Zusammenfassung
- Definition:Einnahme von Betablockern in toxischer Dosis.
- Häufigkeit:Seltene Ursache für Vergiftungen.
- Symptome:Schwindel, Bewusstseinsminderung, Krämpfe.
- Befunde:Hypotonie, bradykarde Rhythmusstörungen. Evtl. Hypoglykämie.
- Diagnostik:Diagnosestellung im Allgemeinen durch Eigen-/Fremdanamnese und klinischen Befund. Im Einzelfall Spiegelbestimmung.
- Therapie:Bei schwerer Intoxikation intensivmedizinische Behandlung. Medikamentöse Optionen sind u. a. Atropin, Katecholamine, Glukagon, hochdosiertes Insulin. Passagerer Herzschrittmacher bei medikamentös nicht beherrschbarer Bradykardie. Im Einzelfall Hämodialyse bei hydrophilen Betablockern.
Giftnotrufzentralen
Ort |
Region |
Telefon |
Website |
Berlin |
B, BRA |
030 19240 |
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Bonn |
NRW |
0228 19240 |
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Erfurt |
MV, SAC, SAN, THÜ |
0361 730730 |
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Freiburg |
BW |
0761 19240 |
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Göttingen |
HB, HH, NDS, SHO |
0551 19240 |
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Homburg/Saar |
SAL |
06841 19240 |
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Mainz |
RLP, HES |
06131 19240 |
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München |
BAY |
089 19240 |
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Wien |
A |
+43 1 4064343 |
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Zürich |
CH |
145 (in CH), +41 44 2515151 |
Allgemeine Informationen
Definition
- Einnahme eines Betablockers in Überdosis mit schädigender Wirkung auf den Organismus
- Mögliche Ursachen einer Intoxikation sind:
- akzidentelle Einnahme ohne bestehende Therapieindikation (vor allem durch Kinder)
- versehentliche Einnahme einer zu großen Dosis bei indizierter Betablockertherapie
- Einnahme in suizidaler Absicht.
Häufigkeit
- Vergiftungen mit herzwirksamen Medikamenten (Betablocker, Ca-Antagonisten, Digitalispräparate, Antiarrhythmika) sind im Vergleich zu anderen Arzneimitteln seltener.1
- In einer Analyse einer deutschen Giftzentrale wurden in einem 10-Jahres-Zeitraum (2001–2011) bei 2.967 Fällen von Betablockereinnahme folgende Wirkstoffe in absteigender Reihenfolge berichtet: Metoprolol, Bisoprolol, Atenolol, Propranolol und Sotalol.2
- Schwere Intoxikationen mit Notwendigkeit der intensivmedizinischen Behandlung oder sogar tödlichem Ausgang kommen vor, sind aber eher selten.3-5
- In der Schweiz wurden im Jahr 2015 von 206 schweren Medikamentenvergiftungen 2 durch Betablocker verursacht.6
Pathophysiologie
Auswirkungen der Betablockade
- Durch die Blockade von Beta-1- und Beta-2-Rezeptoren werden verschiedene Organe und Gewebe beeinflusst, u. a.:7
- Herz
- negativ inotrop
- negativ chronotrop
- negativ dromotrop
- Gefäße
- Vasokonstriktion
- Atemwege
- Bronchokonstriktion
- Pankreas
- Hemmung der Insulinfreisetzung
- Muskel
- Hemmung der Glykogenolyse (Hypoglykämie vor allem bei Kindern)
- Fettgewebe
- Hemmung der Lipolyse
- ZNS
- Passage der Bluthirnschranke vor allem durch lipophile Betablocker (z. B. Propranolol)
- Benommenheit und Schwindel, aber auch Erregung und Krampfanfälle
Zeitliche Entwicklung
- Wirkbeginn nach 30 min bis mehreren Stunden7
- Bei ca. 80 % Symptombeginn innerhalb von 2 h, bei ca. 95 % innerhalb von 4 h nach Ingestion8
Klassifikation von Betablockern
- Betablocker können nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden, diese beeinflussen auch ihre Toxizität.
- Lipophile und nichtselektive Betablocker sind toxischer als hydrophile und selektive.9
Hydro-/Lipophilität
- Hydrophil: z. B. Atenolol, Sotalol
- Lipophil/hydrophil: z. B. Bisoprolol, Metoprolol, Nebivolol
- Lipophil: z. B. Propranolol
- Lipophile Substanzen passieren besser die Blut-Hirn-Schranke mit stärkerer zentraler Wirkung.
Kardioselektivität
- Kardioselektiv (vorwiegend Wirkung auf Beta-1-Rezeptoren): z. B. Metoprolol, Bisoprolol, Atenolol, Nebivolol
- Nichtselektiv: z. B. Propranolol, Sotalol, Carvedilol
Betablocker mit gefäßerweiternder Wirkung
- Beispielsweise Carvedilol, Labetalol: Wirken auch als Alphablocker.
- Beispielsweise Nebivolol: NO-freisetzend
Klinisches Bild
- Die Ausprägung des klinischen Bildes variiert abhängig vom Ausmaß der Überdosierung und der Art des Betablockers:
- Herz
- Bradykardie
- Blutdruck
- ZNS
- Atemwege
- Spastik
- Niere
- Oligurie
- Stoffwechsel
- Zeichen der Hypoglykämie
ICPC-2
- A84 Vergiftung durch medizinische Substanz
ICD-10
- T36–T50 Vergiftungen durch Arzneimittel, Drogen und biologisch aktive Substanzen
- ATC-Code: C07A
Diagnostik
Anamnese
- Eingenommene Substanz
- Retard-Präparat?
- Dosis (tatsächliche oder maximal mögliche, z. B. anhand von Packungen)
- Zeitpunkt der Ingestion
- Einnahme weiterer Substanzen
- Erkrankungen mit Einfluss auf die Ausscheidung/Metabolisierung (Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz)
- Sonstige Vorerkrankungen
Klinische Untersuchung
- ZNS – Bewusstseinszustand
- bei schwerer Betablocker-Intoxikation meist Bewusstseinstrübung, bei Ca-Antagonisten oft trotz schwerer Hypotonie wach10
- Bewusstseinsminderung kann Folge einer direkten Toxizität, eines verminderten kardialen Auswurfs oder einer induzierten Hypoglykämie sein.
- Herzkreislauf
- Puls, Rhythmus
- Blutdruck
Ergänzende Untersuchungen
EKG
- Im Vordergrund stehen bradykarde Rhythmusstörungen
- Sinusbradykardie
- AV-Block Grad I, Grad II, Grad III
- Ersatzrhythmen: AV-Knoten-Rhythmus, idioventrikulärer Rhythmus
- Asystolie
- QRS-Verbreiterung
- Sotalol verlängert das QT-Intervall und kann zu Torsade-de-Pointes-Tachyarrhythmien führen.
Labor
- Blutzucker (Hypoglykämien vor allem bei Kindern)7
Ergänzende Untersuchungen in der Klinik
Labor
- Spiegelbestimmung der eingenommenen Substanz
Echokardiografie
- Bei schwerer Intoxikation global reduzierte ventrikuläre Funktion
Kontaktaufnahme mit der Giftzentrale
- Durch die Giftnotzentralen ist eine kompetente Einschätzung der Vergiftungssituation gewährleistet.
- Ingestionen mit Betablockern sollten immer – insbesondere aber auch bei Kindern – ernst genommen und ein Giftinformationszentrum konsultiert werden.11
- Anrufer*innen sollten folgende Informationen bereithalten:12-13
- Alter und Geschlecht
- Körpergewicht
- möglichst genaue Bezeichnung der Substanz
- ungefähre oder maximal ingestierte Menge
- Latenz der Ingestion (wichtig für die Indikation zur primären Giftentfernung)
- grob orientierende klinische Untersuchung, Vitalparameter
- ggf. Vorerkrankungen
Indikation zur Krankenhauseinweisung
- Symptomatische Intoxikation
- Einnahme hoher oder unklarer Dosis, auch wenn noch asymptomatisch
Therapie
Allgemeines zur Therapie
- Komponenten der Behandlung sind:
- Erstmaßnahmen
- Entgiftung
- medikamentöse Therapie
- ergänzende Maßnahmen.
Erstbeurteilung und -versorgung
- Die prästationären Maßnahmen bei schwerer Intoxikation entsprechen den allgemeinen Notfallmaßnahmen zur Sicherung der Vitalfunktionen.14
- Die Erstbeurteilung und -versorgung sollte daher nach dem ABCDE-Schema erfolgen:7
- Airway (Atemwege)
- Breathing (Atmung)
- Circulation (Kreislauf)
- Disability (Neurologie)
- Exposure (Ganzkörperuntersuchung).
Entgiftung
Primäre Giftelimination
Magenspülung
- Indikation innerhalb der ersten Stunde nach Ingestion einer lebensbedrohlichen Dosis15
- üblicherweise nicht am Einsatzort, in der Klinik evtl. unter Intubationsschutz
Aktivkohle
- Betablocker gehören zu den Substanzen, die durch Aktivkohle absorbiert werden.16
- Applikation frühestmöglich innerhalb 1 Stunde (bei Retardpräparaten bis zu 6 Stunden) nach Ingestion16
- Gabe nur bei fehlender Bewusstseinstrübung bzw. nach Sicherung der Atemwege
- Aktivkohle kann auch von medizinischen Laien nach Rücksprache mit einer Giftnotzentrale verabreicht werden (sofern keine Verzögerung anderer notwendiger Maßnahmen wie Transport ins Krankenhaus).16
Induziertes Erbrechen
Sekundäre Giftelimination
- Forcierte Diurese4
- Eine Hämodialyse ist im Einzelfall eine Option bei schwerer Intoxikation mit wasserlöslichen Betablockern (Atenolol, Sotalol).10,18
Medikamentöse Therapie
Atropin
- Behandlung der Bradykardie
Katecholamine
- Aufgrund der blockierten Betarezeptoren eingeschränkte Wirkung von Katecholaminen, evtl. hohe Dosen erforderlich
- Adrenalin oder Dopamin sind Katecholamine der 1. Wahl.7
- Noradrenalin durch Nachlasterhöhung eher ungünstig7
Phosphodiesteraseinhibitoren/Ca-Sensitizer
- Verbesserung der Inotropie, allerdings keine sichere Evidenz hinsichtlich des Nutzens18
- Option, wenn mit Katecholaminen keine ausreichende Stabilisierung19
Glukagon
- Fördert die Aktivität des sympathischen Nervensystems1
- Glukagon wirkt positiv inotrop, chronotrop und dromotrop.7
- Wirkung über Aktivierung der Adenylatcyclase unabhängig vom Betarezeptor
Kalzium
- Option bei schwerer Intoxikation, da es durch die Blockade der Betarezeptoren zu einer Abnahme der intrazellulären Kalziumkonzentration kommt.4
- Eine routinemäßige Gabe wird bei Betablocker-Intoxikationen nicht empfohlen20
- Nicht bei gleichzeitiger Digitalis-Intoxikation
Hochdosiertes Insulin (HIET = High Dose Insulin Euglycemic Therapy)
- Insulin wirkt positiv inotrop, dies beruht nicht auf einer Katecholaminfreisetzung und ist daher Betarezeptoren-unabhängig20
- Zahlreiche Fallberichte deuten auf hohe Wirksamkeit hin.1,21-22
- HIET stellt vermutlich effektive und nebenwirkungsarme Therapieoption dar.17
Hochdosierte Lipide
- Hochdosierte intravenöse Lipid-Therapie als Reservebehandlung7
- Diskutierte Wirkmechanismen sind Umverteilung von lipidlöslichen Betablockern oder Aktivierung von Kalziumkanälen.20
- Option bei Hypotonie ohne ausreichendes Ansprechen auf andere Therapien19
Weitere Maßnahmen
Herzschrittmacher
- Anlage eines passageren Herzschrittmachers bei medikamentös nicht beherrschbarer Bradykardie
Extrakorporale Verfahren
Prognose
- Überwiegend gute Prognose
- In den USA kam es 2019 bei knapp 28.000 berichteten Fällen zu 173 schweren Verläufen mit 19 Todesfällen.5
- Schlechte Prognose vor allem bei gleichzeitiger Einnahme von Ca-Antagonisten, Antidepressiva oder Neuroleptika23
Weitere Informationen
- GIFTNOTRUF- UND INFORMATIONSZENTREN
- Bieten zusätzliche Informationen für Ärzt*innen in Fällen von Vergiftungen
- Telefon rund um die Uhr: Telefonnummern und Adressen finden Sie hier.
Quellen
Literatur
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Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i.Br.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).