Sichelzellkrankheit

Zusammenfassung

  • Definition:Autosomal-rezessive Erbkrankheit mit anomalem Hämoglobin (HbS), die zu normozytärer hämolytischer Anämie unterschiedlichen Schweregrades führt. Folsäuremangel, Azidose, Hypoxämie, Dehydrierung und Infektionen disponieren für eine Sichelzellenkrise.
  • Häufigkeit:Signifikante geografische Variation in der Häufigkeit, im Äquatorgürtel Afrikas beträgt die Prävalenz von heterozygoten Träger*innen 10–30 %. In Deutschland wird jährlich bei etwa 300 Kinder und Erwachsene von der Sichelzellenerkrankung betroffen.
  • Symptome:Ikterus, Gallensteine, Hepatosplenomegalie, Wundheilungstörungen, Wachstumsverzögerung bei Kindern. Akute Episoden mit Schmerzen, Daktylitis, leichtem Fieber. Allgemeine Anämiesymptome wie Tachykardie, Fatigue, Kopfschmerz.
  • Befunde:Reduzierter Allgemeinzustand, ggf. Hepatosplenomegalie und die Folgen vorangegangener Gefäßverschlüsse.
  • Diagnostik:Laboruntersuchungen zeigen Hämolyse, Retikulozytose und HbS in der Hb-Elektrophorese. Der Blutausstrich zeigt eine große Menge an Sichelzellen.
  • Therapie:Bei allen Betroffenen mit HLA-identen Geschwistern ist die allogene Transplantation hämatopoetischer Knochenmarkstammzellen als einzige kurative Therapie indiziert. Bluttransfusionen bei aplastischen und hämolytischen Krisen. Je nach klinischem Bild symptomatische Prophylaxe oder Behandlung von Schmerzen, Dehydrierung, Folsäuremangel, Anämie, transfusionsbedingter Eisenüberladung.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Autosomal-rezessive erbliche Erkrankung mit anomalem Hämoglobin (HbS), der zu normozytärer hämolytischer Anämie unterschiedlichen Schweregrades führt.
  • Unter diesen Bedingungen kommt es zu einer charakteristischen molekularen Veränderung des Hämoglobins, die wiederum zur namensgebenden Formveränderung des Erythrozyten führt. Die pathologischen Erythrozyten haben eine verkürzte Überlebenszeit und führen über Endothelschäden zu akuten Episoden mit rezidivierenden Gefäßverschlüssen, akuter und chronischer Organinsuffizienz sowie zur hämolytischen Anämie.
  • Bei homozygotem HbS sind typische vasookklusive Episoden bereits seit der Kindheit zu beobachten.
  • Infektionen können zu Knochenmarksuppression und aplastischen Krisen führen.
  • Heterozygote sind symptomfrei und haben eine normale Lebenserwartung, aber möglicherweise ein erhöhtes Risiko für Gefäßverschlüsse bei Dehydrierung oder Aufenthalt in extremen Höhen.1

Häufigkeit

  • Endemisch ist die Sichelzellerkrankung in den tropischen Teilen Afrikas, im Mittleren Osten, in weiten Teilen Indiens, in der Osttürkei und geografisch begrenzt in Griechenland und Süditalien. Durch die Einwanderung von Menschen aus den Endemiegebieten nach Mitteleuropa kommen die meisten im deutschsprachigen Raum lebenden Patient*innen aus Afrika und aus der Türkei.
    • Im Äquatorgürtel von Afrika beträgt die Prävalenz der Heterozygotie 10–30 %.
  • Auch in Griechenland, Italien, der Türkei, dem Nahen Osten und zentralen Teilen von Indien ist die Prävalenz der Heterozygotie erhöht, aber homozygote Individuen sind dort selten.
  • 8 % der US-Amerikaner*innen mit afrikanischen Vorfahren tragen das Gen für HbS.
    • 1 von 400 US-amerikanischen Kindern mit afrikanischen Vorfahren haben eine homozygote Sichelzellenanämie.
    • 1 von 300 auf Jamaika geborenen Kindern sind homozygote HbS-Träger*innen.1

Ätiologie und Pathogenese

  • Evolution2
    • Im evolutionären Kontext hängt die Entwicklung von Sichelzellenanämie damit zusammen, dass der heterozygote Trägerzustand einen erheblichen Schutz gegen Malaria bietet.
    • Dies kann die geografische Verteilung der Erkrankung erklären.
  • Hämoglobine1,3
    • Bei gesunden Erwachsenen macht HbA1 (alpha2beta2) ca. 98 % des gesamten Hämoglobins aus, HbA2 (alpha2delta2) 1–2 % und HbF (fetales Hämoglobin, alpha2gamma2) weniger als 1 %.
    • HbA1 wird aus einem Tetramer mit zwei Alpha-Globin-Ketten und zwei Beta-Globin-Ketten (alpha2beta2) gebildet.
    • Es gibt zwei Ketten, die Alpha-Globin kodieren, beide sind auf dem Chromosom 16 lokalisiert. Insgesamt hat jeder Mensch also 4 Alpha-Globin-Gene.
    • Das Gen für Beta-Globin ist auf dem Chromosom 11 lokalisiert, in der Nähe der Gene für Delta-Globin und Gamma-Globin.
  • Mutation1-3
    • Die Sichelzellenbildung wird durch eine Punktmutation (S) verursacht, bei der eine einzige Basenänderung in der DNS zur Substitution der Aminosäure Glutamin durch Valin in der Position 6 der Beta-Globinkette führt.
    • Das anomale Beta-Globin wird betas genannt.
  • Hetero- und homozygote Individuen1-3
    • Heterozygote Individuen (Genotyp HbAS) bilden sowohl normales Beta-Globin als auch betas und sind asymptomatische Träger*innen.
      • Eine Variante der Sichelzellkrankheit stellt der Genotyp S/C dar. Dabei vererbt ein Elternteil das Sichelzell-Gen, das andere Elternteil HbC, das ist ebenfalls ein aberrantes Hb-Gen. Die Betroffenen haben meist sehr hohe Hb-Werte und ein hohes Risiko für ischämische Komplikationen, u. a. eine proliferative Retinopathie und Innenohrschädigungen mit Hörverlust.
    • Homozygote Individuen (Genotyp S/S) sind nicht in der Lage, normales Beta-Globin herzustellen, und ihr gesamtes HbA wird von dem Tetramer alpha2betas2 (HbS) ersetzt.
  • Sichelzellbildung1-4
    • In der Desoxyform bildet HbS Polymere, die die Zellmembran der Erythrozyten schädigen (Sichelbildung).
    • Neben HbS sind auch Erythrozyten, Thrombozyten, Leukozyten, Endothelzellen und Plasmafaktoren an der Polymerisation beteiligt.
    • Anfänglich ist der Schaden reversibel, aber bei wiederholter Sichelzellbildung wird die Zelle dauerhaft beschädigt.
    • Dies führt dazu, dass sich bei homozygoten Individuen die durchschnittliche Lebensdauer der Erythrozyten von ca. 120 Tagen auf 10–12 Tage reduziert.
  • Die Ausprägung der Sichelzellbildung ist von mehreren Faktoren abhängig.1-3
    • Die Konzentration von HbS in der Zelle hat die größte Bedeutung.
    • Reduziertes intrazelluläres Volumen, z. B. bei Dehydrierung, verursacht erhöhte HbS-Konzentration und erhöhten Schaden.
    • Die Menge von anderen Arten von Hämoglobin hat ebenfalls Bedeutung. HbF verhindert Polymerbildung und reduziert dadurch Membranschäden.
    • Die Tendenz zur Polymerisation und damit der Sichelzellbildung wird durch Sauerstoffmangel ausgelöst und durch Azidose, langsamen Blutfluss und hohe Temperatur verstärkt.
  • Chronische Anämie1-3
    • Stimuliert die Hämatopoese im Knochenmark.
    • Unter normalen Umständen kompensiert das Knochenmark eine Anämie, aber die Reservekapazität ist begrenzt.
    • Faktoren, die die Hämatopoese hemmen, z. B. Infektionen (besonders virale) und Folsäuremangel, können daher lebensbedrohliche aplastische Krisen auslösen.
  • Schwere hämolytische Krisen können auch entstehen, wenn die Milz Sichelzellen zerstört.4
  • Gefäßverschluss4
    • Konglomerate von Sichelzellen können auch Gefäßverschlüsse in der Mikrozirkulation verschiedener Organe verursachen, am häufigsten in den Beinen und dem Thorax.
    • Das Schlaganfallrisiko ist erhöht.
  • So treten das Hand-Fuß-Syndrom, die Infektionsneigung und die akute Milzsequestration vornehmlich bei Kleinkindern, die vasookklusiven Schmerzkrisen der langen Extremitätenknochen und des Stammskeletts etwa ab dem Schulalter, Ulcera crurum ab dem Jugendalter und die zunehmende Einschränkung der Nierenfunktion im Erwachsenenalter auf.1
  • Akutes Thorax-Syndrom
    • Eine besonders schwere Komplikation der Sichelzellenkrisen ist das sog. akute Thorax-Syndrom.
    • Dies ist eine Kombination aus Pneumonie, vertebralen Infarkten, Fettembolien, mikro- und makrovaskulären Lungenembolien.
    • Die Erkrankung entwickelt sich akut und kann zum akuten ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome) progredieren.
    • Etwa die Hälfte der von Sichelzellenanämie Betroffenen entwickeln mindestens einmal ein akutes Thorax-Syndrom.1

Disponierende Faktoren

  • Sichelzellenanämie ist eine autosomal rezessive Erkrankung.

ICPC-2

  • B78 Vererbliche hämolytische Anämie

ICD-10

  • D57 Sichelzellenkrankheiten5
    • D57.0 Sichelzellenanämie mit Krisen
    • D57.1 Sichelzellenanämie ohne Krisen
    • D57.2 Doppelt heterozygote Sichelzellenkrankheit
    • D57.3 Sichelzellen-Erbanlage
    • D57.8 Sonstige Sichelzellenkrankheiten

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die endgültige Diagnose wird mithilfe von genetischen Analysen oder Hämoglobin-Elektrophorese gestellt.

Neugeborenenscreening1,6

  • Der Gemeinsame Bundesausschuss hat am 20. November 2020 die Einführung des Bluttests auf Sichelzellkrankheit in den Regelkatalog der Neugeborenen-Früherkennungsuntersuchungen aufgenommen. Die Ratifizierung durch das Bundesministerium für Gesundheit und das Inkrafttreten der einschlägigen Richtlinie wird in Kürze erwartet (Stand Ende Februar 2021).7
  • Die Testung kann aus der ersten Trockenblutkarte (36.–72. Lebensstunde) erfolgen. Es ist daher keine weitere Blutentnahme erforderlich.
  • Bei positivem Befund: Überweisung zur Kinderhämatologie (siehe auch Abschnitt Indikationen zur Überweisung)

Pränataldiagnostik1

  • Bei familiärem Risiko kann die Beta-Globin‐Genotypisierung durch eine Mutationsanalyse von Chorionzottengewebe oder Amniozyten erfolgen.
  • Dies erfordert eine Beratung nach dem Gendiagnostikgesetz, vor der Testung und nach Vorliegen des Ergebnisses.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Auf die folgenden klinischen Besonderheiten ist zu achten.1-3
  • Die ersten Krankheitszeichen treten in der Regel im Lauf des ersten Lebensjahres auf, wenn die HbF-Konzentration sinkt (Wechsel von Gamma-Globin- zu Beta-Globin-Produktion).
  • Häufige Symptome
  • Lebensbedrohliche aplastische oder hämolytische Krisen können u. a. in Verbindung mit Infektionen und Folsäuremangel entstehen.
  • Wachstumsretardierung, Verzögerung der Geschlechtsreife und Untergewicht bei Kinder und Jugendlichen
  • Akute Gefäßverschlüsse können schmerzhafte Episoden und leichtes Fieber verursachen.
    • Auslösende Faktoren sind u. a. Infektionen, Dehydrierung und Hypoxie.
    • Am häufigsten sind die Knochen, besonders die Wirbelsäule, der Thorax und die langen Röhrenknochen betroffen.
    • weitere Lokalisationen
    • Die Dauer der Krisen reicht von einigen Stunden bis zu einigen Tagen.
  • Ischämische Komplikationen
    • Nach wiederholten vasookklusiven Episoden können ischämische Komplikationen entstehen.
    • oft schwere ischämische Schäden an Herz, Gehirn, Leber und Milz
    • Ischämische Nekrose der Knochen (avaskuläre Nekrose), was wiederum ein Risikofaktor für Osteomyelitis ist.
      • Daktylitis oder „Hand-Foot-Syndrome“": schmerzhafte Schwellungen an Händen und Füßen
      • Daktylitis kann ein frühes Symptom eines Gefäßverschlusses sein.
    • Ischämische Schäden der Nieren verursachen Urindilution und Makro-Hämaturie, schließlich chronische Niereninsuffizienz.
      • Chronische Niereninsuffizienz verursacht selbst Anämie (reduzierte Erythropoetinproduktion).
    • Retinopathie
  • Akutes Thorax-Syndrom
    • Notfall!
    • initiales Fieber, Husten, Dyspnoe, Pleuraschmerz
    • Der Röntgenthorax zeigt Zeichen von Konsolidierung und Infiltraten.
    • Das Ansprechen auf Antibiotika ist in der Regel schlecht.
    • In schweren Fällen ist eine fallende Sauerstoffsättigung zu sehen, und eine Austauschtransfusion kann die einzige wirksame Behandlung sein.
  • Bei Sichelzellenanämie besteht ein erhöhtes Risiko für Infektionen, u. a. aufgrund von Störungen im Komplementsystem und funktioneller Asplenie.
    • Impfstatus kontrollieren!

Klinische Untersuchung

  • Auf die folgenden klinischen Besonderheiten ist zu achten.1-3
  • Eine chronische hämolytische Anämie verursacht zusätzlich zu den gewöhnlichen Symptomen von Anämie (Blässe, Müdigkeit, geringe Ausdauer, Tachykardie, Gewichtsverlust etc.), Ikterus, Gallensteine (Pigmentsteine aus Kalzium-Bilirubinat) und Hepatomegalie.
  • Schlechte Wundheilung
    • Ist ein klassisches Problem, das in ca. 75 % der Fälle auftritt.
    • Besonders häufig sind chronische Beingeschwüre, die zum ersten Mal im Teenageralter auftreten.
  • Jugendliche mit Sichelzellenanämie haben häufig eine verzögerte Geschlechtsreife und ein vermindertes Wachstum (in jedem Lebensalter Größe und Gewicht bestimmen).

Ergänzende Untersuchungen

  • Folgende Untersuchungen kommen, in der Regel nach Überweisung (Hämatologie), infrage:1-3
  • Relevante Laboruntersuchungen
  • Abklärung einer Hämoglobinopathie (Elektrophorese, DNA-Analyse)
  • Typische Befunde bei Genotyp S/S
    • Hb ist 6–9 g/dl (3,7–5,6 mmol/l).
    • Hämatokrit ist in der Regel 20–30 %.
    • MCV ist normal.
    • Der Blutausstrich zeigt reichlich Sichelzellen (5–50 % der Erythrozyten), Retikulozytose, kernhaltige Erythrozyten, Howell-Jolly-Körperchen (Anzeichen von Hyposplenismus) und Targetzellen.
    • Häufig sind leichte Leukozytose und evtl. Thrombozytose sichtbar.
  • Es gibt einfache Screeningtests auf Sichelzellenanämie. Die Diagnose kann anschließend durch Hämoglobin-Elektrophorese bestätigt werden.
    • Bei homozygoter Sichelzellenanämie macht HbS 86–98 % des Hämoglobins aus und HbF 5–15 %. HbA fehlt.
    • Heterozygote Personen haben HbS ca. 35–45 %, HbA ca. 60 % und HbF < 1 %.
  • Weitere relevante Untersuchungen sind arterielle Blutgasanalyse, Leberwerte (GOTGPTGamma-GTAP, Bilirubin), Elektrolyte (Na, K, und ggf. Ca), Nierenfunktionswerte, Urin-Stix und -Mikroskopie, ggf. Sammelurin mit Eiweißausscheidung.
  • Röntgenthorax ist indiziert bei Verdacht auf ein akutes Thorax-Syndrom.
  • Sonografie von Abdomen und Retroperitoneum: Beurteilung von Leber, Gallenblase, Milz und Nieren1

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Die folgenden Spezialuntersuchungen kommen infrage.1-3
  • Eine pränatale Diagnostik ist verfügbar. Die direkte Analyse der fetalen DNS zeigt die relevante Mutation mit großer Sicherheit.
  • Transkranielle Dopplersonografie
    • Ist beim Aufspüren von Kindern mit zerebraler Perfusionsminderung und einem hohen Schlaganfallrisiko nützlich. Diese profitieren von regelmäßigen prophylaktischen Transfusionen.
    • jährliches Screening bis zum 18. Lebensjahr (siehe Abschnitt Verlaufskontrolle)
  • Ggf. MRT der parenchymatösen Bauchorgane1
  • Bei Sauerstoffsättigung unter 95 %: Lungenfunktionstests

Indikationen zur Überweisung

  • In folgenden Situationen ist eine Überweisung ratsam.1-3
  • Bei Verdacht auf homozygote Erkrankung sollen die Betroffenen zur Hämatologie überwiesen werden.
  • Überweisung an eine genetische Beratungsstelle ist relevant für Eltern,
    • die aus Gebieten mit hoher Prävalenz kommen.
    • bei denen einer oder beide Sichelzellenanämie haben.
    • die bereits Kinder mit Sichelzellenanämie geboren haben.
  • Bei positiver Testung im Neugeborenenscreening Überweisung zur Kinderhämatologie
    • zur Diagnosesicherung bis zum 28. Lebenstag
    • 28.–90. Lebenstag: Einleitung der notwendigen Präventivmaßnahmen
      • orale Penicillinprophylaxe
      • Impfungen (inkl. Pneumokokken und HIB)
      • Elternschulung
      • Notfallausweis

Therapie

Therapieziele

  • Bessere Überlebenschancen für Menschen mit schwerer (homozygoter) Sichelzellenanämie und Vermeidung schwerer Komplikationen

Allgemeines zur Therapie

  • Allogene Knochenmarkstransplantation ist die einzige kurative Behandlung.
  • Ansonsten besteht die Hauptbehandlung aus Folsäuresubstitution und Bluttransfusionen, um aplastische oder ischämische Krisen zu verhindern.
  • Bei schmerzhaften vasookklusiven Krisen müssen die auslösenden Faktoren gefunden werden und eine evtl. auslösende Infektion behandelt werden.
    • Gute Schmerzbehandlung, reichliche Hydrierung und evtl. Sauerstoff sind wichtig.
    • Bei schweren vasookklusiven Episoden ist eine Austauschtransfusion eine Option.
  • Hydroxycarbamid ist häufig eine sinnvolle Ergänzung.

Empfehlungen für Patient*innen

  • Patient*innen, die häufig Bluttransfusionen erhalten, sollen die Einnahme von eisenhaltigen Nahrungsmitteln einschränken.

Therapieoptionen

Medikamentöse Therapie1,6

  • Siehe dazu auch Kapitel 10 der AWMF-Leitlinie Sichelzellkrankheit.1
  • Hydroxycarbamid (Hydroxyurea)
    • Stimuliert die Erythropoese in den primitiven Vorläuferzellen und erhöht die Menge an HbF. HbF hemmt die HbS-Polymerbildung.
    • Die Häufigkeit von schmerzhaften vasookklusiven Episoden wird unter der Behandlung signifikant reduziert.8
    • Alle von einer Sichelzellkrankheit Betroffenen, die jemals schmerzhafte vasookklusive Krisen (auch leichte) oder ein akutes Thorax-Syndrom hatten, sollten mit Hydroxycarbamid behandelt werden.
    • Unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung sollte Hydroxycarbamid ab dem Alter von 9 Monaten angeboten werden.
    • Hydroxycarbamid ist in Europa für eine Behandlung von Menschen mit rekurrierenden (auch leichten) Schmerzkrisen ab dem vollendeten 2. Lebensjahr zugelassen.
    • Die Dosierung beträgt 500–700 mg/d bei Erwachsenen.
  • Penicillinprophylaxe9
    • kontinuierliche Penicillinbehandlung zur Vorbeugung einer Pneumokokken-Infektion bei Kindern mit homozygoter Sichelzellenanämie
    • wirksam und in der Regel gut verträglich (Ia)
      • Reduziert bei Kindern unter 5 Jahren das Risiko für invasive Pneumokokken-Infektionen und damit verbundene Todesfälle.
    • Dosierungen
      • Alter < 3 Jahre: 2 x 200.000 IU entsprechend 2 x 125 mg pro Tag
      • Alter 3–5 Jahre: 2 x 400.000 IU entsprechend 2 x 250 mg pro Tag
    • Die Weiterführung über das 5. Lebensjahr hinaus wird diskutiert. Zumindest bei Erkrankten mit einer invasiven Pneumokokken-Infektion in der Vorgeschichte und nach chirurgischer Splenektomie sollte sie erfolgen.
  • Bei Diabetes Metformin bevorzugt einsetzen?
    • Bei Menschen mit Sichelzellkrankheit und Diabetes hat sich gezeigt, dass Metformin mit einer deutlichen Reduktion von sichelzellkrankheitsbezogenen Symptomen und Krankenhauseinweisungen assoziiert ist.10

Transfusionstherapie1

  • Tranfusionen verbessern die Sauerstofftransportkapazität des Blutes und so die Gewebeoxygenierung.
  • Transfusionen sind zur Behandlung bestimmter Akutkomplikationen erforderlich, können aber auch Teil eines langfristig ausgelegten Dauertherapiekonzepts sein. Allerdings sind nur wenige Indikationen durch gute Studiendaten belegt.
  • Bluttransfusionen können je nach Indikation als Einfachtransfusionen (cave: Hb nicht zu stark anheben wegen der Gefahr eines Hyperviskositätssyndromes!) oder als Austauschtransfusionen durchgeführt werden.
  • Notfallindikationen für eine Einfachtransfusion sind u. a. die aplastische Krise, die akute Milz- oder Lebersequestration, ein beginnendes ATS und die akute symptomatische Anämie. Notfallindikationen für eine Austauschtransfusion sind ein Schlaganfall, ein fulminantes ATS und Organversagen sowie Sepsis. Vor Operationen sollten Transfusionen elektiv durchgeführt werden. Weitere elektive Indikationen für Bluttransfusionen sind die primäre und sekundäre Schlaganfallprophylaxe sowie Schwangerschaftskomplikationen. Diskutiert wird die Indikation für häufige ATS trotz Hydroxycarbamidtherapie.
  • Nicht indiziert ist eine Transfusion zur Primärbehandlung bei Schmerzkrisen und kontraindiziert eine Anhebung des Hb-Wertes über 11 g/dl (6,8 mmol/l) bei Patient*innen mit HbS-Anteil > 30 %.

Stammzelltransplantation1,11-12

  • Die allogene Stammzellentransplantation ist die derzeit einzige kurative Therapiestrategie bei Sichelzellerkrankung.
  • Die Diagnose Sichelzellkrankheit ist unabhängig von der klinischen Ausprägung eine Indikation zur Durchführung einer hämatopoetischen Stammzelltransplantation.
    • Registerstudien weisen darauf hin, dass die Transplantation von Knochenmark HLA-identer Geschwister den Betroffenen sehr hohe Langzeitüberlebenschancen ermöglicht.
    • Standardbehandlung bei vorhandenen HLA-identen Geschwister
    • Wenn keine Spende von HLA-identen Geschwistern verfügbar ist, ist die Transplantation von einem 10/10 HLA-identen Fremdspender zur erwägen.
    • Die Behandlung ist ressourcenintensiv und in den am stärksten betroffenen Gebieten der südlichen Hemisphäre kaum verfügbar.

Weitere Behandlungsoptionen1

  • Impfungen
    • Gegen Pneumokokken, Meningokokken und Haemophilus influenzae B wird für alle von Sichelzellenkrankheit Betroffenen empfohlen.9
  • Splenektomie
    • nach akuter Milzsequestration und bei Hypersplenismus
  • Gentherapie
    • Ist eine theoretische Möglichkeit, aber es ist weitere Forschung nötig, bevor eine solche Behandlung angewendet werden kann (Ia).13
    • Mit der Zulassung einer ersten Gentherapie ist in den nächsten Jahren zu rechnen (Stand Februar 2021).
  • Folsäuresubstitution?
    • Wegen der deutlich erhöhter Erythropoese besteht ein erhöhter Folsäurebedarf.
    • Eine Substitution ist aber nur bei Folsäuremangel erforderlich. Ansonsten genügt eine folsäurereiche Ernährung (ggf. Ernährungsberatung).

Malariaprophylaxe1

  • Malaria ist die häufigste auslösende Ursache für akute Komplikationen bei Sichelzellenanämie in malariaendemischen Ländern.
  • Menschen mit Sichelzellkrankheit sollten Reisen in tropische Gebiete nach Möglichkeit vermeiden. Eine Malariaprophylaxe ist ratsam.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Asymptomatisch bei Heterozygotie
  • Homozygote Sichelzellenanämie tritt als chronische hämolytische Anämie zum ersten Mal im Alter von 6 Monaten auf.
  • Die Mortalität ist am höchsten im Alter zwischen 6 und 12 Monaten.
  • Nach und nach entwickelt sich eine chronische Multisystemerkrankung mit multiplen Organsymptomen.
  • Die meisten Erkrankten sterben an Organversagen. Mit leitliniengerechter Behandlung liegt die Lebenserwartung bei 40–50 Jahren.

Komplikationen

  • Wiederholte vasookklusive Episoden verursachen langfristig ischämische Schäden in zahlreichen Organen, besonders Schlaganfälle.
    • Ischämisch bedingte akute Schmerzen in verschiedenen Organen sind die häufigste Ursache für Krankenhauseinweisungen.
  • Akutes Thorax-Syndrom (ATS)
    • Gehört zu den schwerwiegendsten Komplikationen, mit hoher Morbidität und Mortalität.
    • Verursacht 25 % aller Todesfälle bei Sichelzellenanämie und ist die zweithäufigste Ursache für Krankenhauseinweisungen.
  • Häufige Todesursachen sind Pneumokokken-Sepsis, akute Milzsequestration, aplastische Krise (bei einer Infektion mit Parvovirus B19) und akutes Thorax-Syndrom.
  • Ab dem Alter von 30 Jahren entwickeln viele Erkrankte schwere Lungenfibrosen oder glomeruläre Läsionen mit Nierenversagen.

Prognose

  • Heterozygote
    • Haben die gleiche Lebenserwartung wie die übrige Bevölkerung.
  • Homozygote
    • bei Unbehandelten hohe Mortalität und niedrige Lebenserwartung
    • Ein hohes HbF-Niveau ist mit einer besseren Prognose assoziiert.
    • erhöhtes Risiko für bakterielle und virale Infektionen

Verlaufskontrolle

Indikation und Frequenz1

  • Heterozygote Personen benötigen keine feste Verlaufskontrolle, evtl. genetische Beratung im Zusammenhang mit Schwangerschaft.
  • Bei Sichelzellenanämie benötigt die betroffene Person regelmäßige Therapien und Verlaufskontrollen im Hinblick auf Komplikationen.
    • Bei leichten oder moderaten Beschwerden wird eine Verlaufskontrolle alle 3–4 Monate empfohlen, häufiger bei schwerer Erkrankung.

Relevante Untersuchungen1

  • Regelmäßige Sonografieuntersuchungen des Abdomens und Retroperitoneums
  • Jährliche transkranielle Dopplersonografien bei allen Betroffenen bis zum 18. Lebensjahr, unabhängig vom Genotyp1
    • Ermittlung der maximalen Flussgeschwindigkeit in den Hirnbasisarterien
    • bei pathologischem Dopplerbefund: kranielle MRT mit MR-Angiografie
  • Bei regelmäßigen Transfusionen (cave: Eisenüberladung!)
    • Labor
    • nichtinvasive Quantifizierung der Eisenbeladung im MRT1
    • Leberbiopsie nur in gut begründeten Fällen. Bei akuten hepatischen Komplikationen (z. B. intrahepatische Cholestase, Lebersequestrationskrise) ist sie kontraindiziert, besonders wegen des hohen Blutungsrisikos.1
  • Vor und unter Hydroxycarbamid
    • Hb-Analyse (HbS, HbF) jährlich
  • Beurteilung von Osteonekrosen und Knocheninfarkten im Verlauf1
    • ggf. Ganzkörper-MRT zur umfassenden Beurteilung
    • zur Beurteilung von Spätveränderungen: Röntgen in zwei Ebenen
  • Jährliche augenärztliche Untersuchungen (proliferative Retinopathie?)
    • bei allen Betroffenen ab dem 10. Lebensjahr
    • bei Genotyp SCD-S/C ab dem 6. Lebensjahr
  • EKG und Echokardiografie
    • zweijährlich ab dem 10. Lebensjahr
  • Tanner-Pubertätsstadium
    • ab dem 14. Lebensjahr jährlich bis zum Ende der Pubertät
  • Vitamin-D-Status, sekundärer Hyperparathyreoidismus?
  • Neuropsychologische Testung (kognitive Entwicklung?)
    • im Alter von 6, 11, 16 Jahren

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Über die Krankheit und die Behandlungsmethoden
    • Die betroffene Person sollte die typischen Anzeichen einer Infektion, einer stärker werdenden Anämie, des akuten Thorax-Syndroms und von vasookklusiven Episoden kennen.
    • Die Betroffenen sollten wissen, dass Dehydrierung, Infektionen, physischer und psychischer Stress akute Verschlechterungen auslösen können.
  • Genetische Beratung für Eltern, die Kinder mit Sichelzellenanämie haben oder die Fälle in der näheren Verwandtschaft haben.
    • Wenn beide Eltern heterozygote Träger sind, beträgt das Risiko, dass das Kind Sichelzellenanämie haben wird, 25 %.
    • Die Eltern werden über die Möglichkeit einer pränatalen Diagnostik und über das Neugeborenenscreening informiert.

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Sichelzellkrankheit. AWMF-Leitlinie Nr. 025-016. S2k, Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

  1. Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Sichelzellkrankheit. AWMF-Leitlinie Nr. 025-016, Stand 2020 www.awmf.org
  2. Goheen MM, Campino S, Cerami C. The role of the red blood cell in host defence against falciparum malaria: an expanding repertoire of evolutionary alterations. Br J Haematol 2017; 179(4): 543-56. PMID: 28832963 PubMed
  3. Lanzkron S. Sickle cell anaemia. BMJ Best Practice. Last reviewed: 1 Feb 2021. Last updated: 20 Mar 2020. bestpractice.bmj.com
  4. Connes P, Lamarre Y, Waltz X, et al. Haemolysis and abnormal haemorheology in sickle cell anaemia. Br J Haematol 2014; 165(4): 564–572. doi:10.1111/bjh.12786 DOI
  5. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2021. Stand 18.09.2020; letzter Zugriff 24.02.2021 www.dimdi.de
  6. Yawn BP, John-Sowah J. Management of sickle cell disease: recommendations from the 2014 expert panel report. Am Fam Physician 2015 Dce 15; 92(12): 1069-1076A. www.aafp.org
  7. Gemeinsamer Bundesausschuss. Beschluss. Kinder-Richtlinie: Screening auf Sichelzellkrankheit bei Neugeborenen. Beschlussdatum: 20.11.2020 www.g-ba.de
  8. Wang WC, Ware RE, Miller ST, et al. Hydroxycarbamide in very young children with sickle-cell anaemia: a multicentre, randomised, controlled trial (BABY HUG). Lancet 2011; 377: 1663-72. PubMed
  9. Hirst C, Owusu-Ofori S. Prophylactic antibiotics for preventing pneumococcal infection in children with sickle cell disease. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014, Issue 11. Art. No.: CD003427. DOI: 10.1002/14651858.CD003427.pub3. DOI
  10. Badawy SM, Payne AB. Association between clinical outcomes and metformin use in adults with sickle cell disease and diabetes mellitus. Blood Adv 2019; 3: 3297-306. pmid:31698459. www.ncbi.nlm.nih.gov
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Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Birgit Wengenmayer, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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