme können hilfreich sein.

Nichtpharmakologische Behandlung

Allgemeine Hinweise

  • Ursachenorientiert vorgehen.
  • Somatische Ursachen erkennen und behandeln, z. B.:
    • Infektionskrankheiten
    • Obstipation
    • Urinretention
    • Schmerzen, z. B. der Zähne
    • beeinträchtigtes Hör- oder Sehvermögen.
  • Alle verfügbaren psychosozialen Interventionen ausschöpfen.
    • Ungünstige Interaktionen mit Angehörigen oder Pflegenden?
    • Keine Schuldzuweisungen – von „herausforderndem Verhalten“ sprechen.
      • D. h. an erster Stelle sind die umgebenden Personen der erkrankten Person gefordert, ihr Verhalten und die Umgebung zu überdenken und anzupassen.
      • Es wird dabei anerkannt, dass das Verhalten der Patient*innen Ausdruck einer für sie unangenehmen, schwierigen oder ängstigenden Situation ist.
    • psychosoziale vor medikamentösen Interventionen
      • Durch intensive psychosoziale Maßnahmen einschließlich Modifikation von Umgebungsfaktoren kann die Antipsychotikamedikation erheblich reduziert werden.
      • Laut einer Metaanalyse haben multidisziplinäre Versorgung und Massage- oder Berührungstherapie und Musik in Kombination mit Massage oder Berührung besseren Effekt als eine medikamentöse Therapie gegen Agitiertsein und Aggressivität.4
    • wahrscheinlich auch präventiv wirksam
  • Edukations- und Unterstützungsprogramme für Pflegende und Betreuende
    • Reduzieren depressive Symptome bei Demenz (Ib/B).
      • Patientenzentrierte Maßnahmen konnten in randomisiert kontrollierten Studien in Pflegeeinrichtungen bei Demenzkranken agitiertes Verhalten reduzieren. Die Wirkung war unmittelbar nach Beginn und bis zu 6 Monaten nach Ende der Intervention nachweisbar.5
    • Folgende Interventionen erwiesen sich als wirksam:
      • personenzentrierte Pflege
      • Kommunikationstraining des Personals
      • Erfassung von Reaktionsmustern der Bewohner*innen mit spezifischen Interventionen in Triggersituationen.
  • Weitere psychosoziale Interventionen, für die es Wirksamkeitsbelege bei BPSD gibt und die daher empfohlen werden:1
    • validierendes Verhalten
      • Dabei geht es um eine wertschätzende Haltung, die der betroffenen Person das Gefühl gibt, verstanden und akzeptiert zu werden.
    • Erinnerungspflege
      • In einer konfliktfreien Atmosphäre werden mithilfe von bestimmten Aktivitäten positive Erinnerungen angestoßen, belebt und ausgetauscht.
      • als Einzel- oder Gruppenintervention
    • basale Stimulation
      • Konzept menschlicher Begegnung
      • Bietet individuelle Möglichkeiten und Anregungen zur heilsamen verbalen und nonverbalen Kommunikation mit den Betroffenen.
      • Gefördert werden sollen Gesundheit und Wohlbefinden, Bildung und Partizipation sowie Selbstbestimmung der Patient*innen.
    • Snoezelen
      • multisensorisches Verfahren mit individualisierten, biografiebezogenen Stimuli im 24-Stunden-Ansatz 
      • körperliche Berührung
      • Bewegungsförderung.
  • Essverhalten
    • Familienähnliche Esssituationen, verbale Unterstützung und positive Verstärkung können das Essverhalten von Menschen mit Demenz verbessern (Ib/B).1
  • Musiktherapie1,5-6
    • Es gibt Hinweise, dass aktive Musiktherapie günstige Effekte auf BPSD hat, insbesondere auf Angst. Sie kann bei entsprechender Symptomatik angeboten werden (IIa/C).
    • Rezeptive Musiktherapie, insbesondere das Vorspielen von Lieblingsmusik mit biografischem Bezug kann in begrenztem Maß agitiertes und aggressives Verhalten reduzieren. Sie kann empfohlen werden (III/C).
    • Scheint in der akuten Situation wirksam zu sein.
  • Aromatherapie
    • Kann geringe Effekte auf agitiertes Verhalten und allgemeine Verhaltenssymptome bei Menschen mit mittelgradiger bis schwerer Demenz haben. Sie kann empfohlen werden (Ib/C).1,5,7
  • Lichttherapie
    • keine ausreichenden Wirksamkeitsbelege bei Menschen mit Demenz (Ib)1,5,8
    • Zur Behandlung depressiver Symptome siehe Artikel Depression.

Medikamentöse Therapie

Allgemeines1-2

  • Rund 60 % der Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen nehmen täglich Psychopharmaka ein.
    • Angesichts der begrenzten Wirksamkeitsbelege aus Studien erscheint eine solche breite Verwendung nicht gerechtfertigt.
  • Indikationen
    • Wenn psychosoziale Interventionen, einschließlich Anpassung von Umgebungsfaktoren, nicht effektiv, nicht ausreichend oder nicht verfügbar sind.
    • Bei Eigen- oder Fremdgefährdung, die nicht anders abwendbar ist.
  • Setzt das Einverständnis der behandelten Person voraus.
    • Ausnahme: Akute Selbst- oder Fremdgefährdung, die sich durch keine anderen Maßnahmen als solche gegen den Willen der erkrankten Person abwenden lässt.
    • ggf. Vorsorgevollmacht oder Betreuung
  • Eine Optimierung der nichtmedikamentösen und ggf. medikamentösen Schmerztherapie reduziert Agitiertheit und allgemeine neuropsychiatrische Symptome.9
    • Opioide können BPSD auslösen oder verstärken.
  • Eine Pharmakotherapie darf nicht im ausschließlichen Interesse Dritter stattfinden.
  • Überprüfung der Behandlungsnotwendigkeit nach 4–8 Wochen

Welche Medikamente sind ungeeignet?1-2

  • Anticholinerge Substanzen
    • z. B. Amitriptylin, Tiotropium, Scopolamin und Oxybutynin
    • Gehören zu den häufigsten Ursachen für kognitive Störungen.
    • Können ein Delir hervorrufen.
    • Bevor Menschen mit Demenz medikamentös behandelt werden, soll nach Möglichkeit eine Medikation mit anticholinergen Substanzen beendet werden.10
  • Sedativa, z. B. Benzodiazepine
    • Beeinträchtigen die kognitive Leistung.
    • Können die Sturzgefahr erhöhen.
  • Ebenfalls ungeeignet:
    • Betablocker
    • SSRI
    • typische Neuroleptika wie Haloperidol (s. u.).
  • Allgemeine Verfahrensweisen zur Medikamentenauswahl und Dosierung, die bei der Anwendung psychotroper Medikation bei älteren Menschen zu beachten sind, gelten bei Demenzkranken in besonderem Maße. Für ältere Menschen nicht geeignete Medikamente sind in der PRISCUS-Liste aufgeführt: online auf aerzteblatt.de; S. 546 ff.11
  • Pharmakologische Interaktionen von Medikamenten sind zu beachten.

Antidementiva1

  • Näheres zur Wirksamkeit, Verträglichkeit, Sicherheit und Anwendung der einzelnen Substanzen in der Behandlung kognitiver Symptome: Siehe Artikel Demenzsymptome.
  • Verhaltenssymptome werden durch die Gabe von Galantamin und evtl. von Donepezil bei leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz positiv beeinflusst.
  • Bei mittelschwerer bis schwerer Demenz gibt es keinen Hinweis für einen positiven Effekt von Acetylcholinesterasehemmern auf Verhaltenssymptome.
  • Memantin beeinflusst Verhaltenssymptome bei moderater bis schwerer Alzheimer-Demenz mit geringer Effektstärke.
  • Zur pharmakologischen Behandlung psychotischer Symptome bei Lewy-Körperchen-Demenz und Demenz bei M. Parkinson gibt es für Rivastigmin Hinweise für Wirksamkeit.12
  • Bei der Lewy-Körperchen-Demenz gibt es Hinweise für Effekte von Memantin auf Verhaltenssymptome.

Neuroleptika (Antipsychotika)1-2

  • Führen bei Demenzkranken wahrscheinlich zu einem erhöhten Risiko für Mortalität und für zerebrovaskuläre Ereignisse.
    • Es besteht wahrscheinlich ein differenzielles Risiko, wobei Haloperidol das höchste und Quetiapin das geringste Risiko hat.
    • Das Risiko ist in den ersten Behandlungswochen am höchsten, besteht aber wahrscheinlich auch in der Langzeitbehandlung.
  • Wahrscheinlich erhöhen Neuroleptika bei Demenz das Risiko für beschleunigte kognitive Verschlechterung.
  • Behandelte und rechtliche Vertreter*innen über die Risiken der Therapie aufklären.
  • Neuroleptika möglichst niedrig dosiert und über einen möglichst kurzen Zeitraum einsetzen.1-2
  • Behandlungsverlauf engmaschig kontrollieren (Ia und III).
  • Nach diagnostischer Abklärung kann ein Delir bei Demenz mit Antipsychotika behandelt werden. Antipsychotika mit anticholinerger Nebenwirkung sollen vermieden werden.
  • Bei Menschen mit Parkinson-Demenz, Lewy-Körperchen-Demenz und verwandten Erkrankungen
    • Klassische und viele atypische Neuroleptika sind kontraindiziert, da sie Parkinson-Symptome verstärken und Somnolenzattacken auslösen können.
    • Bei diesen Erkrankungen können Clozapin und – weniger gut durch Studien belegt – Quetiapin eingesetzt werden.
  • Risperidon
    • Sollte bevorzugt werden, wenn zur Behandlung von agitiertem und aggressivem Verhalten Antipsychotika erforderlich sind (Ia/B).
    • Bei schwerer psychomotorischer Unruhe, die zu deutlicher Beeinträchtigung der betroffenen Person und/oder der Pflegenden führt, kann ein zeitlich begrenzter Therapieversuch mit Risperidon im Rahmen einer Off-label-Anwendung empfohlen werden (II/C).
    • Falls eine Behandlung mit Antipsychotika bei psychotischen Symptomen wie Wahn oder Halluzinationen notwendig ist, wird eine Behandlung mit Risperidon empfohlen (Ia/B). Besonders zu beachtende Risiken:13
    • Dosierung
      • einschleichend mit 0,5 mg
      • Höchstdosis 2 mg
  • Niedrigpotente, sedierende Neuroleptika
    • Können zur Behandlung von Agitiertheit mit aggressiven Verhalten eingesetzt werden.
    • Dosierung
      • Melperon 50–100 mg/d; ggf. schrittweise über mehrere Tage steigern auf maximal 400 mg.
      • Pipamperon 3 x 20–40 mg; ggf. langsam und unter regelmäßiger Blutdruckkontrolle steigern auf maximal 3 x 120 mg.
  • Haloperidol
    • Wird wegen fehlendem Wirksamkeitsnachweis nicht zur Behandlung von Agitiertheit empfohlen. Besonders zu beachtende Risiken:
      • extrapyramidale Nebenwirkungen
      • zerebrovaskuläre Ereignisse
      • Mortalität.
    • Nur bei zusätzlichem Delir einsetzen.2

Antikonvulsiva1-2

  • Es gibt Hinweise auf eine günstige Wirkung von Carbamazepin auf Agitiertheit und Aggressivität. Carbamazepin kann nach fehlendem Ansprechen anderer Therapien als Off-Label-Behandlung eingesetzt werden. Es ist auf Medikamenteninteraktionen zu achten (Ib/C).
  • Eine Behandlung von Agitiertheit und Aggressivität mit Valproat wird nicht empfohlen (Ib/B).

Zwangsmaßnahmen nur als Ultima Ratio

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Abschnitt auf diesen Referenzen.2,14-16
  • Zwangsmaßnahmen wie Festhalten, Fixierung oder Zwangseinweisung in eine geschlossene gerontopsychiatrische Abteilung können Angst und Aggressivität erheblich steigern sowie zu psychischer Traumatisierung sowohl der betroffenen als auch der ausführenden Personen beitragen.
    • Sie sollten daher als absolute Ultima Ratio gelten. Da sie einen erheblichen Einschnitt in die Freiheitsrechte der betroffenen Person bedeuten, sind sie nur unter eng definierten Grenzen erlaubt.
  • Eine ärztliche Behandlung gegen den natürlichen Willen der Behandelten
    • ist grundsätzlich nur in einer stationären Einrichtung zulässig. Bei Betroffenen, die nicht so weit in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, dass sie sich einer Zwangsbehandlung entziehen könnten, erfordert dies die Einweisung in eine geschlossene Krankenhausabteilung. Unter welchen Voraussetzungen diese erfolgen kann, ist im Einzelnen in länderspezifischen Unterbringungsgesetzen (PsychKG oder UBG) geregelt.
    • Die bisher bestehende Gesetzeslücke, die bewirkte, dass immobile psychisch Kranke nicht gegen ihren natürlichen Willen behandelt werden konnten17, wurde durch eine Änderung des Betreuungsrechts im Juli 2017 geschlossen.18-19
    • Ausführlichere Informationen dazu sind im Artikel Akute Eigen- und Fremdgefährdung zu finden.

Deeskalation

  • Psychiatrische Konfliktforscher*innen raten, mit Personen, die zu aggressivem Verhalten neigen, möglichst viel und offen zu sprechen.14
    • Das gilt besonders auch während und unbedingt nach erfolgtem Einsatz von körperlichem Zwang oder Fixierung.
    • Wenn Zwangsmaßnahmen in Erwägung gezogen werden, sollen die Betroffenen und ggf. Angehörigen soweit wie möglich in die Behandlungsplanung miteinbezogen werden.
    • Regelmäßig im Team anhand von konkreten Vorfällen über Möglichkeiten nachdenken, wie zukünftig anders reagiert und früher deeskaliert werden könnte.
  • Beispiele für deeskalierende Maßnahmen15
    • verbale Deeskalation „Talking down“
      • Zuhören.
      • Interesse an der Person und Verständnis für ihre Situation signalisieren.
    • Gespräche mit anderen anbieten, z. B.:
      • Heimleitung
      • ärztliche Leitung
      • Seelsorge
      • offizielle Ansprechpersonen der Betroffenen
      • Freund*innen
      • Verwandte
      • andere Vertrauenspersonen.
    • Verbal Grenzen setzen.
      • Verhalten, das unerwünscht und nicht tolerabel ist, eindeutig benennen.
    • Ein Getränk anbieten oder
      • Essen
      • eine Süßigkeit
      • eine Zigarette.
    • Ein Medikament anbieten.
    • „Time out“ im eigenen Zimmer anbieten, im Garten, in der Klinikkapelle o. Ä.
    • Ein warmes Bad anbieten.
    • Die Betroffenen in eine Tätigkeit einbinden, auf Station oder im Garten.
    • Bewegung anbieten (Tischtennis, Laufen o. Ä.).

Fixierung16

  • Eine Fixierung darf nur unter folgenden Voraussetzungen erfolgen:
    • Notfall mit erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung und fehlender Geschäfts- oder Einwilligungsfähigkeit
    • nur nach ärztlicher Anordnung und sorgfältiger Indikationsstellung
    • Sie ist nur dann legal, wenn sie aus Notwehr oder bei Notstand erfolgt oder richterlich angeordnet ist.
    • Alternative Strategien zur Deeskalation abwägen.
    • Verhältnismäßigkeit beachten.
    • Fixierte Personen bedürfen der kontinuierlichen Überwachung.
    • Indikation, Art und Dauer der Fixierung dokumentieren.
    • Für längere oder regelmäßige Fixierungen braucht man eine richterliche Genehmigung.

Sedierung als „chemische Fixierung“?16

  • Grundsätzlich gelten für die „chemische Fixierung“ ähnlich restriktive Voraussetzungen wie für die mechanische Fixierung.
  • Zudem ist eine zwangsweise Verabreichung von Medikamenten nach derzeitiger Rechtslage nur nach Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung zulässig (s. o.).
  • Sedierende Substanzen ohne therapeutischen Zweck, ausschließlich zur Immobilisierung, sind nur unter Bedingungen einer Intensivstation zu rechtfertigen: Mit lückenloser Überwachung, um eine sachgerechte Betreuung und Pflege der betroffenen Person zu gewährleisten und Nebenwirkungen rechtzeitig zu erkennen.
    • Die Grenze zwischen therapeutischer Indikation, erwünschten sedierenden Nebenwirkungen und überwiegender Absicht der „Ruhigstellung“ ist in der Praxis jedoch oft fließend.
  • Medikamente mit sedierender Wirkung haben bei Demenzkranken erhebliche Nachteile: Sie beeinträchtigen die kognitive Leistung und erhöhen die Sturzgefahr.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Demenzen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-013. S3, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-022. S3, Stand 2018. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. S3-Leitlinie Demenzen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-013, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org
  2. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-022. S3, Stand 2018. www.awmf.org
  3. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2021. Stand 18.09.2020; letzter Zugriff 08.12.2021. www.dimdi.de
  4. Watt JA, Goodarzi Z, Veroniki AA, et al. Comparative Efficacy of Interventions for Aggressive and Agitated Behaviors in Dementia: A Systematic Review and Network Meta-analysis. Ann Intern Med 2019; 171: 633-42. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Livingston G, Kelly L, Lewis-Holmes E, et al. Non-pharmacological interventions for agitation in dementia: systematic review of randomised controlled trials. BJPsych 2014. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Chang YS, Chu H, Yang CY, et al. The efficacy of music therapy for people with dementia: A meta-analysis of randomised controlled trials. J Clin Nurs 2015. doi:10.1111/jocn.12976 DOI
  7. Forrester LT, Maayan N, Orrell M, et al. Aromatherapy for dementia. Cochrane Database of Syst Rev 2014; 2: CD003150. doi:10.1002/14651858.CD003150.pub2 DOI
  8. Forbes D, Blake CM, Thiessen EJ, et al. Light therapy for improving cognition, activities of daily living, sleep, challenging behaviour, and psychiatric disturbances in dementia. Cochrane Database Syst Rev. 2014;2:CD003946. doi: 10.1002/14651858.CD003946.pub4. DOI
  9. Husebo BS, Ballart C, Sandvik R, et. al. Efficacy of treating pain to reduce behavioural disturbances in residents of nursing homes with dementia: cluster randomised clinical trial. BMJ 2011; 343: d4065. BMJ (DOI)
  10. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). Hausärztliche Versorgung. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie. S3-Leitlinie Demenzen. Stand Januar 2016; AWMF-Leitlinie Nr. 038-013. www.awmf.org
  11. Holt S, Schmiedl S, Thürmann P. Potenziell inadäquate Medikation für ältere MenschenDie PRISCUS-Liste. Dtsch Arztebl Int 2010; 107: 543-51. DOI: 10.3238/arztebl.2010.0543 DOI
  12. Rolinski M, Fox C, Maidment I, McShane R. Cholinesterase inhibitors for dementia with Lewy bodies, Parkinson's disease dementia and cognitive impairment in Parkinson's disease. Cochrane Database Syst Rev 2012; 3:CD006504. PMID:22419314 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  13. Wenzel-Seifert K, Ostermeier CP, Ben Omar N, Haen E, Arbeitsgemeinschaft Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen (AGATE e.V.). Psychopharmakotherapie 2013;20:148–57. www.amuep-agate.de
  14. Heim, TM. Blicke über den Tellerrand und der Griff an die eigene Nase. InFo Neurologie 2013; 15: 56. doi:10.1007/s15005-013-0272-6 DOI
  15. Auert et al. Leitlinien für den Umgang mit der Erstbegegnung eines Patienten mit Psychiatrischen Kliniken/ Fachabteilungen. yumpu.com ; letzter Zugriff 08.12.2021 www.yumpu.com
  16. Fogel D, Steinert T. Aggressive und gewalttätige Patienten – Fixierung. Lege artis 2012; 2: 28–33 www.thieme.de
  17. Bundesverfassungsgericht Pressemitteilung Nr. 59/2016 vom 25. August 2016: Die Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung auf untergebrachte Betreute ist mit staatlicher Schutzpflicht nicht vereinbar. www.bundesverfassungsgericht.de
  18. Gesetz zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten. Bundesgesetzblatt, 17. Juli 2017; S. 2426-28. [url]https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*[@attr_id=%27bgbl117s2426.pdf%27]#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl117s2426.pdf%27%5D__1507394953077[/url] www.bgbl.de
  19. Leonhard B, Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. Voraussetzungen für die ärztliche Zwangsbehandlung werden neu gefasst. Veröffentlichung 06.07.2017 (letzter Zugriff 07.10.2017). www.bundestag.de

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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