Anämie bei chronischer Erkrankung

Zusammenfassung

  • Definition:Hypochrom-mikrozytäre Anämie im Rahmen einer chronischen Erkrankung (Anaemia of Chronic Disease = ACD), die pathophysiologisch auf eine zytokinvermittelte Störung der Eisenverwertung zurückzuführen ist. Auftreten vor allem im Rahmen von Autoimmunerkrankungen, chronischen Infektionen, Malignomen und chronischer Nierenkrankheit.
  • Häufigkeit:Häufige Anämieform, insbesondere bei älteren Menschen.
  • Symptome:Die Anamnese wird meist durch die Symptome der Grunderkrankung geprägt. Evtl. anämiebedingte Leistungsschwäche.
  • Befunde:Klinische Befunde vor allem abhängig von der Grunderkrankung. Evtl. Blässe, Belastungsdyspnoe, Tachykardie als Ausdruck der Anämie.
  • Diagnostik:Diagnosestellung durch Kombination aus chronischer Grunderkrankung und typischen Laborbefunden (Blutbild, Parameter des Eisenstoffwechsels) nach Ausschluss einer anderen Anämieursache.
  • Therapie:Im Vordergrund steht die Behandlung der Grunderkrankung. Optionen sind vor allem intravenöse Eisensubstitution (orale Gabe unwirksam) und Gabe von ESA (Erythropoese stimulierende Agenzien). Transfusion von Erythrozytenkonzentraten nur selten erforderlich.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Hypochrom-mikrozytäre Anämie im Rahmen einer chronischen Erkrankung (Anaemia of Chronic Disease = ACD), die pathophysiologisch auf eine zytokinvermittelte Störung der Eisenverwertung zurückzuführen ist.1
  • ACD tritt vor allem auf im Rahmen von:2

Bedeutung für die hausärztliche Praxis

  • Eisenmangelanämie und ACD sind die häufigsten Formen einer mikrozytären Anämie.3
  • ACD ist vor allem bei älteren Patient*innen häufig und sollte differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden.1
    • Es gibt keine „physiologische Altersanämie“.4
  • Beschwerden überwiegend von der Grunderkrankung bestimmt, Anämie wird meist als Nebenbefund festgestellt.1
  • ACD ist nur selten sehr schwer ausgeprägt, deshalb sollten bei sehr niedrigen Hämoglobinwerten weitere Ursachen (Blutung, Eisenmangel, Hämolyse) ausgeschlossen werden.5

Häufigkeit

  • ACD ist die zweithäufigste Form einer Anämie.1
  • Häufigkeit steigt mit dem Alter an.1
  • Sie tritt aber auch bei jüngeren Erwachsenen sowie Kindern und Jugendlichen mit chronisch-entzündlichen oder malignen Erkrankungen auf.6-7
  • Häufigste Anämieform bei hospitalisierten Patient*innen1
  • Genaue epidemiologische Daten liegen allerdings nicht vor, Vorkommen in Abhängigkeit von der Häufigkeit der verschiedenen chronischen Erkrankungen.7

Ätiologie und Pathogenese

Ätiologie

Pathophysiologie

  • Bei ACD besteht eine funktionelle Störung des Eisenstoffwechsels mit eisendefizitärer Erythropoese trotz gefüllter Eisenspeicher.1
  • 3 Hauptmechanismen:1
    1. hepcidinvermittelte Hemmung der Eisenresorption aus dem Darm und verminderte Eisenfreisetzung aus den Makrophagen
    2. verminderte Lebensdauer der Erythrozyten im Blut
    3. supprimierte Erythropoese im Knochenmark.
  • Am wichtigsten dabei ist die Wirkung von Hepcidin, ein in der Leber gebildetes Peptidhormon und Schlüsselregulator der Eisenhomöostase.8-9
  • Chronische Entzündungsprozesse, aber auch eine chronische Niereninsuffizienz, steigern die Hepcidinproduktion in der Leber.4
    • Im Endstadium der Niereninsuffizienz kommt es neben dem Erythropoietinmangel auch zu einer Immunaktivierung.2
  • Die Steigerung der Hepcidinproduktion wird durch verschiedene Zytokine mediiert, insbesondere Interleukin 1 und 6 (IL-1, IL-6).10-11
  • Erhöhte Hepcidinspiegel hemmen Ferroportin, das für die Freisetzung von zellulär gebundenem Eisen sorgt.12

ICPC-2

  • B82 Anämie unspezifisch, andere

ICD-10

  • D63 Anämie bei chronischen, anderenorts klassifizierten Krankheiten
    • D63.0 Anämie bei Neubildungen
    • D63.8 bei sonstigen chronischen, anderenorts klassifizierten Krankheiten

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • ACD insgesamt diagnostisch nicht einfach abzugrenzen.9
  • Diagnostische Kriterien sind:
    • Vorliegen einer chronischen Grunderkrankung
    • Verdacht auf ACD bei Anämie in Kombination mit erhöhtem Ferritin, längerfristig erhöhtem CRP und fehlender anderer Ursache9,13
    • Erhärtung des Verdachts durch typische Konstellation von Parametern des Eisenstoffwechsels

Differenzialdiagnosen

  • Differenzialdiagnose hypochrom-mikrozytärer Anämien:1

Anamnese und klinische Untersuchung

  • Symptome und Befunde einer Anämie
    • Blässe
    • Leistungsminderung
    • Schwindel
    • Belastungsdyspnoe
    • Tachykardie
  • Bekannte chronische Erkrankung oder Hinweise für bisher noch nicht bekannte Erkrankung?

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Labordiagnostik und typische Befunde bei ACD

  • Kleines Blutbild
    • MCV und MCH erniedrigt
      • MCV aber praktisch nie < 70 fl1
    • Retikulozyten normal bis erniedrigt
  • Entzündungsparameter
  • Parameter des Eisenstoffwechsels
    • Ferritin i. S.
      • erhöht (bei Eisenmangel erniedrigt)
      • Ferritin ist ein Akutphase-Protein, erhöht bei entzündlichen und malignen Erkrankungen.
      • bei geriatrischen Patient*innen auch altersphysiologisch erhöht4
    • Transferrinsättigung
      • bei ACD normal (bei Eisenmangel oder Entzündung erniedrigt)
    • Löslicher Transferrin-Rezeptor (sTfR)
      • bei ACD normal (bei Eisenmangel erhöht)
      • Wird im Gegensatz zu Ferritin und Transferrinsättigung nicht durch Entzündung beeinflusst.
    • Ferritinindex (sTfR/log Ferritin)
      • erniedrigt bei ACD (bei Eisenmangel erhöht)
  • Zur allgemeinen Abklärung verschiedener Anämieformen siehe Artikel Anämie bei Erwachsenen.

Diagnostik bei Spezialist*innen

Labor

  • Hepcidin
    • erhöht bei ACD
    • quantitative Bestimmung möglich, aber nicht Bestandteil einer routinemäßigen Abklärung

Knochenmarkpunktion

  • Knochenmarkpunktion mit Eisenfärbung nur in Ausnahmefällen angemessen und notwendig1
  • Nachweis von ausreichend Speichereisen bei gleichzeitig eisendefizitärer Erythropoese1

Checkliste zur Überweisung

Anämie bei chronischer Erkrankung

  • Zweck der Überweisung
    • Bestätigende Diagnostik? Therapie?
  • Anamnese
    • Symptomatik: Leistungsminderung, Müdigkeit, Schwindel
    • Grunderkrankung?
  • Klinische Untersuchung
    • reduzierter Allgemeinzustand, Blässe, Tachykardie
    • Befunde einer chronischen Grunderkrankung?
  • Ergänzende Untersuchungen
    • Labor (Blutbild, Parameter des Eisenstoffwechsels)

Therapie

Therapieziele

  • Verbesserung/Vermeidung anämiebedingter Symptome
  • Verbesserung der Lebensqualität
  • Vermeidung anämiebedingter Komplikationen

Allgemeines zur Therapie

  • Bausteine der ACD-Behandlung können sein:1
    • Therapie der chronischen Grunderkrankung (wichtigster Teil der Behandlung)
    • i. v. Gabe von Eisen
      • orale Eisengabe bei ACD aufgrund hepcidinvermittelter Blockade der enteralen Eisenresorption nicht wirksam
    • Gabe von ESA (Erythropoese stimulierende Agenzien) wie z. B. Erythropoietin
    • ggf. bedarfsadaptierte Gabe von Erythrozytenkonzentraten

Medikamentöse Therapie

Eisen

  • Bei ACD kommt nur i. v. Verabreichung von Eisen in Betracht, eine orale Gabe ist nicht wirksam (erhöhtes Hepcidin blockiert die enterale Aufnahme).1
  • Sinnvoll vor allem bei gleichzeitig bestehendem Eisenmangel7
  • Durch intravenöse Gabe von (hohen Dosen) Eisen kann der funktionelle Eisenmangel (hepcidinvermittelte Blockade der Freisetzung von Speichereisen) evtl. durchbrochen werden.14
  • Option als ergänzende Gabe bei Patient*innen mit unzureichendem Ansprechen auf ESA (Erythropoese stimulierende Agenzien)12
  • Der Nutzen einer i. v. Eisengabe muss gegen potentielle Risiken wie anaphylaktische Reaktion (gering) und Eisenüberladung (sehr gering) abgewogen werden.14

ESA (Erythropoese stimulierende Agenzien)

  • Bei ACD verminderte Wirksamkeit von endogenem Erythropoietin und verminderte Spiegel, daher ESA-Gabe als therapeutische Option1,15
  • Unter ESA-Gabe erhöhter Eisenbedarf aufgrund der gesteigerten Erythropoese, daher bei Bedarf ergänzende Gabe von i. v. Eisen1
  • Kombinierte Gabe von ESA und Eisen erhöht die Ansprechrate.1,14
  • Wegen möglicher Nebenwirkungen Hb-Ziel von maximal 11–12 g/dl empfohlen1

Erythrozytenkonzentrate

  • Nur bei wenigen Patient*innen mit ACD liegt eine so schwere Anämie vor, dass eine Gabe von Erythrozytenkonzentraten notwendig ist.7
  • Gabe von Erythrozytenkonzentraten bei symptomatischen Patient*innen mit hochgradiger Anämie (Hk < 24–21 % respektive Hb-Wert < 7–8 g/dl (4,35–4,97 mmol/l)14

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

Verlauf und Prognose

  • Prognose im Wesentlichen von der Grunderkrankung abhängig13

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Anämiediagnostik im Kindesalter. AWMF-Nr. 025-027. S1, Stand 2018. www.awmf.org
  • Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Eisenmangelanämie. AWMF-Nr. 025-021. S1, Stand 2016. www.awmf.org

Literatur

  1. Metzgeroth G, Hastka J. Eisenmangelanämie und Anämie der chronischen Erkrankungen. Internist 2015; 56: 978-98. doi:10.1007/s00108-015-3711-2 DOI
  2. Weiss G, Goodnough L. Anemia of Chronic Disease. N Engl J Med 2005; 352: 1011-1023. doi:10.1056/NEJMra041809 DOI
  3. Baumann G, Enko D. Differenzialdiagnostische Überlegungen zur Abklärung von Anämien. Z Allg Med 2014; 90: 31-36. www.online-zfa.de
  4. Stiefelhagen P. Es gibt keine physiologische „Altersanämie“ - Der blasse Patient. MMW Fortschritte der Medizin 2018; 6: 46-47. doi:10.1007/s15006-018-0382-7 DOI
  5. Müller A, Krause S. Anämie - Diagnostische Schritte für die Hausarztpraxis. doctors today - Praxisimpuls für Hausärzt*innen. Zugriff 22.03.21 www.doctors.today
  6. Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Anämiediagnostik im Kindesalter. AWMF-Nr. 025-027, Stand 2018. www.awmf.org
  7. Kunz J. Anämie bei chronischen Erkrankungen. 2013 Kompetenznetz Pädiatrische Onkologie und Hämatologie www.kinderblutkrankheiten.de
  8. Roy CN. Anemia of inflammation. Hematology Am Soc Hematol Educ Program 2010;2010:276-280. PubMed
  9. Röhrig G, Rappl G, Vahldick G, et al. Serumhepcidin bei Eisenmangelanämie und Anämie chronischer Erkrankungen im geriatrischen Kollektiv. Z Gerontol Geriat 2014; 47: 51-56. doi:10.1007/s00391-013-0508-6 DOI
  10. Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Eisenmangelanämie. AWMF-Nr. 025-021, Stand 2016. www.awmf.org
  11. Nielsen P. Das ist für Sie als Hausarzt wichtig: Hepcidin – das Schlüsselenzym im Eisenhaushalt. MMW Fortschritte der Medizin 2018; 13: 20-21. doi:10.1007/s15006-018-0747-y DOI
  12. Madu A, Ughasoro M. Anaemia of Chronic Disease: An In-Depth Review. Med Princ Pract 2017; 26: 1-9. doi:10.1159/000452104 DOI
  13. Rosegger P, Schleiffenbaum B. Anämie im Alter. Praxis 2016; 105: 1239-1246. doi:10.1024/1661-8157/a002533 DOI
  14. Aapro M, von Haehling S, Jelkmann W, eta l. Anämie- und Blutmanagement: Neubewertung in verschiedenen Indikationen. Dtsch Arztebl 2017; 114: 29-32. doi:10.3238/PersOnko/2017.12.01.07 DOI
  15. Palmer SC, Saglimbene V, Mavridis D, Salanti G, Craig JC, Tonelli M, Wiebe N, Strippoli GFM. Erythropoiesis-stimulating agents for anaemia in adults with chronic kidney disease: a network meta-analysis. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014, Issue 12. Art. No.: CD010590. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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